
Die Liebe, das Genie & ihr blutiger Preis
1816 möchte Wundarzt und Geburtshelfer Dr. Michael Crawford die schöne Judith Carmody ehelichen. Der Junggesellen-Abschied ufert bacchantisch aus; irgendwann steckt der Bräutigam im Vollrausch den Ehering der zukünftigen Gattin einer steinernen Statue an, die er am nächsten Morgen nicht mehr finden kann: Crawford ist an einen Nephelim geraten. Diese uralten Kreaturen stammen von Adams erster Frau Lilith ab. Sie sind Gestaltwandler, weder Mann noch Frau und doch in der Lage, ihre menschlichen Opfer in einen kaum zu lösenden Bann zu ziehen und zu allem Überfluss vampirisch zur Ader zu lassen.
Außerdem sind sie mörderisch eifersüchtig: Julia wird von Crawfords ‚anderer' Braut in der Hochzeitsnacht abgeschlachtet. Als Täter verfolgt, flüchtet der Arzt auf den europäischen Kontinent. Nach und nach lernt er andere Opfer der Nephelim kennen. Vor allem Künstler erliegen dem Zauber, denn für ihre Liebe und ihr Blut wecken diese Kreaturen in ihren Opfern kreative Kräfte, die sie zu Höchstleistungen anstacheln. Crawford trifft die berühmten Dichter John Keats, Lord Byron, Percy Bysshe Shelley und den Arzt und Schriftsteller John William Polidori. Sie alle zahlen wie Crawford einen hohen Preis für die "Liebe" ihrer unheimlichen "Braut". Auch die Politik bedient sich der Nephelim. Das Haus Habsburg setzt sie ein, um seine oberitalienischen Territorien unter Kontrolle zu behalten.
Lange Jahre kämpfen Crawford und seine Gefährten meist vergeblich gegen ihre Musen und Peiniger an. Sie reisen unstet durch ein unruhiges Südosteuropa, geraten in politische Wirren, kommen doch nicht los von ihren "kalten Bräuten", verlieren Frauen und Kinder. Zermürbt gibt einer nach dem anderen auf. Doch der Tod ist keine echte Fluchtoption: Wer von den Nephelim gebissen wurde, verwandelt sich in einen Vampir und muss auf ewig in den Schatten wandeln ...
Die ewig jungen Wilden
"Quem dei diligunt, adulescens moritur!" - "Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben!" So sprach der altrömische Dichter Titus Maccius Plautus (*um 254 - um 184 v. Chr.) und prägte damit eine (Binsen-) Weisheit, die noch heute gern und oft zitiert wird und als Versuch einer Antwort auf eine quälende Frage zu deuten ist: Wieso rafft es scheinbar immer die besten = klügsten, hilfsbereitesten, liebenswertesten Zeitgenossen dahin, während die Stinkstiefel blühen & gedeihen?
Plautus hatte guten Grund, über diese Frage zu sinnieren. Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto kürzer wird die Lebensspanne, die dem Menschen durchschnittlich beschert war. Bis zum Siegeszug der modernen Medizin änderte sich über Jahrtausende wenig daran, dass man besser auf ein kurzes und intensives Leben setzte. Krankheit und Tod vor dem 40. Lebensjahr waren vor allem für Frauen, die oft im Kindbett starben, eine realistische Aussicht. Geldvermögen sicherte zwar eine ausreichende Ernährung und die Aufmerksamkeit prominenter Ärzte, die jedoch machtlos blieben, wenn es wirklich ernst wurde. Faktisch brachten sie mehr Patienten um als die eigentlichen Krankheiten, wenn sie in ihrer Ratlosigkeit zu eher kontraproduktiven "Heilmitteln" griffen. Gern ließen sie ihre ohnehin geschwächten Patienten zur Ader, um mit dem "schmutzigen Blut" die Krankheit aus dem Körper zu spülen: So starb u. a. der fiebergeschwächte Lord Byron.
Der Tod verschonte niemand. Große Künstler mit kurzen Lebensfristen sind historisch in erschreckender Zahl überliefert. Kein Wunder, dass der Sensenmann im Umfeld von Lord Byron so aktiv war: Weite Reisen in heiße, hygienisch unterentwickelte Mittelmeerländer boten feindseligen Keimen zusätzliche Angriffsbasen. Dennoch fiel bereits den Zeitgenossen auf, dass George Gordon Noel, 6. Baron Byron (1788-1824), John Keats (1795-1821), Percy Bysshe Shelley (1792-1822) oder Byrons Arzt und Gelegenheits-Schriftsteller John William Polidori (1795-1821) binnen weniger Jahre ins Grab sanken. Voraus gingen ihnen die meisten ihrer Kinder und diverse Lebensgefährtinnen.
Eine Lücke für die Fantasie
Als Figurenensemble bot sich der Kreis um Byron auch deshalb an, weil seine Mitglieder Anfang des von der Romantik geprägten 19. Jahrhunderts europaweit für Skandale sorgten. Als Künstler und große Geister fühlten sie sich weder den politischen noch den gesellschaftlich-moralischen Regeln ihre Zeit unterworfen. Vor allem der offensive Atheismus sowie die Zwanglosigkeit, mit denen Ehefrauen und Gefährtinnen ausgetauscht wurden, waren für Tugendwächter ein gefundenes Fressen. Byron wurde sogar - und wohl nicht grundlos - eine Liebschaft mit seiner Halbschwester Augusta plus eine gemeinsame Tochter nachgesagt. Diese locker-lebenslustige Schar bereiste Südosteuropa, stieß auch dort die Menschen vor ihre Köpfe - und produzierte "nebenbei" Dichtkunst, die noch heute beeindruckt.
Nicht sämtliche Lebensstationen sind belegt; es existieren biografische Lücken und Unklarheiten, die einem Schriftsteller wie Tim Powers die Möglichkeit boten, ganz eigene "Erklärungen" für die Dreifaltigkeit aus Sex, Tod und Kreativität zu finden. Er postuliert eine buchstäblich übernatürliche Macht, die über der Gruppe schwebt bzw. ihren Angehörigen in den Nacken sitzt. "La Belle Dame sans Merci" - "die schöne Dame ohne Gnade" - betitelte John Keats 1819 eine Ballade, die von der ebenso tiefen wie (selbst-) zerstörerischen Liebe eines Ritters zu einer namenlos bleibenden aber in ihrem Besitzanspruch kompromisslosen Frau erzählt. Hier fand Powers seinen Ansatz: Nicht ihr Talent ist es, das Byron, Shelley oder Keats zu Ausnahmekünstlern erhebt, sondern die Beziehung zu ‚ihrem' Vampir, der ihnen für Liebe und Blut jenen kreativen Funken einhaucht, der sie berühmt macht und nach dem sie so süchtig werden, dass sie ihren grausamen Musen sogar ihre Kinder opfern.
Powers bedient sich nicht des "typischen" Vampirs, sondern greift tief in eine mythische Vergangenheit zurück, wobei er gleichzeitig eine "wissenschaftliche" Deutung anbietet: Die "Nephelim" - im Alten Testament (und dort im 1. Buch Mose, Kapitel 6,4) als riesenwüchsige Mischrasse aus Wesen göttlicher Abkunft und Menschen erwähnt, die in der Sintflut ihr Ende fanden - werden bei ihm zu einer frühen, fast ausgestorbenen Lebensform, die vor dem Menschen die Erde bewohnte. Powers entwickelt diesen Wesen eine eigene Biologie, lässt ihre Motive jedoch im Dunkeln. Diese Fremdheit ist wichtig, denn so bewahren die Nephelim - die Powers zudem nur selten auftreten lässt - ihren Schrecken.
Historie mit Anmerkungen
650 eng bedruckte Seiten zählt Die kalte Braut in der deutschen Ausgabe. Es ist müßig aufzulisten, wo und wie Powers sich der realen Weltgeschichte bedient, um sie in den Dienst einer Story zu stellen, die im Rahmen des Historienromans durch Elemente des Horror, der Fantasy und der Mystery ausgepolstert wird. Selbst der Originaltitel "The Stress of Her Regard" ist eine Anspielung und ein Zitat, hier aus dem Gedicht "Sphinx and Medusa" von Clark Ashton Smith (1893-1961).
Für den historischen Laien ist das Geschehen oft verwirrend. So stellt sich die Frage, ob der politische Aspekt - ohnehin nur sporadisch erwähnt bzw. für Action-Turbulenz sorgend - nicht des Guten zu viel ist. Österreichs Agitation im italienischen Raum und die daraus erwachsene Freiheitsbewegung gewinnt durch die angebliche Rekrutierung der Nephelim jedenfalls nicht an Prägnanz. Für eine gewisse, notwendige Pufferwirkung zwischen dem realen Kreis um Lord Byron und der Story sorgt die fiktive Figur des Michael Crawford. Er kommentiert das Geschehen und greift dort aktiv ein, wo es den historischen Protagonisten unmöglich ist: Powers hat es nicht nötig, Byron, Shelley oder Keats dort auftauchen zu lassen, wo sie sich nachweislich nie aufgehalten haben.
Die kalte Braut wirkt wie eine Blaupause zu einem noch gewichtigeren Werk wirkt, das Powers 2000 vorlegte: "Declare" (dt. Declare - Auf dem Berg der Engel) spielt im 20. Jahrhundert. Aus den Nephelim werden aus der orientalischen Überlieferung bekannte Dschinns, die ansonsten ebenfalls in die Geschicke der Menschheit eingreifen oder instrumentalisiert werden. "Declare" ist das reifere und bessere Werk, denn Die kalte Braut weist vor allem im Mittelteil Längen auf, die auch Powers' Wortwitz nicht übertünchen kann. Die Darstellung erschöpft sich dann in Szenen, die den durchaus interessanten aber für das Kerngeschehen in dieser Ausführlichkeit nicht relevanten Alltag der Byron-Gruppe thematisieren. Deutlich unterhaltsamer und "logischer" wirkt glücklicherweise das Finale in Venedig; es versöhnt mit den angesichts seiner generellen Qualitäten ohnehin marginalen Mängeln eines Werkes, das 1990 mit einem "Mythopoeic Fantasy Award" ausgezeichnet wurde.

Die kalte Braut
- Autor: Tim Powers
- Verlag: Heyne
Deine Meinung zu »Die kalte Braut«
Hier kannst Du einen Kommentar zu diesem Buch schreiben. Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer, respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Danke!
Ich habe dieses Buch hauptsächlich aufgrund dieser Rezension (und ein paar anderer) gekauft und war leider sehr enttäuscht. Vor allem auf das ungewöhnliche und halb mystische, halb wissenschaftlich angehauchte Vampirkonzept hatte ich mich gefreut. Allerdings hätte ich besagtes Konzept ohne Vorinformationen kaum verstanden (z. B. die Vampire sind eine siliziumbasierte Lebensform, daher viele ihrer Fähigkeiten). Das Problem ist aber auch, dass das Buch im 19. Jh. spielt, aber Powers trotzdem ein paar mehr-oder-weniger wissenschaftliche Erklärungen im Buch unterbringen will. Da kommt es dann dazu, dass sich Lord Byron und Shelley über die DNS und Quantenphysik unterhalten - natürlich nicht in diesen Worten, aber der moderne Leser weiß, was gemeint ist - und ich habe überhaupt nicht verstanden, woher sie all dieses Wissen haben sollen. Dadurch, dass all dieses anachronistische Wissen in den Begriffen des 19. Jh. umschrieben wird, bleibt es dann natürlich auch verworren und unvollständig.
Das Buch hat in der Tat "ein paar Längen". Über weite Strecken sieht man hauptsächlich Dr. Crawford und der weiblichen Hauptfigur Josephine dabei zu, wie ihnen so ziemlich alles Schlechte passiert, was einem Menschen irgend passieren kann. Das ist weniger Spannung und Nervenkitzel als vielmehr einfach nur deprimierend, da die Handlung zäh wie Sirup von einer Katastrophe in die nächste mäandert. Mit den Dichtern sieht es nicht viel besser aus. Vor allem die Darstellung von Mary Shelley fand ich enttäuschend. Ihr großes Werk “Frankenstein” hat sie hier ausschließlich deshalb geschrieben, weil sie ein paar ungewöhnliche Details aus dem Leben ihres Mannes verarbeiten wollte, die Botschaft und der tiefere Sinn des Romans wird dabei in keinem Wort erwähnt.
+ + + Ab hier kleine Spoiler + + +
Gegen Ende trifft außerdem Josephine eine so unglaubwürdige und – Verzeihung – hirnrissige Entscheidung, dass ich den Roman spätestens ab da nicht mehr ernst nehmen konnte, da diese Wendung so offensichtlich nur dazu diente, nochmal etwas unnötiges Drama zu fabrizieren.
Fazit: Alles in allem eine Enttäuschung, obwohl die Idee so viel Potenzial hatte. Schade.