
Krieg der realen gegen die fiziellen Menschen
In einer nicht näher bestimmten aber nicht besonders fernen Zukunft wurde die Erde durch einen dritten Weltkrieg verwüstet. Schon zuvor hatte ein heftiger Kampf um Ressourcen und Nahrungsmittel getobt. Nachdem Europa von Hungersnöten und Seuchen verheert wurde, hatten die Menschen verzweifelt erst Hilfe gesucht und dann gewaltsam eingefordert. England nutzte seine Insellage und schottete sich ab; auf "Eindringlinge" wurde geschossen.
Um sich nicht selbst die Finger schmutzig bzw. blutig zu machen, entwickelte man die (Arti-) "Fiziellen", Androiden in Menschengestalt, die dank interner Nano-Technik quasi unzerstörbar und krankheitsimmun sind. Sie waren als Sklaven gebaut, doch die "Kontrolle" - die übergeordnete Kommunikationszentrale der "Fiziellen" - entwickelte unbemerkt ein Eigenleben. Gerade als der Weltkrieg ausbrach, war die Stunde des Aufstands gekommen. Geplant war die Ausrottung sämtlicher "Realmenschen", doch diese leisteten und leisten hartnäckiger Widerstand als gedacht.
Die "Fiziellen" mussten sich in diverse Städte und hinter schwere Barrikaden zurückziehen. Außerhalb halten die "Realen" trotz radioaktiver Strahlung, Hunger und atomarem Dauerwinter ihre Gegner in Schach. Zwischen den Barrikaden-Städten ist die Kommunikation schwierig, und die "Kontrolle" meldet sich nicht mehr. Fizielle Reisende sind auf die wenigen Blockadebrecher angewiesen, die sich mit gepanzerten Wagen in das feindliche Ödland wagen. Zu ihnen gehört im schottischen Edinburgh Kenstibec, ein ehemaliger Bauarbeiter-Androide, der die ebenfalls künstliche Journalistin Starvie nach London bringen soll.
Diese Fahrt steht unter einem Unstern, denn die "Realen" haben sich organisiert. Vor allem der irre "König von Birmingham" bläst zum Sturm auf die Barrikaden. Er verfügt über einen Kampfstoff, gegen den die "Fiziellen" machtlos sind. Kenstibec muss die Initiative ergreifen - und sich ausgerechnet mit einem "Realen" zusammentun ...
Künstlich verbessert aber nicht klüger
Wir lieben Roboter und künstliche Menschen: je menschlicher sie sich geben, desto intensiver ist dieses Gefühl - ein Widerspruch in sich, da grundsätzlich kein Anlass besteht, Maschinen möglichst naturecht zu gestalten. Sie haben einen Job zu erledigen, weshalb die Form der Aufgabe folgen sollte. Zudem gibt es mehr als genug echte Menschen. Allerdings ist es schwierig, beispielsweise für einen Toaster oder eine Müllpresse Gefühle zu entwickeln. Der androide Bauarbeiter Kenstibec wird daher ungeachtet der Bemühungen seines Schriftsteller-Schöpfers Jon Wallace, fizielle "Künstlichkeit" darzustellen, zu einer rein fiktiven, auf die gewünschten dramatischen Effekte zugeschnittenen Figur. Dies gilt auch für Starvie, die - natürlich - ihre Vergangenheit als Supersexy-Vergnügungsmodell nicht wirklich abschütteln kann, und für den "Terminator"-Nachbau Shersult.
Dem entspringt eine Schizophrenie, die Roboter oder Androiden vor das Problem stellt, selbst Gefühle entwickelt zu haben, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Das entspricht dem menschlichen Erwachsenwerden und geschieht im unterhaltungsförderlichen Zeitraffertempo. In diesem Zusammenhang darf Bedeutungsschwere nicht fehlen. Auch Kenstibec stellt sich deshalb die Frage, was der Sinn seiner Existenz in einer von Menschen ‚befreiten' Welt wäre, deren künstliche Bewohner keine von ihm errichteten Bauwerke benötigen. Auch Androiden-Soldaten wären überflüssig, da es keine Gegner mehr gäbe, gegen die sie antreten müssten.
Nur die lange ominös bleibende "Kontrolle" hat sich diesbezüglich Gedanken gemacht. Sogar der konstruktionsbedingt intellektuell recht schmalspurige Kenstibec erkennt jedoch, dass es sich dabei um eine allzu bekannte Mischung aus Größenwahn und Machtgier handelt, der jede Originalität fehlt: Die klassische Diktatur ist inhaltlich ideenschwach, was sie durch Gewalt und Äußerlichkeit vertuschen will. In diesem Punkt kann die "Kontrolle" den verachteten Menschen weder verbessern noch übertrumpfen.
Verschwörung über mindestens drei Ecken
Bis sich diese wenig sensationelle Erkenntnis offenbart, hat der Leser ein vor allem durch Action und Gewalteffekte dominiertes Routinegarn mit strukturellen Schwächen gelesen. "Barrikaden" bietet nie langweilige Lektüre. Um die vom Verlag behauptete und vom Verfasser (vorsichtshalber nur) angedeutete Hintergründigkeit ist es allerdings schlecht bestellt. Daran ändern die gewichtig-kapiteleinleitenden Rückblenden auf die Zeit vor dem großen Knall wenig. Vor dem geistigen Auge lassen die von Wallace gebotenen Szenen ohnehin die Erinnerungen an unzählige Filme und TV-Serien aufsteigen. "Terminator", "Mad Max", "Appleseed": Überall lassen sich "Inspirationsquellen" entdecken.
Liest man Barrikaden als reinen Unterhaltungsroman, fällt das Urteil freundlicher aus. Wallace kann schreiben und schematische aber interessante Figuren kreieren. Es hapert dagegen an einer stringenten Story. Zu lange schlagen sich Kenstibec, seine Passagierin Starvie und der "Reale" Fatty durch ein klischeeverheertes Post-Doomsday-England. Ihnen auf den Fersen sind zur Abwechslung keine Zombies, sondern in die Neo-Barbarei zurückgefallene Menschen, die sich betont realitätsfern aber effektvoll irrwitzig benehmen. Episode reiht sich an Episode, ohne einen für den Plot notwendigen Zusammenhang zu entwickeln.
Im letzten Viertel entwickelt Wallace hastig eine komplizierte Verschwörung. Er hat sie bereits früher anklingen lassen, verpasst ihr aber nun einen Twist, über den man lieber nicht ausgiebig nachdenken sollte. "Warum einfach, wenn es auch umständlich geht" gilt offensichtlich auch für Androiden. Selbstverständlich wirft ausgerechnet Kenstibec dem Schicksal einen Knüppel zwischen die Beine und sorgt für ein offenes Ende, das eine Fortsetzung ermöglicht, die nicht nur kommen, sondern sogar einen dritten Teil bekommen und eine Barrikaden-Trilogie bilden wird: Ökonomischer Erfindungsreichtum ist heutzutage nicht nur im Blockbuster-Kino Trumpf. Das funktioniert, wenn man leicht verdauliches Lesefutter sucht, ist aber nicht hilfreich, sollte die Lektüre unbedingt feierabendliches Einnicken verhindern.

Barrikaden
- Autor: Jon Wallace
- Verlag: Heyne
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Dystopien haben Konjunktur. Natürlich, werden Sie jetzt vielleicht sagen, man muss sich gedanklich ja vorbereiten, geht doch ganz offensichtlich alles den Bach runter. Nun, mag es mit unserer Welt werden, wie es wird, in Wallace' Werk ist die Zukunft jedenfalls schon vorbei. Zumindest für Großbritannien. Über den Rest der Welt erfährt man wenig, aber besser scheint es da keinesfalls zu sein. Und das Elend der postatomaren Katastrophe ist für herkömmliche Menschen wie unsereins, im Buch die Realen, ein ziemlich großes. Die Fiziellen (kurzform von Artifizielle, was sonst) dagegen haben es da deutlich besser: ihre nanotechnisch optimierten Körper repapieren so ziemlich jeden Schaden. Dafür haben sie keine nennenswerten Emotionen. Nur wäre der Mensch nicht Mensch, wenn er so einfach akzeptieren würde, dass er reif für den Abtritt von der Weltbühne ist. Im Gegenteil: selbst das elende Erbe einer verseuchten Welt mitten im nuklearen Winter will er seinen körperlich weit überlegenen Züchtungen nicht kampflos überlassen. Der Autor lässt den Leser in der Endphase dieses Kampfes Zeuge eines Roadmovies werden. Ein Roadmovie, dass einen optimierten Transportfahrer auf eine Mission mitten durchs Feindesland schickt und bei dem immer unklarer wird, wer auf dem Kriegsschauplatz einer nahezu völlig runierten Welt am Ende wem überlegen sein wird.
Die Geschichte ist spannend erzählt, ereignisreich und in genau dem richtigen Tempo für eine Reise ins Herz der Finsternis gestaltet. Gerade weil sie aus der Perspektive eines der Fiziellen erzählt wird, bricht sie mit dem üblichen "rechtschaffene Menschen gegen die pervertierte eigene Schöpfung"-Topos und eröffnet Raum für eigene kritische Fragen des Lesers. Möchte man anfangs vielleicht gar nicht, dass das Herz für den Protagonisten schlagen soll, gelingt die Perspektivenübernahme doch schnell, ohne dass es auch sofort zu einer positiven emotionalen Identifikation kommt. Aus diesem Spannungsfeld schöpft der Roman ein besonderes Potenzial, das ihn dank eines sehr gelungenen Hintergrunds, der alles bereithält, was die dystopiehungrige Leserschaft wünscht und eines unterhaltsamen Schreibstils positiv aus der Menge phantastischer Literatur heraushebt.