
Fremdartiges Grauen aus heißem Wüstensand
Das Schicksal hat es wirklich auf ihn abgesehen, denkt Robert Holt, ein zum Landstreicher herabgekommener Londoner Bürger, der in seiner Not in dunkler, kalter Nacht in ein einsam gelegenes Haus einsteigt. Leider steht dies nicht leer; ein unheimliches Wesen haust hier, das kaum Menschenähnlichkeit aufweist und sich womöglich in einen riesigen Skarabäuskäfer verwandeln kann.
Vor allem ist diese Kreatur abgrundtief böse. Sie hat es auf den jungen Politiker Paul Lessingham abgesehen, der ihr während seines Aufenthalts in Ägypten - über den er sich sorgfältig ausschweigt - nach eigener Auskunft großes Unrecht angetan hat. Bis nach London ist sie Lessingham gefolgt und plant nun sorgfältig dessen politischen Ruin, privaten Untergang und schließlich Tod. Der unglückliche Holt muss ihr als Werkzeug dienen. Mit unwiderstehlicher hypnotischer Kraft wird er gezwungen in Lessinghams Haus einzubrechen und einige persönliche Briefe zu stehen, die das Geschöpf über die bevorstehende Verlobung mit der schönen Marjorie Lindon informieren.
Auf die hat auch der Erfinder Sydney Atherton ein Auge geworfen. Von Marjorie abgewiesen erweist er sich als schlechter Verlierer, der den Nebenbuhler gern entehrt sähe. Dies nutzt das Wesen, gibt sich Atherton als Priesterin der altägyptischen Göttin Isis zu erkennen und fordert ihn zur Unterstützung auf. Als guter Brite mag sich Atherton nicht auf dieses Niveau herablassen. Stattdessen verbündet er sich mit Lessingham und zieht den befreundeten Detektiv August Champnell zu Rate. Die Kreatur erweitert ihre Rachepläne und nimmt das schwächste Glied in der Kette ihrer Feinde ins Visier: Marjorie, die ihr Wissen um die Abgründe dieser Welt in der Folgezeit unfreiwillig stark erweitern kann …
Ein Bestseller versunken im Staub der Literatur
Kaum zu glauben, aber dies ist der Bestseller des Jahres 1897, welcher eigentlich ";Dracula"; werden sollte. Doch Bram Stoker, dessen Namen im Gegensatz zu Richard Marsh heute jeder Fan des Phantastischen kennt, hatte das Nachsehen; der transsylvanische Fürst der Vampire musste sich einem tückischen Riesenkäfer geschlafen geben!
Wie das geschehen konnte ist heute schwer nachvollziehbar und zeigt, dass sich mit den Zeiten nicht nur die Moden, sondern auch die literarischen Geschmäcker wandeln. Erst 1930 schlug die Stunde von Dracula; das Böse wurde zum Faszinosum, während sich der ";Skarabäus"; als konventionelle Allerweltsstory Staub ansetzte und in Vergessenheit geriet. Dort hätte er auch weiterhin verharrt und nur den literaturhistorisch bewanderten Gruselfreund in Schrecken versetzt, wäre nicht der rührige Festa-Verlag auf den Gedanken gekommen den ";Skarabäus"; quasi aus seiner Gruft zu locken. Die Tatsache an sich muss man nachdrücklich begrüßen, denn sie ermöglicht das Wiederlesen eines Klassikers, von dem man sich auf diese Weise selbst ein Bild machen kann.
Das fällt freilich nur eingeschränkt zu Gunsten des Wiedergängers aus. In seinem ausführlichen und kundigen Nachwort - Hintergrundinformationen zu den veröffentlichten Titeln sind ein empfehlenswertes Markenzeichen des Hauses Festa - erläutert Alexander Amberg (der sich auch der deutschen Übersetzung von 1927 angenommen hat, die er behutsam überarbeitete und damit den liebenswert ";altmodischen"; Stil des Textes bewahrte) die Ursachen für den Erfolg dieses Buches, das drei Jahrzehnte auf den Bestsellerlisten vertreten war und bis in die 1960er Jahre immer wieder neu aufgelegt wurde.
Angst ist der Schlüssel für gelungenen Horror
";Der Skarabäus"; entpuppt sich (Der Kalauer muss sein) als sorgfältig geplanter und realisierter Blockbuster eines routinierten Unterhaltungsschriftstellers, der weniger Ruhm als möglichst gute Verkaufszahlen anstrebte. Richard Marsh war ein Handwerker, der wie am Fließband Romane und Kurzgeschichten für die populären Magazine seiner Zeit schrieb. Seine Produktion beschränkte sich 1897 längst nicht auf den ";Skarabäus";. Viel Zeit konnte er folglich nicht auf die Niederschrift verwenden. Also griff er auf Themen und Strömungen zurück, die gerade aktuell waren - und das macht sein Buch heute wieder interessant.
Am Ende jedes Jahrhunderts kommt eine ";fin-de-siècle";-Endzeitstimmung auf; wir haben es selbst vor wenigen Jahren erfahren, als der Kalender von 1999 auf 2000 sprang. Das Alte ändert sich, Neues steht bevor, die Ungewissheit ist groß. Auch in den Jahren vor und nach 1900 war dies nicht anders, als die Menschen zu erkennen begannen, dass sie die enormen technischen Erfindungen der Neuzeit, die Errungenschaften der Wissenschaft oder Segnungen der Industrie keineswegs in ein Paradies führen würden. Die überwundenen Gespenster der Vergangenheit - unheilbare Seuchen, Hexenjagden, Sklaverei - wurden durch neue Schrecken ersetzt, die nun u. a. Massenarbeitslosigkeit, Ausbeutung oder Überfremdung hießen. Nicht nur Richard Marsh ließ diese und andere Ängste in sein Werk einfließen; auch literarische Klassiker wie ";The Picture of Dorian Gray"; (dt. ";Das Bildnis des Dorian Gray";) von Oscar Wilde, ";The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde"; (dt. ";Dr. Jekyll & Mr. Hyde";) von Robert Louis Stevenson oder eben Bram Stokers ";Dracula"; bedienten sich ihrer.
Sex sells zusätzlich
Ebenfalls gemeinsam war diesen Klassikern ein starker sexueller Unterton. Im Zeitalter der prüden Königin Victoria galt der Sex zwar als schmutzige Pflicht, die im stillen Kämmerlein möglichst verschwiegen zu erledigen war, um neue Untertanen zu zeugen, doch wie zu allen Zeiten wurde besonders das interessant, was als verboten galt. Die zeitgenössischen Künstler entwickelten eine Meisterschaft daran, den Sex gleichsam verschlüsselt und zwischen den Zeilen in ihre Werke einzuschmuggeln; die Zeitgenossen wussten solche ";Stellen"; sehr wohl zu finden und zu deuten.
Übersetzter Amberg schildert, dass in der alten deutschen Übersetzung derartige Passagen sorgfältig getilgt bzw. entschärft wurden. In der 2006er Fassung lesen wir nun wieder, wie der eindeutig geile Isiskäfer die schöne Marjorie belästigt; an der ";entscheidenden"; Stelle bricht Marsh ab und überlässt es der Fantasie seiner Leser sich auszumalen, was die Schöne durch das Biest erleiden muss.
Als Kulisse für malerisch verderbte Orgienstimmung kann das ";unzivilisierte"; Ägypten der Jetztzeit dienen. Paul Lessingham erzählt vielleicht ein wenig zu ausführlich von seinen lasterhaften Streifzügen durch die Slums von Kairo. In der Fremde, d. h. außerhalb des strengen britischen Kastensystems, ohne Aufsicht und unter ";Wilden";, vor denen man sich nicht zurückhalten muss, darf auch ein britischer Herrenmensch über die Stränge schlagen.
Der Imperialist hat immer Recht
Marsh schlägt darüber hinaus zwei Fliegen mit einer Klappe: Während sich das moderne Ägypten als nur scheinbar selbstständige, tatsächlich aber britisch regierte Kolonie keines besonderen Rufes erfreute, galt dies ausdrücklich nicht für das ";andere";, das alte Ägypten der Pharaonen und Pyramiden. Die zahllosen, in Sand und Staub oft bemerkenswert gut erhaltenen Relikte einer sichtbar großen Vergangenheit faszinierten nicht nur Wissenschaftler. Altägypten wurde zur ";Mode";; in den Salons der britischen Oberschicht wurden Statuen, Keramiken, sogar Sarkophage als Ergänzung zum Mobiliar ein Muss; zum bizarren Zeitvertreib wurden ";mitgebrachte"; Mumien ausgewickelt. Im kalten Inselwinter reiste der fröstelnde oder lungenkranke Brite gern den Nil hinunter. Wer es sich leisten konnte, gab den ";Archäologen";, heuerte sich einen Wissenschaftler und viele einheimische Arbeitskräfte an und durchwühlte den Wüstensand auf der Suche nach Forscherruhm und Beute. Kein Wunder folglich, dass Isis & Osiris den angelsächsischen Lesern näher standen als ein obskurer Blut saugender Balkanfürst!
Zu den sicherlich unfreiwillig gelieferten Zeitzeugen gehört der zwar dezente aber doch deutliche Chauvinismus, den die handelnden Figuren an den Tag legen. Nicht nur im imperialistischen Großbritannien galt der ";Eingeborene"; aus den Kolonien als Mensch höchstens zweiter Klasse. Folglich gilt es als besonderes schreckliches Schicksal, dass der wackere Holt dem hypnotischen Bann seines Peinigers verfällt und nach der Pfeife des ";Fremden"; tanzen muss. Atherton oder Lessingham sind für uns heute eher unsympathische Zeitgenossen in ihren Standesdünkeln. Um die Hand der schönen Marjorie zu erhaschen, wäre Atherton jedes Mittel Recht - außer dem einen, sich mit dem widerwärtigen, minderwertigen, orientalischen Isiskäfer einzulassen. Das ist doppelt niederträchtig aber wie gesagt zeittypisch; nicht nur für England.
Männer der Tat, Frauen voller Tugend
";Der Skarabäus"; ist ein Roman aus einer Zeit, als Männer noch Helden waren und Frauen reizend & hilflos (oder reizend hilflos), so dass sie bis zur letzen Buchseite unbedingt geheiratet werden müssen. Allerdings wirft das neue Jahrhundert auch hier schon seine Schatten voraus: Zu den Ängsten des ";fin-de-siècle"; gehört auch die vor der mächtig heraufdämmernden weiblichen Gleichberechtigung. Der Geist der Frauenbewegung, deren Sympathie auch Marjorie Linden gehört, lässt sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr in die Flasche zurückzwingen.
Lessingham, Atherton und Champnell wirken als Helden ziemlich steif und unflexibel. Hier darf nicht unterschätzt werden, in welchem kontrollierten Umfeld sich Männer und Frauen - zumal wenn ";von Stand"; um 1900 bewegen mussten. Ein Abweichen von der Norm konnte sehr wohl das gesellschaftliche Aus bedeuten. Wichtig ist außerdem das offensive Demonstrierung von ";Männlichkeit";: Lessingham gewinnt Athertons Anerkennung, als er diesen in einem Wutanfall anspringt und tüchtig würgt; damit hat er unter Beweis gestellt, dass er ein ";Pfundskerl"; ist …
Auf solchen Aufstieg darf der, die oder das Böse in diesem Spiel nicht rechnen. Der Isiskäfer ist eindimensional böse, dabei feige und verschlagen. Wieso der ";Skarabäus"; im Gegensatz zu ";Dracula"; dem Zahn der Zeit anheim fiel, erklärt sich auch aus der Tatsache, dass der Vampirgraf Charisma besitzt. Er würde sich nie vor britischem Mut beugen oder sich mit faulen Taschentricks in Boxhorn jagen lassen. Wenn der Isiskäfer überhaupt interessant wirkt, dann liegt das an der Weigerung des Verfassers sein wahres Wesen zu ";erklären";. Was dieses Wesen eigentlich ist bleibt vage - so ist es sicherlich besser.
Ehrgeiz steht über Talent
Schriftstellerisch entwickelt Marsh einigen Ehrgeiz und versucht sich in der Technik des ";stream of consciousness";, wie er in der englischen und US-amerikanischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Mode war: Nicht der Autor schildert als allwissender Dritter das Geschehen, sondern ";überlasst"; dies den Protagonisten. ";Der Skarabäus"; gliedert sich in vier Bücher, welche die Handlung aus den Perspektiven von Robert Holt, Sydney Atherton, Marjorie Linden und August Champnell schildern, die natürlich immer nur Bruchstücke der Ereignisse kennen. Dem Leser bleibt die Aufgabe diese zusammenzusetzen und auf diese Weise ein Gesamtbild zu rekonstruieren. Freilich hat Marsh seine Schwierigkeit mit dieser Form und traut ihr offenbar auch nicht, denn er verzahnt die einzelnen Bücher viel enger als nötig und sorgt damit für viele Wiederholungen.
";The Beetle"; wurde 1919 nach einem Drehbuch von Helen Blizzard (sic!) unter der Regie von Alexander Butler verfilmt. In die Rolle des Isiskäfers - hier ";Neces"; geheißen - schlüpfte Fred Morgan (1878-1941).

Der Skarabäus
- Autor: Richard Marsh
- Verlag: -
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Richard Marsh, eigentlich Richard Bernard Heldmann, veröffentlichte im Jahr 1897 den Roman "The Beetle". 1897 - einigen Literaturfreunden wird das Datum etwas sagen - erblickte auch Bram Stokers "Dracula" das Licht der Buchwelt. Doch nicht etwa die Geschichte des berühmten Vampirs, sondern Marshs Roman wurde der Bestseller des Jahres. Heute könnte der Gegensatz der beiden Texte größer nicht sein, "The Beetle" geriet als "Schund" allenfalls als beiläufige Notiz in die Literaturhistorie, während Stokers Dracula wohl zum Inbegriff des Schauerromans am Fin de Siecle wurde und heute im kollektiven Bewusstsein fest verankert ist.
Marsh wurde und wird derzeit wiederentdeckt. Er ist zwar nicht völlig grundlos in Vergessenheit geraten, aber seine Vielfalt an Themen und sein nicht unexplitziter Schauer machen ihn zu einem lesenswerten Stoff. Der Roman gliedert sich in mehrere Erzählungen, deren Beginn der Bericht Robert Holts, eines Arbeitslosen, macht. Er steigt bei Nacht und Regen in ein, wie es ihm scheint, verlassenes Haus ein, des Unterschlupfes willen. Plötzlich merkt er, dass er nicht alleine ist. Holt will fliehen, doch das misslingt. Ein undefinierbares Zwitterwesen bezichtigt ihn des Einbruchs, vergeht sich sexuell an ihm und macht sich ihn mehr oder weniger hörig. Holt ist nicht einmal klar, ob das Wesen männlich oder weiblich ist.
Im Laufe der Geschichte wird deutlich, dass die Jahre zurückliegende Entweihung eines Isistempels Grund zur Rache war. Und der Rachefeldzug beginnt...
Der Roman enthält viel von dem, was das Fin de Siecle kulturhistorisch in England ausmachte. Die Degenerationsangst, die Dekonstruktion der Geschlechterrollen, die daraus hervorgegangene new woman, das verslummte London, die Folgen des Imperialismus, Pseudowissenschaften usw. Wer sich für diese dunkle Literatur interessiert, der wird im "Beetle" seine wahre Freude erleben.
Doch womöglich fühlen sich auch Freunde des gepflegten Schauerromans angesprochen - wie ist es also um die diesbezügliche Qualität bestellt? Der Auftakt ist furios, Robert Holts Narrativ zählt vielleicht zu dem Fesselndsten und Spannendsten, was in dieser Zeit geschrieben wurde. Anschließend nehmen leider die Dialoge überhand, was zu Lasten des Leseerlebnisses geht. Wer am Ende ratlos dasteht, der darf sich nicht wundern, denn das macht nun mal die Phantastik aus; die Inszenierung der Frage, ob man dem, was man erlebt hat, tatsächlich trauen kann.
Der Text kann verglichen werden mit Stevensons "Strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde" oder Stokers "Dracula". Diese Texte sind dem so genannten "urban gothic" zuzuordnen - der von der wildromantischen Schlossruine in die Großstadt verlegten Handlung.
Das Lesen lohnt sich!
Kleine Korrektur der bibliographischen Daten:
Die deutsche Erstausgabe erschien bereits 1900 bei dem Leipziger Verlag Müller-Mann in der Übersetzung von R. O. Mahlo und besticht durch ein wunderbares Frontispiz des bösartigen Käfers, hier mit einem dämonischen Menschenkopf versehen. Aus heutiger Sicht mag die Übersetzung als etwas hausbacken wirken, doch erhöht das durchaus den nostalgischen Charme. Angesichts der hohen Seltenheit wird der geneigte Leser jedoch kaum eine Chance haben, diese bibliophile Rarität erwerben zu können. Falls doch handelt es sich sicherlich um eine private Nachbindung.
Matthias Neiden
Die Idee mit dem schreckenerregenden Skarabäus, der aus dem Orient kommt, um einen britischen Politiker zu vernichten, ist genial. Leider ist sie nicht gut umgesetzt, weswegen es kaum verwundert, dass der Roman \'im Sande verlief\'. Während sich beim Lesen des ersten Teils, der Erzählung Robert Holts, noch die Nackenhaare sträuben, sind die beiden anderen Teile enttäuschend langweilig. Die Dialoge wirken künstlich, die Charaktere unglaubhaft und die Geschichte zieht sich wie Kaugummi. Man merkt, dass der Autor nicht viel Zeit hatte, sich der Ausarbeitung seiner Geschichte zu widmen und so erscheint diese \'hingeklatscht\'. Die großen Themen des fin de siècle - The New Woman, Science, Sexuality, Degeneration, Empire - finden sich einfach irgendwie in das Geschehen eingebaut, damit sie auch ja erwähnt sind. So wirkt die aufbrausende Marjorie als \'New Woman\' unglaublich flach und unauthentisch.
Hinzu kommt, dass der eigentliche Schrecken des Skarabäus gar nicht richtig ausgeführt wird; man wartet ständig auf das Finale, das nie kommt.
Fazit: Auch wenn der damalige Leser den Skarabäus Dracula vorzog, machen Sie es anders.