
Des Schicksals finstre Ränke
"Ich glaube, nichts geschieht aus Zufall. Im Grunde hat alles seinen geheimen Plan, auch wenn wir ihn nicht verstehen."
Das oben stehende Zitat aus Carlos Ruiz Zafóns "Schatten des Windes" könnte das Motto dieses Romans sein. Obwohl der oben erwähnte "geheime Plan" nie gelüftet wird, geistert er durch dieses Buch wie eine geheime Hauptperson.
"Der Schatten des Windes" ist der erste Teil einer vierteiligen Romanserie, die sich um den "Friedhof der vergessenen Bücher" dreht, ein mythischer Ort mitten in Barcelona, in welchem Bücher abgelegt werden, die niemand mehr will oder kennt. Der zweite Teil, "Das Spiel des Engels" liegt ebenfalls bereits auf deutsch vor; die anderen Teile müssen erst noch geschrieben werden.
Ein geheimnisvoller Autor wird entdeckt
Der junge Daniel, von seinem Vater, dem Buchhändler Sempere zu einem Besuch des "Friedhofs der vergessenen Bücher" angeregt, entdeckt dort einen Roman, der scheinbar auf ihn gewartet hat, der ihn nicht mehr loslässt und der sein weiteres Leben bestimmen wird: "Der Schatten des Windes" eines gewissen Julián Carax.
Obwohl Carax weitere Bücher geschrieben hat, ist er zur Zeit der Erzählung - Anfangs der 50er-Jahre - völlig unbekannt. Daniel entwickelt eine richtiggehende Obsession für Carax und beginnt, Nachforschungen über ihn anzustellen. Er findet heraus, dass Carax zahlreiche phantastische Romane verfasst hat, damit einen Misserfolg nach dem anderen erlebt hat - und dass offenbar keines dieser Bücher mehr existiert. Ein geheimnisvoller Fremder zieht nämlich durch die Lande, mit dem Ziel sämtliche noch existierenden Bücher Carax' zu verbrennen.
Als Daniel hartnäckig und mit Hilfe seines seltsamen Freundes Fermín Romero de Torres, einem ehemaligen Clochard und Spion, weiter recherchiert, erscheint ihm dieser Fremde leibhaftig. Sein Gesicht ist grässlich verunstaltet und er trägt den Namen einer der Figuren aus Carax' Buch: Laín Coubert. In Carax' Roman ist Coubert kein geringerer als - der Teufel. Ist der das auch in Daniels Realität? Realität und Fiktion beginnen, ineinander zu fließen...
Daniels Suche ist nur einer der Erzählstränge dieses äußerst facettenreichen und vielschichtigen Romans, jener, der eine gewaltige Lawine von Ereignissen und Schicksalsschlägen ins Rollen bringt. Da tauchen Nebenfiguren auch, die plötzlich zu Hauptfiguren ihrer eigenen Geschichten werden (Julián Carax etwa, oder Nuria Monfort). Weit in die Vergangenheit zurückreichende Ereignisse werden aufgerollt, die Zukunft kündigt sich in düsteren Vorahnungen an; es gibt Ereignisse in Daniels Leben, die in Carax' Buch beschrieben werden, es gibt mysteriöse Dopplungen in Daniels und Carax' Leben. Daniel widerfahren Dinge, die Carax bereits erlebt zu haben scheint.
Obwohl sich für die ganzen Rätselhaftigkeiten auf den letzten hundert Seiten logische Erklärungen finden, ist "Der Schatten des Windes" fast zur Gänze im Stil des phantastischen Romans verfasst. Barcelona wird zum mystisch-unwirklichen Ort der Geheimnisse, das von unheimlichen Schattengestalten bewohnt wird. Und einige Figuren gleiten immer wieder ab ins Reich der Mythen und Legenden - allen voran Julián Carax oder der sadistische Inspektor Fumero, der wie der Teufel persönlich hinter Carax her ist.
Überhaupt: der Teufel. Er scheint die Fäden zu ziehen im Schicksalsspiel der Hauptfiguren. Was ihnen an Schrecknissen und Leid widerfährt, ist unmenschlich grausam und weist auf einen Ort namens Hölle hin. Und der scheint sich zwischen den Toren Barcelonas aufzutun.
Der "geheime Plan" wird nicht enthüllt
Obwohl sich am Schluss die einzelnen Teile wundersam zueinander fügen wie in einem riesenhaften Puzzle, der "geheime Plan" im eingangs zitierten Satz offenbart sich nicht. Er muss wohl als "Schicksal" bezeichnet werden, und das nimmt, gemäß Zafón, manchmal grausame, phantastisch-mystische Züge an. Aber in dieser Aussage bleibt der Autor seltsam nebulös.
Und genau da liegt die Krux mit diesem Roman: Er ist zwar großartig aufgebaut und konzipiert, beruht auf einer bildkräftigen Sprache, bedient sich einer bemerkenswerten sprachlichen Ausdruckskraft, wartet mit unvergesslichen Charakteren auf; doch dahinter befindet sich - nichts. "Der Schatten des Windes" erzählt mitreissend eine kunstvoll verschachtelte Geschichte, doch dahinter bleibt er leer. Seine Aussage bleibt im Dunkeln, genau wie der eingangs zitierte "geheime Plan".
Aber vielleicht will er genau das aussagen: Dass das Leben ein Nichts ist, eine Sackgasse voller komplizierten Umwege und tiefer Schlaglöcher.
Zu wenig für ein Meisterwerk, findet dieser Rezensent. Immerhin: Die Figuren und Charaktere sind lebendig und packend beschrieben; man nimmt Anteil an ihrem Leidensweg.
Ein Meisterwerk hat Zafón mit diesem Roman also nicht abgeliefert - aber er kommt dem stellenweise - vor allem im sprachlichen Bereich - sehr nah. Übersetzer Peter Schwaar macht dies auch in der Eindeutschung erlebbar - eine beachtliche Arbeit!
Carlos Ruiz Zafón ist jetzt 47 Jahre alt. Üben wir uns in Geduld. Und lesen seine weiteren Romane - denn schreiben kann der Mann. Möglicherweise kommt sein Meisterwerk ja noch. Das Zeug dazu hat dieser Schriftsteller auf jeden Fall!
(Michael Scheck, November 2011)

Der Schatten des Windes
- Autor: Carlos Ruiz Zafón
- Verlag: Insel
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Schlicht und einfach: Mein absolutes Lieblingsbuch!
Zafón hat dafür gesorgt, dass ich mich endgültig in die Stadt Barcelona verliebt habe. Schon vor der ersten Begegnung mit dem Buch, hatte die Stadt einen außergewöhnlichen Reiz auf mich ausgeübt. Doch Zafóns Art seinen Leser gedanklich durch diese Stadt zu führen hat schon etwas besonderes. Das Buch packt von der ersten Seite an und umschreibt so liebevoll die Charaktere - ohne jemals wirklich zu beschreiben. Wir erleben und erfassen die Figuren durch deren Handlungen und Gedanken. Das Buch wird getragen von großer Spannung, viel Humor, sehnsuchtsvolle Liebe, Ängste und einer beeindruckenden Dramaturgie. Besonders: Es trägt auch einen großen Teil Mystik in sich - ohne aber je in Fantasy abzugleiten. Alles unverständliche klärt sich auf. Ich liebe dieses Buch!
Mit dem Der Schatten des Windes ist Carlos Ruiz Zafon ein Roman gelungen der den Leser berührt und bewegt die Beschreibung des Lebens in Barcelona nach dem Spanischen Bürgerkriegs ist so Lebendig das der Leser das Gefühl hat die engen und dunklen Gassen selber zu erleben. Liebe ,Verrat, Trauer und Freundschaft alle großen Gefühle kommen hier zu ihren Recht . Der Schatten des Windes ist Erzählkunst auf ganz hoher Ebene schade, dass ich den Autor nicht schon früher für mich entdeckt habe.
Es gibt wirklich nur wenige Bücher, nach deren Beendigung ich einmal tief durchatmen musste, um sowohl das Gelesene als auch meine Gefühle einordnen zu können. "Der Schatten des Windes" von Carlos Ruiz Zafón ist eines davon.
Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Barcelona der Nachkriegszeit, als ein Vater, leidenschaftlicher Buchhändler, seinen Sohn Daniel zu einem geheimen Ort führt: Dem Friedhof der Vergessenen Bücher. Nicht vielen bekannt, sind hier zahlreiche vergessene Bücher versteckt, die von Menschen, welche auf sie reagieren, gefunden werden. Nach langem Stöbern in den Regalen sucht sich Daniel eins von dem Autor Julián Carax aus, über den er zuvor, wie auch sein Vater, noch nie etwas gehört hat. Der Titel des Buches lautet "Der Schatten des Windes" und mit seiner Wahl scheinen die Schicksale und Leben von Daniel und Carax plötzlich miteinander verflochten zu sein.
Um mehr über den mysteriösen Schriftsteller zu erfahren, stellt er Nachforschungen an, wobei er zusehends in den Sog dieses fremden Mannes gerät, dessen Bücher von einem Unbekannten seit Jahren gesucht und verbrannt werden. Und so wie Daniel sich in der Lebensgeschichte von Julian verliert, geschieht dies auch mit dem Leser.
Selten zuvor hat mich ein Roman derart in den Bann gezogen, mich die Sprache eines Autors gleichzeitig so gefesselt und so bewegt, wie dieser. Selten zuvor sind für mich geschriebene Figuren vor meinem Auge so lebendig geworden. Selbst in den kurzen Pausen in denen ich das Buch beiseite gelegt habe, vermochte ich die Gedanken nicht von ihnen zu lösen, was wohl das größte Kompliment ist, das man einem Schriftsteller machen kann. Die Geschichte selbst ist schlichtweg grandios konstruiert, die Sprache streckenweise so schön, dass man sich allein nur schon an ihr erfreuen könnte.
Hinzu kommen der stetig ansteigende Spannungsbogen und die einfach nur atemberaubenden Wendungen innerhalb des Plots, welche beim Leser für ungläubiges Staunen und Gänsehaut sorgen. Zafón führt den Leser dabei stets an der Hand, so dass es selbst bei Wechseln der Erzählperspektive nie zu Unterbrechungen im Erzählfluss, geschweige denn zu langatmigen Passagen kommt. Das Ende macht nur sprachlos und hat mich, zu meiner eigenen Überraschung, zu Tränen gerührt.
Insgesamt ist "Der Schatten des Windes" ein großartiger, einzigartiger Roman, der einem regelrecht ans Herz wächst und an dem es für jeden Buchliebhaber kein Vorbeikommen gibt. Ein Buch über Bücher, Freundschaft, Treue und vor allem die Liebe, das einen Ehrenplatz im Regal eines jeden Kenners verdient hat.