AN DEN RAUM
Ein Himmel ist der Waldweg,
Auf dem die Sterne kreisen −
So nah sind sie −
Auch abseits im All,
Zwischen den Gräsern
Und unter den Büschen.
Winde sind Füße, die manchmal
Du stillhältst, um keinen Stern
Zu zertreten. Manche erlöschen davon.
Hinter dir leuchten sie auf, da du
Vorbei bist. Wie Geäst knackt
Unter dir Donner. Du streckst
Eines Blitzes Arm aus und
Greifst einen Glühwurm und legst ihn
Auf den Wolkenteller deiner Hand.
Davon wird es hell und tagt.
Und so bestimmst du die Tage,
Die Wetter, den Wuchs einer Erde,
Die an dir sein muß sehr unten,
Vielleicht an den Sohlen des Weltalls.
Uwe Greßmann
Zwei Lyriker, die sich auch als Kritiker betätigen, haben sich zusammengefunden, um die vorliegende Gedichtsammlung nach längeren Beratungen zur Diskussion zu stellen. Ihr Ziel war es, die stärksten Gedichte aufzufinden, die seit 1945 auf dem jetzigen Territorium der DDR entstanden sind. Die Arbeit war nicht einfach, da die Herausgeber als Lyriker sehr verschiedenen künstlerischen Absichten folgten. Auch ihre kunsttheoretischen Ansichten deckten sich demzufolge keineswegs in allen Punkten. Gerade diese Konstellation schien ihnen freilich das bisher nicht gewagte Experiment zu rechtfertigen. Was die Herausgeber verband, war eine nicht kleine Unduldsamkeit gegenüber Halbfabrikaten, die als Vorformen interessant sein mögen. Diese Rigorosität schied vor allem zahlreiche Kurzgedichte aus, die von ihren Autoren gern als Intensität bezeichnet werden und von denen es einige in den letzten Jahren zu Popularität gebracht haben. Statt dessen wird man viele recht lange Gedichte finden. Wer an Autoren wie Fühmann, Hermlin, Maurer, Huchel, Arendt u.a. denkt, wird das kaum als Willkür empfinden können. Es sollte studiert werden, wie solche Dichter Großgedichte regieren. Große Form erheischt eine Kompositionssinn, der hier und da den jüngeren Dichtern verloren zu gehen droht; in unserer Zusammenstellung wird man ihn hoffentlich walten sehen. Viele größere Arbeiten kamen der zweiten wichtigen Gemeinsamkeit der Herausgeber entgegen, ihrer Hinneigung zu poetischen Gebilden, mit denen deutlich ein bestimmter Ausschnitt der Realität in ihrer vielfältigen Verzahnung zu bewältigen versucht wird. Gerade das wurde von uns in vielen kurzen Gedichten vermißt, wie sie z.B. durch die Liebeslyrikwelle über uns gekommen sind. Warum nehmen so viele jüngere Dichter ihr Liebesleben nicht ernst, warum bleiben sie oft im Bereich halb-erotischer Spielereien? Und das im Zeitalter der Frauenemanzipation! Ungeahnte neue Konflikte und Widersprüche treten auf, die vom Liebesgedicht her gestaltet werden könnten! Aber das geschieht so gut wie nie.
Die Anthologie lebt wesentlich von der Spannung zwischen den zwei angedeuteten Forderungen an das Gedicht, wenn man von der Spannung zwischen den Herausgebern absieht. Es wird in vieler Beziehung aufschlußreich sein, auf welche Gedichte sich zwei sehr verschiedene Lyriker beim Blick über unsere Lyrikproduktion der vergangenen zwanzig Jahre einigen können, welche Gedichte ihnen als bedeutend und vorwärtsweisend erscheinen.
Es ist auf diese Weise, dessen sind wir sicher, ein Buch entstanden, das Maßstäbe zu setzen imstande ist und das durch die Art der Bereitstellung konkreter Beispiele die Frage nach der Qualität des Gedichts beantworten hilft. Dennoch wird die Anthologie auch in diesem Punkt nicht nur Fragen beantworten, sondern auch neue wecken. Wir erhoffen uns ein lebhaftes Streitgespräch, frei von jener Geschmäcklerei, die weitgehend unsere Gespräche über die Lyrik bestimmt. Bedenkenswert ist nicht zuletzt der große Anteil von erzählenden Gedichten, ohne daß diese sich jedoch zu geschlossener Balladenform verfestigt hätten. Zum anderen stellte sich eine Tendenz zum Zyklus heraus, die wir freilich, unseren Auswahl- und Aufbauprinzipien folgend, nicht exakt nachbilden konnten. Wir wünschen uns, daß die Leser sich von unserer Anthologie auf die Werke der Dichter selbst verweisen lassen und den zyklischen Andeutungen im Bande nachgehen. Sie werden allerdings schwerlich auf ein Poem, d.h. die entfaltete und geschlossene Form des Zyklus, noch auf Balladen im klassischen Sinn stoßen.
Wir haben zunächst die veröffentlichten und viele unveröffentlichte Arbeiten der in der DDR lebenden Dichter gelesen und die, unserer Ansicht nach, gelungendsten Gedichte ausgesucht. Erst dann begannen wir die thematische Gruppierung; sie wurde gleichsam vom gewonnenen Material erzwungen. Wir haben also nicht Gedichte zu bestimmten Themen ausgesucht, sondern Themenkomplexe aus ausgesuchten Gedichten zusammengestellt; man erwarte daher kein Handbuch der DDR in Versform. Aber es lassen sich natürlich Rückschlüsse ziehen auf einige ästhetische Besonderheiten der hierzulande gepflegten Dichtkunst. Zum Teil waren wir selber so überrascht über das Ergebnis, wie es der eine oder andere Leser sein wird. Genügen zwanzig Jahre, ein historisch kurzer Zeitraum, der Dichtung eines Landes den Stempel aufzudrücken? Die Anthologie dürfte ein eindeutiges „Ja“ legetimieren. Wir waren aber auch einer Vielzahl relativ schwieriger Gedichte konfrontiert, die vom Leser erarbeitet werden müssen, wie es vorher die Herausgeber getan haben. Es sind Gedichte – beispielsweise Arendts Oden und Elegien −, die hohe Kenntnisse der Wirklichkeit, aber auch der Kunstwirklichkeit (-historie) verlangen und nicht geringe Assoziationsfähigkeit. Wir setzen volles Vertrauen auf die Entwicklung zur gebildeten Nation, die dazu führen wird, daß mehr Leser als bisher sich das nötige Rüstzeug zur Gedichtlektüre aneignen werden. In diesem Sinne ist unsere Anthologie eine betonte Aufforderung. Wir müssen unsere Leser bitten, nicht zu verzweifeln, wenn sie Gedichten begegnen, die ihnen auch beim dritten oder fünften Lesen noch nicht verständlich scheinen. Wir haben versucht, durch unsere Zusammenstellung einige Hilfe zu geben: Zusammenhänge deuten sich an, die einen Zugang zu den Gedichten erleichtern. Allerdings werden diese komplizierteren Gedichte mehr als einer Interpretation ausgesetzt sein, und wir möchten keineswegs alle Interpretationen außer jener, welche den Zugang leichter macht und sie sich aus der Komposition des Bandes ergibt, abschneiden.
In unserer Sammlung stoßen also Gedichte von Autoren verschiedenen Alters und verschiedner Art unmittelbar zusammen. Zuweilen haben wir diese Widersprüche durch abrupte Gegenüberstellung ausdrücklich betont, um die Gedichte gewissermaßen in einen fruchtbaren Streit miteinander zu bringen. Die Gefahr, durch allzu kühne „Schnitte“ Verwirrung zu stiften, will uns gering erscheinen. Auch wird die Komposition des Bandes selbst für weniger gute Kenner der Lyrik einleuchtend sein – lediglich die Abteilung „Vorstellung“ soll eine Einstimmung in den Band geben und enthält vor allem Gedichte, in denen einige der vertretenen Dichter über ihr Leben als Künstler in den vergangenen Jahrzehnten nachdenken oder meditieren, wenn sie nicht sogar einen Lebensbericht abgeben. Wir hoffen, daß auch diese Abteilung sich nicht übermäßig gegen einen Nachvollzug durch den Leser sperrt. Was könnte noch schockieren? Es fehlen einige namhafte Autoren, die in anderen Anthologien häufig gefunden werden können! Wenn es sich um gereifte Dichter handelt, kann man sicher sein, daß ihre wichtigsten lyrischen Arbeiten vor 1945 längst entstanden waren. Ausnahmen glaubten wir in dieser Beziehung nur bei den Klassikern der sozialistischen Dichtkunst machen zu müssen. Die wenigen Gedichte, die aus der Zeit vor 1945 aufgenommen wurden, sind gleichsam Marksteine der historischen Entwicklung des sozialistischen Realismus. Wir verweisen namentlich auf die zwei Heldengesänge Erich Weinerts, welche die Arbeiterklasse vor und nach der Erringung der Staatsmacht außerhalb Deutschlands zur Darstellung bringen.
Die Herausgeber Adolf Endler und Karl Mickel
haben diese Gedichtsammlung zusammengestellt. Ihr Ziel war es, die stärksten und besten Gedichte aufzufinden, die seit 1945 auf dem jetzigen Territorium der DDR entstanden sind. Ausnahmen glaubten die Herausgeber bei den Klassikern der sozialistischen Dichtkunst machen zu müssen. Die Arbeit war nicht einfach, da die Herausgeber als Lyriker sehr verschiedenen künstlerischen Absichten folgten. Auch ihre kunsttheoretischen Ansichten deckten sich demzufolge keineswegs in allen Punkten. Was die Herausgeber verband, war eine nicht kleine Unduldsamkeit gegenüber Halbfabrikaten, die als Vorformen interessant sein mögen.
Es wird in vieler Hinsicht aufschlußreich sein, auf welche Gedichte sich zwei sehr verschiedene Lyriker beim Blick über die Lyrikproduktion der vergangenen zwanzig Jahre einigen können, welche Gedichte ihnen als bedeutend und vorwärtsweisend erscheinen. Es ist auf diese Weise ein Band entstanden, der Maßstäbe zu setzen imstande ist.
Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 1966
Wir waren wirklich für die DDR. Nicht zufällig trag die Anthologie, die ich 1966 mit Karl Mickel herausgab, den Titel In diesem besseren Land. Die Zeile stammte aus einem Gedicht von Czechowski. Und das war keinesfalls ironisch gemeint, auch wenn Mickel es einmal gegenüber Peter Huchel so dargestellt hat. Es war aber auch kein Propagandabuch, weswegen die Anthologie sehr kritisch betrachtet wurde. Propagandistisch war sie nur in dem Sinne, daß wir zeigen wollten, daß in der DDR die besseren Gedichte geschrieben wurden. Und daß es die Autoren der Sächsischen Dichterschule waren, die diese Gedichte schrieben. Aber das wollten die Kulturpolitiker nicht sehen. Sie bevorzugten eine volksliedartige Johannes-R.-Becher-Kunst. Auch deshalb wurde Becher für mich zum großen Feind, und nicht nur für mich. Wir wollten das Andere, aber auch dieses Andere sollte eine sozialistische Dichtung sein. Das entsprach unserer Überzeugung. Wir alle fanden, daß, obwohl viel Unrecht geschah und es etliche Unzufriedene gab, man sich für die DDR engagieren müßte – und nicht für den im Westen florierenden Kapitalismus. Es war ja auch nicht abzusehen, wie die Mauer schließlich aussehen und daß sie fast dreißig Jahre Bestand haben würde. Das konnte sich wahrscheinlich keiner so richtig vorstellen; wir haben darüber auch nicht nachgedacht. Und man darf auch nicht vergessen: Damals herrschte Krieg zwischen Ost und West, und in diesem Kalten Krieg fühlten auch wir uns schweben. Alle diese Autoren waren für die DDR: Mickel ebenso wie Heiner Müller, auch Sarah und Rainer Kirsch, Czechowski, trotz aller Kritik an den Zuständen. Auch bei Mickel gab es solche kritischen Momente, und er hat später versucht, in Gedichten, die an die Antike anknüpften, etwas über die DDR zu sagen, während ich immer sehr direkt auf die Dinge zugegangen bin. Über die Nazizeit hat Elisabeth Langgässer einmal sinngemäß gesagt: „Es gab die Autoren der inneren Emigration, Wilhelm Lehmann zum Beispiel. Und dann gab es welche, die mit sechs Bällen jongliert haben.“ Ich glaube, daß auch in der DDR sehr viele mit sechs Bällen jongliert haben…
Adolf Endler aus: Dies Sirren. Gespräche mit Renatus Deckert, Wallstein Verlag, 2010
In diesem besseren Land – die Schlußzeile von Czechowskis Gedicht „Brief“ gab einer unbequemen Anthologie den Titel. Endler und Mickel legten eine Vielzahl relativ schwieriger Gedichte vor, die vom Leser Arbeit verlangten, Assoziationsfähigkeit voraussetzten und „hohe Kenntnisse der Wirklichkeit, aber auch der Kunstwirklichkeit (-historie)“ beanspruchten. Zweierlei lehnten die Herausgeber ab. Implizit die massenhaft produzierte Liedlyrik, derer man so überdrüssig geworden war, explizit die „Halbfabrikate“, vor allem zahlreiche Kurzgedichte, bei denen die Autoren meinten, bereits die kurze Form erbringe Intensität. Auf den ersten Blick ergeben sich verblüffende Parallelen zu der gleichzeitig in der Bundesrepublik geführten Diskussion über das lange und kurze Gedicht. Sie erweisen sich jedoch als täuschend: Walter Höllerer plädierte 1965 in Akzente mit seinen „Thesen zum langen Gedicht“ für eine Lyrik mit „freierem Atem“, das heißt eine Poesie der freizügigeren Wahrnehmung und Gestaltung. Die Forderung nach weltanschaulicher Bewußtheit und Kunststrenge, die von den Wortführern des „langen Gedichts“ in der DDR erhoben wurde, zielte in eine nahezu entgegengesetzte Richtung. Höllerer rieb sich an der „erzwungene(n) Preziosität und Chinoiserie des kurzen Gedichts“, während die Kritik von Mickel und Endler nicht das Gedrechselte, Angestrengte, sondern das Vorschnelle und mangelhaft Formulierte meinte.
Der Rigorismus, mit dem In diesem besseren Land konzipiert war, schied jedoch nicht nur die Gedichte der Lyrikwelle ohne Tiefgang aus, sondern beispielsweise auch die lapidaren Texte Reiner Kunzes (* 1933). Kunze verknappte unter dem Druck politischer Erfahrung in der DDR und ČSSR seine Lyrik immer mehr, bis das erzwungene öffentliche Verstummen die Texte zu äußerster Kargheit führte. Schon 1960 hatte Kunze über „das ende der kunst“ (Sensible Wege, 1969) reflektiert:
Du darfst nicht, sagte die eule zum auerhahn,
du darfst nicht die sonne besingen
Die sonne ist nicht wichtig
Der In diesem besseren Land abschießende Teil „Bewußtsein“ durchmißt Zeiten und Räume und sucht immer wieder nach Modellen menschlichter Erfahrung, steckt Lebenswege ab, die Spanne zwischen Jugend und Alter. Den Schlußpunkt, der die philosophische Konzeption des Bandes abrundet, setzt Johannes R. Bechers Gedicht „Von den letzten Dingen“.
Das Herzstück der Anthologie bildet der Mittelteil mit Gedichten über das Arbeiten,. In diesem Abschnitt „Morgenzug“, der nicht im Deklarativen steckenbleibt, wie bei dem Thema Arbeit sonst üblich, findet sowohl Brechts nach dem 17. Juni entstandene Gedicht „Böser Morgen“ als auch Uwe Greßmanns Spiel mit dem „Baukasten, / In dem die Stadt von Morgen eingepackt ist“ („An Arkadien) und Mickels vieldiskutiertes Gedicht „Der See“, dem Marx’ Bestimmungen von der Arbeit als Stoffwechselprozeß des Menschen mit der Natur zugrunde liegen.
Der Gedichtverlauf zeigt zwar Geschichtsprogression und Zunahme an philosophischer Einsicht. Aber dem Abstoßungsvorgang aus der archaischen Welt haftet selbst etwas Barbarisches an, und die Auseinandersetzung mit der nirgends beschönigten Natur-Welt und Welt-Natur bleibt widersprüchlich und gewaltsam:
See, schartige Schüssel, gefüllt mit Fischleibern
Du Anti-Himmel unterm Kiel, abgesplitterte Hirnschal
Von Herrn Herr Hydrocephalos, vor unsern Zeitläuften
Eingedrückt ins Erdreich, Denkmal des Aufpralls
nach rasendem Absturz: du stößt mich im Gegensinn
Aufwärts, ab, wenn ich atemlos nieder zum Grund tauch
Wo alte Schuhe zuhaus sind zwischen den Weißbäuchen.
Totes gedeiht noch! An Ufern, grindigen Wundrändern
Verlängert sichs, wächst, der Hirnschale Haarstoppel
Borstiges Baumwerk, trägfauler als der Verblichene
(Ein Jahr: ein Schritt, zehn Jahr: ein Wasserabschlagen
Ein Jahrhundert: ein Satz). Das soll ich ausforschen?
Und die Amphibien. Was sie reinlich einst abschleckten
Koten sie tropfenweis voll, unersättlicher Kreislauf
Leichen und Laich.
aaaaaaaaaaaaaaaaAlso bleibt einzig das Leersaufen
Übrig, in Tamerlans Spur, der soff sich aus Feinschädel-
Pokalen einst an („Nicht länger denkt der Erschlagene“
Sagt das Gefäß, „nicht denke an ihn!“ sagt der Inhalt).
So faß ich die Bäume („hoffentlich halten die Wurzeln!“)
Und reiße die Mulde empor, schräg in die Wolkenwand
Zerr ich den See, ich saufe, die Lippen zerspringen
ich saufe, ich saufe, ich saufe – wohin mit den Abwässern!
See, schartige Schüssel, gefüllt mit Fischleiber:
Anne Hartmann, aus: Wilfried Barner (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, C.H Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 2006.
− Eine repräsentative Anthologie zeitgenössischer Lyrik. −
Die Anthologie In diesem besseren Land — Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945 — entstand aus Sachkenntnis und beträchtlichem Einfühlungsvermögen. Nicht immer läßt sich das von allen lyrischen Sammelwerken behaupten, die in den vergangenen Jahren bei uns publiziert worden sind. Die beiden Herausgeber — selbst junge Autoren von Format — waren bemüht, ein Werk zu schaffen, in dem unsere Lyrik wirklich repräsentativ vertreten ist.
Dies schloß ein — und wird im Vorwort betont —, daß mehr als bisher auch wieder Autoren der mittleren und älteren Generation das Wort gegeben wurde. Nach den bedeutendsten Vertretern unserer sozialistischen Nationalliteratur — wie Becher, Brecht und Weinert —, die gleichsam als „Leitbilder“ der Anthologie zu werten sind, vermittelt der Band erneute Bekanntschaft mit gültigen poetischen Zeugnissen von Arendt, Bobrowski, Fühmann, Hermlin, Herzfelde, Huchel, Maurer und anderen, deren Schaffen den Charakter unserer Lyrik innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre weitgehend mitbestimmt hat.
Selbstverständlich ist jeder Geschmack subjektiv bedingt: Ob es jeweils die „stärksten“ Gedichte sind, die hier abgedruckt wurden, dürfte nicht unumstritten bleiben; immerhin — und das ist das Ausschlaggebende, auch bei der Auswahl jüngerer und jüngster Autoren — vermieden es die Herausgeber, dem anspruchsvoller gewordenen Leser „Halbfabrikate“ vorzusetzen; die Abgrenzungen nach Niveau und Namen mögen dabei nicht immer leichtgefallen sein.
So vermißt man unter den jungen Autoren einige Namen (wir erwähnen nur Helmut Preißler, Werner Lindemann, Margarethe Neumann, Rainer Kunze), deren Abwesenheit hier — trotz möglicher kritischer Einstellung ihrem Werk gegenüber – nicht recht einzusehen ist. Auch muß es nachgerade als Unterlassungssünde der Anthologisten gelten, daß sie z.B. einem so eigenwilligen und bedeutenden Lyriker der älteren Generation wie Helmut Bartuschek, der übrigens in zahlreichen Sammelwerken des Auslandes vertreten ist, so überaus geringe Beachtung schenken. Und sollten sich die Lyrik-Experten von nun an nicht auch eines so traditionsreichen Lyrikers wie Friedrich Schult entsinnen des Freundes und Nachlaßverwalters von Ernst Barlach? Auch dessen schmales Werk kann wohl mit gutem Gewissen zum Bestand der gegenwärtigen Nationalliteratur zählen.
Etwas gekünstelt erscheint die nach der Auswahl der einzelnen Gedichte getroffene Anordnung des Materials nach Themenkreisen; nicht jedes der hier publizierten Poeme läßt sich wohl so ohne weiteres in den gewählten Themenkreis pressen.
Im Ganzen jedoch ein Werk, würdig der Beachtung und auch der Diskussion und nicht nur passionierten Lyrik-Freunden, sondern allen Freunden guter Literatur zu empfehlen.
René Schwachhofer, Neue Zeit, 2.7.1966
Elke Erb: In diesem besseren Land
Forum, Nr. 11, 1966
Horst Haase: Sozialistische Lyrik – etwas einseitig ausgewählt
Neues Deutschland, Nr. 190, Beilage Nr. 7, 1966
Fried, Erich: In diesem besseren Land
Kürbiskern, Heft 1, 1967
Rüdiger Bernhardt: Ein gültiges Ergebnis unserer Lyrik
ich schreibe (DDR), Heft 1, 1968
– Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945. –
Diese 1966 von Adolf Endler und Karl Mickel hg. Anthologie im Mitteldeutschen Verlag Halle ist ein dichterisches Manifest. Es spiegelt den selbstbewussten Auftritt einer neuen Lyriker/innen-Generation der DDR (Sächsische Dichterschule), die erstmals an dem von Stephan Hermlin initiierten Abend für junge Lyrik in der Akademie der Künste am 11.12.1962 mit Texten an die Öffentlichkeit traten. Die beiden Autoren Endler und Mickel stellten ihrer unorthodoxen Anthologie eine Vorbemerkung voran, in der sie ihre Kriterien für die Auswahl erläuterten. Ziel des „Experiments“ war erklärtermaßen, „die stärksten Gedichte aufzufinden, die auf dem jetzigen Territorium der DDR entstanden sind“, und die „gelungensten“ abzudrucken. „Unduldsamkeit gegenüber Halbfabrikaten“ einte die Hg. ebenso wie der Anspruch, mit der resümierenden Auswahl einerseits Maßstäbe zu setzen, andererseits Fragen aufzuwerfen, die eine Debatte in Form eines „lebhafte[n] Streitgespräch[s]“ über die Qualität des Gedichts anstoßen sollten. Die thematischen Gruppierungen des Bandes Vorstellung, Reisen, Morgenzug, Brände und Bewusstsein wurden erst nach der getroffenen Auswahl der 160 Gedichte vorgenommen und als „vom Material erzwungen“ behauptet. Bei der Gestaltung nach gleichsam sinfonischem Prinzip setzten Mickel und Endler bewusst auf Erwiderung und Dialogizität der Gedichte untereinander, aber auch auf Widersprüche und Konfrontation durch abrupte Gegenüberstellung von Gedichten aus unterschiedlichen Kontexten. So folgt beispielsweise Johannes R. Bechers weißblühender Welt in dem Text „Das weiße Wunder“ ein Vierzeiler Günter Kunerts, in dem das Weiß „Wie Verbandstoff vor der Schlacht“ die kommende blutige Auslöschung ankündigt. Den programmatischen Auftakt der Sammlung bildet Bertolt Brechts Text „Gleichermaßen gefährlich und nützlich ist auch das Machen / Einleuchtender Bilder“, das einerseits auf das Machen „neuer Bilder“ als Ablösung nicht länger gültiger Bilder drängt und andererseits die anspruchsvolle Auswahl „schwieriger Gedichte […], die vom Leser erarbeitet werden müssen“ rechtfertigt. Die Hg., die jedoch „volles Vertrauen auf die Entwicklung zur gebildeten Nation setzen“, griffen mit dieser Thematisierung bereits dem Problem der Unverständlichkeit der Gedichte vor, dem sich die Lyriker/innen der Anthologie in der sich anschließenden Diskussion in der FDJ-Zeitschrift Forum (Forum-Lyrikdebatte 1966) mit Vehemenz ausgesetzt sahen. Doch noch vor Drucklegung gab es aufgrund des negativen Bescheids der Hauptverwaltung Verlage und Buchwesen eine interne Debatte um den Band, in deren Folge die Hg. u.a. ihre Vorbemerkung ändern mussten. Anlass der Kritik war v.a. Mickels/Endlers Auffassung der Entwicklung der Lyrik der DDR, die als Versuch einer „Umbewertung der sozialistischen Lyrik der DDR“ aufgefasst wurde (Aktennotiz, Holger Brohm: Die Koordinaten im Kopf. Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik, 2001, 99). Einwände gab es auch dagegen, dass die Hg. zahlreiche junge, teilweise bis dahin ungedruckte Dichter/innen in die Anthologie aufgenommen hatten, während die politische Lyrik kaum vertreten war. Trotz der auferlegten Änderungen behält die Vorbemerkung jedoch in der Druckfassung ihren provokatorischen Gestus, zumal auf den Absicherungscharakter nun ausdrücklich hingewiesen wird: „Was könnte noch schockieren? Es fehlen einige namhafte Autoren, die in anderen Anthologien häufig gefunden werden können!“ Der Kompromiss, zwei Gedichte von Erich Weinert aufzunehmen, die vor 1945 entstanden waren, wird deutlich, zumal von dem Gedicht „Das Heldenlied vom Alexander Woikoff“ (1935) eine Strophe weggelassen und dies auch explizit unter dem Gedicht ausgewiesen wurde. Insgesamt blieb es auch nach der Umarbeitung bei der ursprünglichen Gewichtung (Brecht ist am häufigsten vertreten) und Auswahl der zwei Autorinnen (Inge Müller und Sarah Kirsch) und 34 Autoren (u.a. Richard Leising, B.K. Tragelehn, Heiner Müller, Peter Huchel). Allerdings kündigten Elke Erb und der ebenfalls in der Anthologie vertretene Heinz Czechowski (aus seinem Gedicht „Brief“ stammt der titelgebende Vers) als Reaktion auf die internen Reglementierungen ihre Stellen als Lyrik-Lektoren beim Mitteldeutschen Verlag, während Mickel als Autor zum Aufbau Verlag wechselte. Das Erscheinen der Anthologie markiert jedoch das Jahr 1966 als Auftakt und „Schwellenjahr“ für die Lyrik im Zeichen eines „Umbau[s] der Poetiken“ (Brohm, 93).
Kristin Schulz, aus Michael Hofmann und Michael Opitz (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur: Autoren – Institutionen – Debatten, J. B. Metzler Verlag, 2009
In der Reihe „Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“ präsentierten Autoren je ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialiensammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel fand 1992 in der Literaturwerkstatt Berlin statt.
Konrad Franke: Der souveräne Weltanschauer
Süddeutsche Zeitung, 23.6.2000
Ijoma Mangold: Forderung nach Leichtigkeit und Höhe
Badische Zeitung, 24.6.2000
Thomas J. Richter & Heike Friauf: Eine Frage – Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Die Linke, Juni 2010
Stefan Amzoll: Was ist das, ein Mensch?
neues deutschland, 12.8.2015
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