Alexander Block: Ausgewählte Werke – Band 1

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexander Block: Ausgewählte Werke – Band 1

Block-Ausgewählte Werke

DIE ZWÖLF

1
Schwarzer Abend.
Weißer Schnee.
Wind! Wind!
Seht doch, wie er Menschen fällt!
Wind, Wind
Überall auf Gottes Welt.

Wirbelwehn
Weißen Schnees.
Glatteis unterm Weiß.
Erbarmen! –
Alle, die da gehn,
Gleiten aus, die Armen.

Zwischen zwei Häusern ein Draht,
An dem Draht ein Plakat:
Alle Macht dem Verfassungsrat!

Das Mütterchen kann und kann nicht begreifen,
Warum so viel Stoff,
Solch ein mächtiger Streifen
Über der Straße hängt.
Sie schüttelt den Kopf und denkt:
„Viele Fußlappen wärens für unsere Kleinen,
Die vor Kälte weinen…“

Wie ein Huhn trippelt sie
Den Schneedamm hinab.
„Muttergottes, diese Bolschewiki
Bringen uns noch ins Grab!“

Der Wind peitscht den Frost
Vor sich hin.
Der Bürger dort drüben versteckt erbost
In dem Kragen Nase und Kinn.

Und wer ist denn der da? Mähneschüttelnd steht er
Und murmelt:
„Verräter,
Ihr habt Rußland zugrunde gerichtet…“
Sicher einer, der Reden schwingt – oder dichtet.

Und jener in der Kutte,
Um Schneewehn schleichend, schlaff –
Wie ist dir heut zumute,
Genosse Pfaff?

Sag, denkst du noch daran,
Wie fett du warst? Und auch
Ans Kreuz, das jedermann
Sah schmücken deinen Bauch?

Und die da, karakulkraus,
Sagt zu der da leis:
„Damals weinte das ganze Haus!“
Und – bauz! –
Fällt aufs Eis.

Ach, och,
Helft ihr doch!

Wie lustig, wie dreist
Ist der Wind,
Der an Röcken reißt
Und Passanten mäht
Und das Riesenplakat
Alle Macht dem Verfassungsrat!
Bald knittert, bald bläht
Und ins Ohr Redefetzen weht:

„Auch bei uns gabs genau
So ’nen Rat, dort im Bau:
Erst Diskussion,
Dann Resolution –
Die Nacht fünfundzwanzig, die Stunde zehn.
Wie wärs nun mit Schlafengehn?“

Spät ist die Stunde,
Die Straße leer.
Ein Vagabund
Schleicht krumm umher.
Der pfeifende Wind geht rund.

Komm doch ran,
Armer Hund,
Küssen wir uns zum Gruß…

Hast du Brot?
Ahnst du, was kommt?
Geh weiter, schon gut.

Himmel, schwarz wie Ruß.
In der Brust aber loht
Eine traurige Wut,
Eine schwarze, heilige Wut.
Genosse,
Sei auf der Hut!

2
Es kreist der Wind, Schneeflocken tanzen.
Zwölf, die marschieren im Gemäuer.

Gewehre, schwarze Riemen, Ranzen.
Und ringsum Feuer, Feuer, Feuer.

Aus dem Munde qualmt es, zerknittert die Mützen.
Ein Karo-As auf den Rücken den Schützen!

Freiheit, Freiheit.
Ach, ach, sieh da:
Ohne Kreuz!
Tra-ta-ta, tra-ta-ta.

Hundekalt, Genossen…

„Katjka, mit der Wanjka in der Kneipe sumpft,
Hat Kerenski-Scheine sich eingestrumpft!“

„Und Wanjka, der selbst nun viel Rubel hat,
War mal unsereiner und ist jetzt Soldat!“

„Los, Wanjka, Bürger, reicher Hund,
Küß mal die Meine auf den Mund!“

Katjka macht dem Wanjka Spaß,
Wanjka nimmt an Katjka Maß,
Haben nun
Viel zu tun –
Aber was?…

Freiheit, Freiheit.
Ach, ach, sieh da:
Ohne Kreuz – tra-ta-ta, tra-ta-ta.

Ringsum Feuer, Feuer, Feuer.
Riemen, Ranzen, Stadtgemäuer…

Revolutionäre, marschiert vereint!
Es schläft nicht der rastlose Feind!

Faß das Gewehr, sei kein Hasenfuß!
Genosse, schieß auf die heilige Rusj,

Auf die reckengleiche,
Auf die hüttenreiche,
Auf die kugelhintrige!

Ach, ach, ohne Kreuz!

3
Unsre Jungen traten
In die Rote Garde ein,
Wolln als Rotgardisten ihren
Tollen Kopf verlieren.

Ach, du Not, wie lebt man jetzt?
Alles geht verquer.
Mantel überall zerfetzt.
Österreichisches Gewehr.

Den Burshius zum Unglück wollen
Einen Weltbrand wir entrollen,
Einen Brand im blutigen Meer –
Gib uns deinen Segen, Herr!

4
Schnee und Schnee. Es schreit der Kutscher
Katjka schmecken Wanjkas Knutscher.
Ein elektrisches Laternchen
An der Schlittendeichsel dran –
Ach, ach, sieh mal an!

Wanjka, im Soldatendreß,
Lächelt dämlich, zwirbelt keß
Seinen schwarzen Schnurrbart,
Dreht am Schnurrbart ohne Ruh
Und reißt Witze immerzu.

Seht den Wanjka, den Athleten!
Hört den Wanjka zärtlich flöten!
Der umhalst die Närrin Katjka,
Der ist ihr der Richtige.
Katjka kippt zurück, wird heiß,
Zähne blitzen perlenweiß.
Ach, du Katjka, meine Katjka,
Meine rundgesichtige…

5
Hast an deinem Halse, Katjka,
Eine Spur vom Messerstich.
Unter deinen Brüsten Katjka,
Brennt ein frischer roter Strich.

Ach, ach, tanze, lach!
Beine hast du – eine Pracht!

Trugst mal teure Spitzenwäsche,
Wie ’ne Dame von Geburt,
Hast am liebsten mit den feschen
Offizieren rumgehurt.

Ach, ach, laß nicht nach!
(Herz, nicht rasen – immer sacht!)

Denkst du, Katjka, noch an jenen
Offizier, den man erstach?
Schon vergessen, du Hyäne?
Bist wohl von Gedächtnis schwach?

Ach, ach, mach es wach!
Bleib bei mir von acht bis acht!

Liefst in grauen Wollgamaschen,
Fraßest Mignon-Schokolade –
Junker hatten offne Taschen.
Und nun schläfst du mit Soldaten?

Ach, ach, sündge, mach
Keine Sorgen uns heut nacht!

6
Und wieder rast der Schlitten wild
Den Zwölf entgegen. Der Kutscher brüllt.

Halt, halt, Andrjucha! Hilf, spring ran!
Petrucha, halt sie hinten an!

Trach – tararach – tach – tach – tach – tach!
Der Schnee stiebt auf zum Himmelsdach.

Fort ist der Schlitten mit dem Mann.
Nur einen Schuß noch! Spann den Hahn!

Der Kerl soll wissen, wie es ist,
Wenn man ein fremdes Mädchen küßt.

Weg ist der Schuft. Na warte, Mann,
Dann kommst du eben morgen ran.

Wo steckt die Katjka? Tot! Ein Mord!
Der Schuß hat ihr den Kopf durchbohrt.

Du sagst nichts, Katjka? Machts dir Spaß?
Ist gut, bleib liegen, faules Aas.

Revolutionäre, marschiert vereint!
Es schläft nicht der rastlose Feind.

7
Zwölf Gardisten schreiten weiter
Mit geschultertem Gewehr.
Das Gesicht des armen Mörders
Bleich und blaß, die Augen leer.

Petjkas Schritt wird immer schneller,
Petjka denkt an Katjka stur,
Zieht in einer Tour am Halstuch,
Zieht am Tuch in einer Tour.

„Was ist los, Petrucha? Bist doch
Sonst kein Kind der Traurigkeit?
Halt die Nase hoch, Petrucha,
Oder tut dir Katjka leid?“

„Hab mich Katjka glatt verschrieben,
War noch nie so liebeskrank.
Kurzweil haben wir getrieben
Schwarze, trunkne Nächte lang.

Feuerblick – zum Kopfverdrehen,
Ein verwegnes Augenpaar,
Eine Schulter, wo ein rundes
Rotes Mal zu sehen war!
Darum bracht ich Tunichtgut
Katjka um in blinder Wut.“

„Schluß mit deinem Leierkasten,
Faselst wie ein Weib drauflos.
Mußt du schon dein Herz entlasten,
Tus, doch merk dir eines bloß:
Sei mal stolz, red keinen Schund,
Kontrolliere deinen Mund!

Uns mit dir herumzuplagen,
Fehlt uns heute Lust und Zeit,
Haben Schwereres zu tragen.
Hörst du? Weißt du nun Bescheid?“

Ruhiger, mit hellrem Blick
Stampft Petrucha durch die Nacht…
Plötzlich kratzt er sein Genick,
Wirft den Kopf zurück und lacht.

Ach, ach,
Ist es Sünde, wenn ich lach?

Schließt die Fenster, sperrt die Türen,
Heut wird überall geklaut!
Hütet eure Keller, schaut:
Heute geht die Not spazieren.

8
Ach du böses Pech,
Ach du tödliche
Langeweile!
Doch ich werd mir die Zeit
Schon vertreiben, vertreiben,
Aus den Augen die Schläfrigkeit
Reiben, reiben,
Sonnenblumensamen
Knacken, knacken,
Mit dem Messer
Hacken, hacken,

Schwirr, Burshui, wie ein Sperling fort,
Sonst begeh ich einen Mord
Für die Dunkelbrauige,
Für die Funkeläugige…

Herr, gib ewige Ruhe der Seel deiner Magd…
Wie langweilig!

9
Kein Straßenlärm ist mehr zu hören,
Am Newski-Turm kehrt Ruhe ein.
Kein Schutzmann wird euch Jungens stören,
Geht aus, doch ohne Schnaps und Wein.

Ein Bürger. Tief im Kragen stecken
Das Kinn, die Nase und der Mund.
Und dort ein Hund. Das Fell voll Zecken.
Ein herrenloser Hungerhund.

So steht der Bürger, hundemüde,
Stumm wie die Frage, die er stellt.
Mit schlaffem Schwanz, ein räudiger Rüde,
Steht hinter ihm die alte Welt.

10
Winde gehen, Winde wehen,
Schneesturm fegt – o weh!
Auf vier Schritt kein Mensch zu sehen.
Nichts als Schnee.

Trichtersteiles Schneegewimmel,
Säulen steigen auf zum Himmel.

„Gott der Herr, ist das ein Wetter!
Petjka, lüg doch nicht so wild,
Sag, wieso ist es dein Retter,
Gottes goldnes Bild?
Dir geht ab der Klassengeist,
Weil du immer noch nicht weißt:
Wegen Katjkas Liebesglut
Klebt an deinen Händen Blut.

Marschier mit uns im Gleichschritt, Freund!
Nah ist dein rastloser Feind!“

Vorwärts, vorwärts! Angetreten,
Ihr Proleten!

11
Kein Name ist ihnen heilig.
Sie sind zu allem bereit.
Zwölf Männer marschieren eilig.
Die Zwölf ohne Mitleid und Leid.

Ihre zwölf Gewehre zielen
Auf den unsichtbaren Feind.
Seht, wie sie nach Gassen schielen,
Wo das Schneegestöber greint,
Wo die weichen Schneewehn blinken,
Wo die Stiefel tief versinken.

Den Blick entfacht
Die rote Fahne,
Der Marschschritt kracht
Auf ihren Bahnen.

Der Feind erwacht
In bösem Ahnen.
Und des Schneesturms Flockenjagd
Stäubt ins Auge
Tag und Nacht.

Vorwärts, vorwärts! Angetreten,
Ihr Proleten!

12
Und sie schreiten schwer, gemessen.
„Wer ist dort? Halt! Komm heraus!“
Nur der Wind, der wie besessen
Ihre rote Fahne zaust.

Vorn: nur eisigkalte Wehen.
„Wer da hockt, laß sich mal sehen!“

Bettelhund, vor Hunger schwach,
Trottet hintennach.

„Scher dich fort, du Hunderäude,
Weg vom Bajonett, es sticht!“
„Alte Welt, Hund ohne Freude,
Ab mit dir, ich spaße nicht!“

Hungerwolf fletscht seine Zähne,
Kneift den Schwanz ein, geht nicht fort.
Ein Verlorner, Halberfrorner.
„He, gib Antwort! Wer ist dort?“

Übersetzt von Alfred Edgar Thoss

 

 

Alexander Block in unseren Tagen

Ja, als ich die erhabene Flamme der Liebe in mir trug, die aus den immer gleichen einfachen Elementen geschaffen war, aber einen neuen Inhalt, neuen Sinn erhalten hatte, weil die Träger dieser Liebe Ljubow Dmitrijewna und ich waren – „ungewöhnliche Menschen“; als ich jene Liebe in mir trug, von der man auch nach meinem Tode in meinen Büchern noch lesen wird, – liebte ich es, im armseligen Dorf elegant zu reiten auf einem schönen Pferd; liebte ich es, einen armen Bauern nach dem Weg zu fragen, welchen ich ohnedies wußte, um „vornehm zu tun“, oder ein hübsches Weiblein, daß wir einander flüchtig anblitzten mit den weißen Zähnen, daß es zuckte in der Brust ohne einen Grund, von nichts, außer etwa der Jugend, dem feuchten Nebel, ihrem sonnverbrannten Blick, meiner gestrafften Taille, – und das störte diese erhabene Liebe nicht im mindesten (war es so? Und wenn die späteren Abstürze und Wurmstiche von dort herrührten?), im Gegenteil – fachte die Jugend an, die pure Jugend, und mit der Jugend in eins loderte jene erhabene „andere“ Flamme auf…
Tagebuch 6. Januar 1919

I
Die europäische Unruhe der Jahrhundertwende gewann in Rußland ihre einzigartige Radikalität durch die Verlagerung des revolutionären Weltzentrums und die Vorboten der Revolution von 1905 bis 1907 und führte in allen Künsten zu neuen Entdeckungen. Der Realismus, den Maxim Gorki, Iwan Bunin und Leonid Andrejew schrieben, begann schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die russische und die Weltliteratur unübersehbar zu beeinflussen. Zur gleichen Zeit traten Schriftsteller auf, die angesichts der veränderten Weltsituation diese Erneuerung des Realismus mit Skepsis beobachteten und andere Wege suchten – die russischen Symbolisten.
Der russische Symbolismus war eine Kunst der Synthesen. Die Veränderung, die er in der russischen Kultur bewirkte, ist auf die eigentliche kunstgeschichtliche Phase von 1895 bis 1910 nicht zu beschränken. Andrej Belys „Petersburg“ und Fjodor Sologubs „Der kleine Dämon“ oder Alexej Remisows ornamentale Geschichten in der Prosa, Alexander Block und Inokenti Annenski in der Lyrik, Wsewolod Meyerhold und Vera Kommissarshewskaja auf dem Theater, das russische Ballett, Michail Wrubel in der Malerei und Alexander Skrjabin in der Musik – sie alle verursachten Umwälzungen, ohne die die sowjetische Kunst undenkbar wäre und deren Tragweite bis heute erkundet wird.
Weit besser als diese Kunst der Synthesen kennen wir die Kunst der Analysen, jene 1910 einsetzende mächtige Leidenschaft des Zerlegens und Zerfällens, die selbst noch die ästhetischen Verfahren und Materialien zum Gegenstand ihres Entzückens machte. Die Unvermeidlichkeit dieses Sturms der Analyse, den die Visionäre der Zergliederung entfesselten – Welemir Chlebnikow, Wladimir Majakowski, Sergej Eisenstein, Sergej Tretjakow, Juri Tynjanow und Juri Olescha: jeder auf seine Art –, begreift man aber nicht, wenn man die Welt-Synthesen nicht kennt, die ihm vorausgingen. Die Analysen reagierten nämlich kraft neuer revolutionärer Erfahrungen und Funktionsideale kritisch auf die Welteinheit in den Synthesen der Symbolisten, und es ist kein Wunder, daß sich bei Block nach 1910 ein deutlicher Wandel im Synthese-Begriff vollzieht.
Die Anstrengungen der russischen Symbolisten richteten sich vor allem gegen ein simples Nacherzählen der Welt, das sich mit der Ausbreitung von echtem Milieu, von tatsächlichen Zuständen und Vorkommnissen begnügte. Diese Sicht entsprach freilich in keiner Weise der tatsächlichen Leistung der neuen Realisten, die den revolutionären Umbruch nicht nur sozialkritisch sichteten, sondern sozialpädagogisch förderten.
Die Symbolisten suchten nach einer Authentizität kosmischer Art: Der Text sollte im Zusammenstoß der Andeutungen, Analogien und Suggestionen den kosmischen Zusammenhang aller Erlebnisse des modernen Menschen herstellen. Ob aber das gewonnene Symbol des Zusammenhangs allein die Vorstellung des einzelnen Bewußtseins sei oder vielmehr Wiedergabe eines Objektiven, darüber ist es im Laufe der fünfzehn Jahre mehrfach zum Streit gekommen, denn von dieser Entscheidung hing sowohl die Kunstauffassung wie der Begriff der Welt-Synthese ab. Als die Dichter 1910 den Zustand des Symbolismus besprachen, prallten die beiden Auffassungen noch einmal scharf aufeinander. Valeri Brjussow verteidigte den Symbolismus als pure Kunst gegen Wjatscheslaw Iwanow und Alexander Block, die mit dem Symbolismus über die Kunst hinaus strebten – „andere Welten schauten“.
Es konnte so aussehen, als vertrete Brjussow hier die Autonomie der Kunst, während seine Gegner, wie er argwöhnte, sie der Religion unterwerfen wollten. Tatsächlich hat gerade Brjussow als Dichter, als Übersetzer, Redakteur und Organisator des Symbolismus für die Emanzipation der Kunst und die Aufnahme der zeitgenössischen westeuropäischen Künste, besonders des französischen Symbolismus, so viel getan, daß ihn Nikolai Gumiljow schon 1910 den Peter den Großen der russischen Kultur nennen durfte. Aber eigentlich ist es doch nicht darum gegangen. Das entscheidende Problem des Streits war das Verhältnis von Kunst und Dichterleben. War die Welt-Synthese Kunst oder Leben? Block 1910:

Ich stehe vor der Schöpfung meiner Kunst und weiß nicht, was ich tun soll. Anders gesagt: was ich mit diesen Welten tun soll, was ich auch mit dem eigenen Leben tun soll, das von nun an Kunst geworden ist, denn seine Schöpfung lebt neben mir – nicht lebendig, nicht tot, eine blaue Vision. Klar sehe ich das „Wetterleuchten zwischen den Brauen der Wolken“ des Bacchus („Eros“ von Wjatscheslaw Iwanow), klar unterscheide ich die Perlmutter der Flügel (Wrubel – „Der Dämon“, „Die Schwanenprinzessin“) oder höre das Rascheln der Seide („Die Unbekannte“). Doch all das ist Vision.
Bei dieser Lage der Dinge erheben sich die Fragen nach dem Fluch der Kunst, nach der „Rückkehr zum Leben“, nach dem „gesellschaftlichen Dienen“, nach der Kirche, nach „Volk und Intelligenz“. Das ist eine ganz und gar natürliche Erscheinung, die freilich dem Symbolismus innewohnt, denn es ist die Suche nach dem verlorenen goldenen Schwert, das das Chaos aufs neue durchbohrt, die tosenden violetten Welten ordnet und besänftigt.
Der Wert dieses Suchens liegt darin, daß es die Objektivität und Realität „jener Welten“ augenfällig macht; hier bestätigt sich, daß all die Welten, die wir besuchten, und all die Geschehnisse, die sich darin abspielten, keineswegs „unsere Vorstellungen“ sind, das heißt, daß die „These“ und die „Antithese“ bei weitem nicht nur von persönlicher Bedeutung sind.

Alexander Blocks Welt-Synthesen gehören hier sicher zu den bemerkenswertesten und gefährdetsten: Sie sind ausschließlich das Werk eines Lyrikers. Während alle anderen Symbolisten immer wieder gelehrte Texte schrieben (manchmal beachtlichen Umfangs wie Brjussows Puschkin-Studien, Iwanows Dionysos-Abhandlung, Belys Gogol-Monographie oder Mereshkowskis Tolstoi- und Dostojewski-Darstellungen), blieb Block Lyriker, was er auch unternahm. Seine Dramen, seine Prosa, seine Briefe, selbst seine Darstellung über die letzten Tage des Zarenreichs sind die eines Lyrikers, und der Versuch, ein erzählendes Poem mit Milieu und Fabel zu schreiben, blieb ein Fragment. In seiner Prosa „Kunst und Zeitung“ ist nachzulesen, wie er vom Dichter fordert, in der Sprache der Poesie auch für die Zeitung zu schreiben. Und Wjatscheslaw Iwanow meinte diese Leistung des Lyrikers, als er im Januar 1921 von Block sagte:

Im Umgang ist seine Rede so einfach, scheinbar bringt er keine zwei Worte zusammen, aber in seinen Gedichten weiß er intuitiv Sachen von dir, so intime Erlebnisse, die kein anderer weiß.

Die Skepsis, die tiefe Abneigung, die Block in immer neuen Anfällen gegen das Lyrische hegte, zeigt, wie bewußt er sich der Gefahren war. Daß Block bis zum Schluß so großen Wert auf die Zyklisierung seines gesamten Werks, von kleinen Einheiten bis zur Trilogie, legte und viele Male Großformen ins Auge faßte, wie „Der Nachtigallengarten“, „Vergeltung“ oder „Rose und Kreuz“, hängt mit der Suche nach bändigenden Strukturen für Taumel und Gewalt des Lyrischen zusammen. Aber diese vollkommene Übertragung der Menschheitskultur in die Sprache des Gedichts verlieh Blocks Poesie die einzigartige Bezauberung. Man könne von Block sagen, schrieb Ossip Mandelstam 1922, er sei der Dichter der „Unbekannten“ und der russischen Kultur. Nicht daß die „Unbekannte“ und die „Schöne Dame“ Symbole der russischen Kultur seien, „aber das gleiche Verlangen nach Kult, das heißt nach einer zweckvollen Entladung poetischer Energie, leitete sein Schaffen im Thematischen und genoß ihren höchsten Augenblick im Dienst an der russischen Kultur und der Revolutions. Block hielt die Last seiner Welt-Synthesen „im Schweben von Bagatellen“, wie es im Juni 1909 in einem seiner italienischen Gedichte steht:

Die Kunst – Last, auszutragen, die die Schultern drückt.
Und doch – wie halten wir, die Dichter, uns im Schweben
Von Bagatellen, die das Leben tauscht, entzückt.
Wie süß, dem freien Nichts der Zeit sich hinzugeben
Mit Nichtstun, spürn im Leib das Blut
Singend wenden,
Sich – hinter einem Federwölkchen – Glut,
Die rote Lieb, erhaschen mit den Händen.

Die Glut erhaschen mit den Händen: Der Dichter befreie die Klänge aus dem Chaos, füge sie zur Harmonie und trage diese Harmonie in die Welt. Blocks ständige Sorge ist das Tagebuch seines Weges, die Trilogie der Menschwerdung, wie er seine drei Bücher Gedichte nennt, deren Abteilungen und Texte er viele Male umstellte und änderte. Die peinlich genaue Datierung und wechselnde Anordnung baut eine ausgedehnte, an Gegenden reiche Welt voll Wahnsinn und Vergessen, voll Heiterkeit und geheimer Freiheit: seine Welt-Synthese: vom Augenblick des überhellten Lichts an – durch den unumgänglichen sumpfigen Wald – zu Verzweiflung, Flüchen, ,Vergeltung‘ und… zur Geburt eines Menschen, der ,gesellschaftlich‘ ist, eines Künstlers, der der Welt mannhaft ins Gesicht blickt.
Entscheidend war die Vorstellung von der Zeit. Die Trilogie der Menschwerdung meint kein Nacheinander, und, die Ansiedlung der Gedichte in der Kalenderzeit bekräftigt nur deren Entmachtung. Die Poesie vertilge die Kalenderzeit, die etwa technische Fortschritte einander ablösen läßt. Poesie folge jener anderen Zeit, die Block die musikalische nennt.
Musikalische Zeit meint – in größeren Zeiträumen empfinden, denken, leben: Die Catilinischen Verschwörungen im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sind eine Seite in der Geschichte der Weltrevolution, und der Sieg über die Tataren in der Schlacht auf dem Kulikowo-Feld am 7. und 8. September 1380 ist ein Ereignis in der russischen Volksseele von heute. Musikalische Zeit meint – Tatsachen aus allen Lebensbereichen, die dem Dichter in einem bestimmten Augenblick zugänglich sind, zueinanderordnen: Alle zusammen schaffen immer einen einheitlichen musikalischen Stoß. Musikalische Zeit meint – Leben jenseits des eingetretenen Kalendertags. Nicht in der Vernachlässigung des unansehnlichen Alltags vor dem strahlenden Feiertag der Zukunft. Sondern die Empfindungen ausbildend für jeden kommenden Umbruch in Stimmung, Haltung, Lebensart.
Was hier für ein Jahr oder für Jahrtausende gilt, galt Block ebenso für jeden Tag und für die Welt überhaupt. Es war die Einheit der Welt, die er auf seine Weise beschrieb – wie hier 1921 in der Puschkin-Rede „Über die Bestimmung des Dichters“:

In den bodenlosen Tiefen des Geistes, wo der Mensch aufhört, Mensch zu sein, in Tiefen, die den Geschöpfen der Zivilisation, – dem Staat und der Gesellschaft – unzugänglich sind, schweben Klangwellen, die gleich den das ganze Weltall umfangenden Ätherwellen sind, dort kommt es zu rhythmischen Schwankungen, ähnlich jenen Prozessen, die Gebirge, Winde, Meeresströmungen, Pflanzen und Tiere hervorbringen.

Musik als Urgrund der Welt und Lyrik als unmittelbar abhängig vom Geist der Musik zu sehen war im Rußland des beginnenden 20. Jahrhunderts ohne Friedrich Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und ohne Richard Wagners Musik nicht denkbar. Block hat das 1900 russisch erschienene Buch des deutschen Philosophen 1906 gelesen und lange Passagen mit Genugtuung herausgeschrieben. In seinem Aufsatz „Die Dichtung der Beschwörungen und Zaubersprüche“ von 1906 zitiert Block als Bekräftigung seines frühen Synthese-Begriffs, der Auffassung von der Ungeschiedenheit von Wort und Tat in der Beschwörungsorgie, aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den Satz, der die bannende Macht des Rhythmus in der Mythologie erläutert:

… ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.

Der Kontext bei Nietzsche ist allerdings eher abfällig. Er fährt fort:

Ein solches Grundgefühl läßt sich nicht mehr völlig ausrotten – und noch jetzt, nach jahrtausendelanger Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus…

Blocks Nietzsche- und Wagner-Bild sind genausowenig bekannt wie seine Beziehung zur deutschen Romantik, etwa Novalis – fest steht aber, daß er die beiden Freundfeinde mit Ibsen und Strindberg als Kronzeugen für seine Ansicht anrief, daß der deutsche und der skandinavische Geist neben dem russischen Geist die größten Opfer im Kampf mit den Gegnern der Elementarkräfte gebracht habe.
Die Oktoberrevolution, die Block, seinen Welt-Synthesen entsprechend als Teil eines Jahrtausendereignisses – des Anbruchs einer neuen Menschheitszeit –, nicht mit der Französischen Revolution, sondern mit den Anfängen des Christentums verglich, ermunterte ihn, Ahnungen und Gewißheiten deutlicher auszusprechen, von denen seine Trilogie der Menschwerdung längst getragen gewesen war und die Block in einem neuen Augenblick überhellen Lichts 1918 in die „Zwölf“ geschrieben hat, sein sowohl offenstes wie verschlossenstes Gedicht. Blocks nachrevolutionäre lyrische Prosa befragte die Synthese der „Zwölf“, versuchte eine Rückannäherung, die Wiedergewinnung der nur kurz behaupteten (ertragenen?) Höhe. Sie entwarf mit der musikalischen Zeit in der Geschichte, mit dem Vergeltungsgedanken, mit dem Zusammenbruch des Humanismus und seiner Ablösung durch die Welt des Künstler-Menschen die Aussicht einer artistischen Sensibilisierung für die wirklichen Vorgänge in der Welt, die der neuen Menschheitszeit entsprechen sollte.

2
Blocks unmittelbar anschauendes Weltverhältnis meidet alle vereinzelnden Zugänge zur Welt, um mit einemmal den Blick auf das Ganze, die Empfindung des Ganzen, das Symbol des Ganzen zu gewinnen – den Geist der Musik, die rhythmischen Schwankungen in der Tiefe. So sind seine Gewißheiten zu verstehen: „In unseren Herzen hat der Seismographenzeiger bereits ausgeschlagen“ (1908). „Mit jeder Faser des Körpers und des Herzens, mit dem ganzen Bewußtsein hört die Revolution.“ (1918)
Das Gleichgewicht von Geistigkeit und Körperlichkeit hielt Block für die Grundvoraussetzung des Lebens in der neuen Zeit. Die Kräftigung des Leibs sah er in einem Wechselverhältnis zur Kräftigung der poetischen Strukturen. 1910 und 1911, als er an dem Poem „Vergeltung“ arbeitete, waren „musikalisches und Muskelbewußtsein“ eins. Wie bei ständiger Handarbeit eine rhythmische Ausbildung der Muskeln an den Armen, dann auf der Brust und auf dem Rücken erfolge, so sollte der Rhythmus des Poems entstehen. Der Verlust des physischen und geistigen Gleichgewichts beraube einen unweigerlich des musikalischen Gehörs, der Fähigkeit, aus der Kalenderzeit, dem über die Welt nichts aussagenden Gang der historischen Tage und Jahre auszubrechen und in jene andere, nicht meßbare Zeit vorzudringen.
Der Ausbruch aus der Kalenderzeit erscheint in Blocks Dichtung als das Wagnis und die Aufgabe der angebrochenen Menschheitszeit. Kalenderzeit war für Block die chronologisch vereinzelnde Folge der Ereignisse, das Genügen am Tage, die Welt ohne ihren kosmischen Zusammenhang. Kalenderzeit war für Block ein positivistisches Aufhäufen von Details, aus dem er in die musikalische Zeit der Geschichtlichkeit ausbrechen mußte. Der Dichter dringe in die musikalische Zeit vor, indem er das Gefühl für seinen Weg ausbilde. Im Februar 1909, wenige Monate bevor in Italien das Gedicht „Die Kunst – Last, auszutragen“ entstand, beschrieb Block in seiner Prosa „Die Seele des Schriftstellers“ den Zusammenhang von Weg und Zeit in seiner Kunst:

Nur wenn solch ein Weg erkennbar ist, läßt sich der ,Takt‘ des Schriftstellers, sein Rhythmus bestimmen. Nichts ist gefährlicher als der Verlust dieses Rhythmus. Die fortwährende Anspannung des inneren Gehörs, das Lauschen auf eine wie aus der Ferne vorüberklingende Musik ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Schriftstellers. Nur wer die Musik des fernen ,Orchesters‘ (und das ist eben das ,Weltorchester‘ der Volksseele) vernimmt, kann sich ein leichtes ,Spiel‘ erlauben.

Block meinte damit besonders die Sensibilität für Beschleunigung und Verkürzung in der Geschichte. 1910 betonte er, daß die Russen in den vergangenen zehn Jahren mehr durchgemacht hätten als andere in hundert Jahren.
Was Block hier aussprach, war schon die Erfahrung aus seiner Trilogie der Menschwerdung. Wer sich dem „,Weltorchester‘ der Volksseele“ stellt, kennt weder Zuflucht noch Geborgenheit. Das „leichte ,Spiel‘“( war von der Art, die Block im Gedicht „O dies Spiel“ vom 18. Dezember 1913 vortrug: Der Dichter als der ewig Erblickte, der nicht weiß, wessen Blick ihn trifft. Dies die vierte und die sechste der neun Strophen:

Nichts quält schlimmer als dies Ungefähr!
O das Graun des Blicks, den man nicht fängt,
Der uns schamlos einkreist und bedrängt:
Doch wer ists, der uns belauert, wer?

Dieser Blick, ob bös, ob gut gesinnt –
Besser wärs, er nähm uns nie zum Ziel!
Zuviel fremde Kraft, die in uns spinnt,
Unerforschter Energien Spiel…

Blocks Ausbruch aus der Kalenderzeit befestigte in der russischen Literatur einen Begriff von Zeitgenossenschaft, der die Stunde des Dichters immer als die Stunde Rußlands und die Stunde der Menschheit nahm. Block liebte es, sich mit etwas so Unfaßbarem wie der Atmosphäre der Epochen – „Unerforschter Energien Spiel…“ zu befassen, weil er selber die Atmosphäre seiner Epoche so stark empfand. Denn was waren ihm seine Dichtungen anderes als das Ausschlagen des Seismographenzeigers in einer Epoche der Stürme und Katastrophen. Je sensibler ein Dichter sei, hieß es in der Catilina-Prosa, um so unzertrennter empfinde er Eigenes und Nicht-Eigenes. Daher seien die zartesten und intimsten Sehnsüchte der Seele des Dichters in Zeiten der Stürme und Katastrophen übervoll von Sturm und Katastrophe.
Das Vordringen in die musikalische Zeit befreit den Dichter aus dem Wust des aktuell Tatsächlichen, das die wirklichen Vorgänge verdeckt. Gegenstand bleiben die Sehnsüchte und Erschütterungen der Seele oder, wie Block in seiner Wagner-Prosa schrieb, „das rettende Gift der schöpferischen Widersprüche“. Die bedeutendste Äußerung über die Catilinischen Verschwörungen als ein Zeichen für den Zusammenbruch einer Epoche fand Block daher auch in dem Gedicht Catulls „Attis“, dessen Gelegenheit in nichts an die aktuellen geschichtlichen Vorkommnisse erinnert, das aber in den Galliamben, dem Versmaß der rasenden Orgientänze, den ungleichmäßigen, hastigen Schritt des Verdammten, den Schritt des Revolutionärs, des römischen „Bolschewiken“, in dem der Sturm des Zorns klingt, überdeutlich zu erkennen gebe.
Die Betonung liegt nicht auf der Parallele von Catilina und Catull, sondern auf der Ankündigung des Sturms in Tat und Gedicht. Nur so auch sind Blocks Dichtungen zu verstehen. Übervoll von Sturm und Katastrophe, sind sie nicht einfach Zeugnisse eingetretener Revolutionen, sondern Zeugnisse der ungeheuren schöpferischen Widersprüche einer neuen Zeit, welche sie in ihren Anfängen noch kaum zu benennen weiß.
Mit dieser unerschrockenen Annahme und dem offenen Austrag des Kampfs der Gegensätze in seiner Dichtung wurde Block auch für sowjetische Dichter bestimmend, die seiner Poetik nicht folgten. Für Ossip Mandelstam, der ihn einen Mann des 19. Jahrhunderts nannte, aber seine Sensibilität für die unterirdische Musik der russischen Geschichte als einzigartig pries. Für Anna Achmatowa, die seine symbolistische „Sternenarmatur“ nicht mochte, aber ihn als „Tschelowek-Epocha“ bezeichnete. Für Boris Pasternak, der die romantische Vorstellung vom Dichterleben verwarf, in dessen Rückschau auf die Revolution nach vierzig Jahren aber unüberhörbar Blocksche Töne klingen:

In diesem bedeutsamen Sommer 1917, zwischen den beiden Daten der Revolution, schien es, als versammelten sich und redeten auf den Meetings auch Bäume, Wege und Sterne. Die Luft schien kilometerweit erfüllt von flammender Inspiration, sie schien Persönlichkeit geworden, beim Namen zu nennen, beseelt und sehend.

Aber ebenso für die Prosa. Für Isaak Babel, Michail Bulgakow, Andrej Platonow und Maxim Gorki, dessen nachrevolutionäre Prosa ohne die Auseinandersetzung mit Block, Bely und Sologub nicht denkbar ist.
Was sie mit Block verbindet, sind ihre Vorstellungen von Zeit und Kunst, ihre neuen Welt-Synthesen, deren Voraussetzungen Ossip Mandelstam in der Woronesher Zeit mit einer Gefahrenwarnung benennt:

Wenn ein Schriftsteller es für seine Pflicht hält, koste es, was es wolle, ,das Leben tragisch zu sagen‘, aber auf seiner Palette keine tiefen kontrastierenden Farben besitzt und vor allem das Gefühl für das Gesetz nicht hat, nach dem das Tragische, auf welch kleinem Abschnitt es immer entstehe, sich unweigerlich in ein allgemeines Bild der Welt einfügt – bringt er nur ,Halbfabrikate‘ von Schrecken und Borniertheit hervor, Rohmaterial, das Ekel erregt und bei der wohlmeinenden Kritik den zärtlichen Namen ,Milieu‘ trägt.

3
Blocks Revolutionsverständnis war an sein Vergeltungsdenken gebunden. Weder seine bedingungslose Annahme des Oktober noch seine spätere Klage über das Verstummen der Musik der Revolution sind außerhalb dieses Zusammenhangs zu begreifen. Soziales Verhalten, geistige Produktivität, schöpferische Widersprüche leiteten sich für ihn nie aus ökonomischen Besitzverhältnissen und politischen Entscheidungen her. Block verstand die Revolution als verdiente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit und verteidigte sie gegen die sklavischen Ängste, gegen den Krämerstil der russischen Intelligenz. Er schloß aber, Alexander Herzen folgend, die Bourgeoisie aus dieser historischen Kette aus. Weder durch liberalen Humanismus noch Sentiments, noch politische Ökonomie dürfe das hohe, kalte und zornige Wissen um die soziale Ungleichheit erniedrigt werden. Der Bourgeois wird als unschöpferisch verteufelt. Die realgeschichtlichen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat spielen für Block keine Rolle. Die Bolschewiki waren für ihn eine Zeitlang etwas viel Größeres als eine politische Partei, und Lenin akzeptierte er nicht als Marxisten, sondern als einen russischen Revolutionär, der das Vermächtnis Bakunins und der russischen Bauernaufstände vollstreckte. In einem Brief vom Februar 1909 hat Block die Kräfte benannt, die seiner Meinung nach mit Elementargewalt zur Revolution drängen:

Der gegenwärtige russische Staatsapparat ist natürlich mieses, geiferndes, stinkendes Alter, ein siebzigjähriger Syphilitiker, der mit einem Händedruck die gesunde Jünglingshand infiziert. Die russische Revolution ist in ihren besten Vertretern – Jugend mit einem Nimbus rings um das Gesicht. Auch wenn sie noch nicht ausgereift ist, auch wenn sie oft knabenhaft unweise ist – morgen ist sie erwachsen. Das ist doch klar wie der helle Tag.
In den Fragmenten russischer Literatur von Puschkin und Gogol bis Tolstoi, in den Seufzern der gemarterten russischen Demokraten des 19. Jahrhunderts, in den hellen und unbestechlichen, den
nur vorübergehend getrübten Blicken der russischen Bauern ist uns eine gewaltige (nur noch nicht in den eisernen Ring des Gedankens gefaßte) Konzeption eines lebendigen, mächtigen und jungen Rußlands vermacht. Wenn irgendwo diese Vermächtnisse bewahrt werden, dann natürlich nicht in den Herzen der ,Realpolitiker‘ (selbst nicht der realsten und lebendigsten von ihnen – der Kadetten), nicht im stolypinschen, nicht im romanowschen – sondern in jenen Herzen nur, die beunruhigt und geöffnet sind, in den Gedanken, die diese Konzeption in sich aufnehmen wie frische Luft.
Wenn etwas lebenswert ist, dann das. Und wenn wo ein solches Rußland ,heranreift‘, dann natürlich – nur im Herzen der russischen Revolution im weitesten Sinn, einschließend die russische Literatur, Wissenschaft und Philosophie, den jungen Bauern, der sich zurückhaltend Gedanken macht ,immer über das gleiche‘, und den jungen Revolutionär mit dem vor Wahrheit strahlenden Gesicht, und überhaupt alles Unangepaßte, Zurückgehaltene, Gewittrige, mit Elektrizität übersättigte. Diesem Gewitter hält kein Blitzableiter stand.

Nicht daß die beschleunigten Kapitalisierungsprozesse in Rußland Block verborgen geblieben oder von ihm geringgeschätzt worden wären. Es gibt Versuche, sich diesen Vorstößen zu einem „Neuen Amerika“, wie ein Gedicht aus dem Jahr 1913 heißt, zu stellen. So gewiß er aber den reinigenden Sturm die Welt des Schreckens und der Totentänze hinwegfegen sah, so ungewiß blieb ihm alles Kommende. Im Prolog zum Poem „Vergeltung“, an dem er seit dem Tod des Vaters 1910 bis zu seinem Tod 1921 mit langen Unterbrechungen arbeitete, stehen die Verse:

Über Europa reißt ein Vieh
Von Gier gequält auf seinen Rachen.
Wer wird ihn töten, diesen Drachen?
Wir wissens nicht. Wie eh und nie
Hülln unsre Grenzen sich in Dunst.
Was jenseits liegt – wir sehn es nicht,
Wir spürn nur, daß es brandig riecht –
Dort wütet eine Feuersbrunst.

Daß dieser Drachen der Erstarrung und des Widergeists auch durch die „Wiedergeburt Rußlands durch die Fabrik“ besiegt werden könnte, hat Block in einem Drama zu fassen versucht, über das er zwischen 1913 und 1916 nachdachte. Fertig geworden ist es nicht, und es werde, meinte Block schließlich, einem anderen zur Vollendung aufgetragen – „keinem Liberalen und keinem Konservativen, sondern einem Ruhelosen wie ich“. Es seien dafür noch mehrere, auch historische Anläufe nötig. Geschrieben haben es vielleicht Wladimir Majakowski in „Wladimir Iljitsch Lenin“ und Andrej Platonow in seinen großen Geschichten und Romanen von den prometheischen Meistern, von den Künstlern auf den Lokomotiven und in den Wüsten der dreißiger Jahre. War es doch Block bei dieser Wiedergeburt um die Erneuerung der Art gegangen, die sowohl die Dämonisierung des Subjekts als auch seine Verflüchtigung in der Funktionalität hinter sich läßt.
Mit der Überwindung des Dämonismus hat sich Block sein Leben lang herumgeschlagen. Am quälendsten in seinem Poem „Vergeltung“:

In Katastrophen und Stürzen befreien sich meine ,Rougon-Macquarts‘ allmählich aus der russisch-adligen Education sentimentale, ,Aus Kohle wurde Diamant‘, Rußland zu einem neuen Amerika; zu einem neuen, nicht zu dem alten Amerika.

Ein aufbegehrendes und jäh hinstürzendes russisches Geschlecht sollte von den siebziger Jahren des alten Jahrhunderts bis in die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts verfolgt werden. Block wollte zeigen, wie der Aufruhr in der ersten Generation entkräftet ist durch den letzten Abglanz von Skepsis und Weltschmerz eines epigonalen Byronismus, aber ebenso durch die ersten Anzeichen der Ermüdung des nahenden Fin de siècle. In der zweiten Generation wird der Aufruhr gedämpft durch die Empfindungsstumpfheit des Sohnes des neuen Jahrhunderts. Und erst in der dritten Generation, die aus der Verbindung des Sohns des „Dämons“ mit der Tochter eines fremden Volkes, des polnischen, hervorgeht, werde das Neue sichtbar auf seine Umgebung einwirken können. So beginne das Geschlecht, das die Vergeltung der Geschichte, des Milieus, der Epoche an sich erfuhr, seinerseits Vergeltung zu üben. Der neue Sproß schaffe es vielleicht, in das Rad der Menschheitsgeschichte zu greifen. Leitmotiv der Vergeltung sollte die Masurka sein, der Tanz, der für Block die alten Kämpfe zwischen Rußland und Polen begleitete. Im Poem sollte die Masurka anfangs leicht aus einem Petersburger Fenster erklingen, dann auf einem Ball sich mit dem Sporengeklirr der Offiziere mischen und endlich hinausdringen auf die polnischen Felder, über das nächtliche Warschau, in den Schneesturm.
Die Erneuerung der Art – „Aus Kohle wurde Diamant“ – sah Block nicht als ein allmähliches Fortschreiten. Gerade dem Zorn gegen die naiven Fortschrittstheorien verdankte das seinem Material nach autobiographische Poem die weitergreifende poetische Idee. In einem Vorwort von 1919 deutete Block die Situation an, in der der Plan für die Dichtung entstanden war. Es handelt sich um die Jahre 1910 und 1911. 1910 starben russische Künstler, die für Block Entscheidendes bedeutet hatten. Mit Vera Komissarshewskaja starb für Block der lyrische Ton auf dem Theater. Mit Wrubel die Unersättlichkeit des Suchens bis zum Wahnsinn. Mit Tolstoi die menschliche Zärtlichkeit, die weise Menschlichkeit. 1910: Krise des Symbolismus, Aufkommen der neuen Richtungen – Ego-Futurismus, Akmeismus, Kubo-Futurismus. 1911: die großen Eisenbahnerstreiks in London, „Panthersprung“ nach Agadir, heißer Sommer, der das Gras bis in die Wurzeln verdorren ließ, Interesse für Ringkampf, tödliche Flüge, schließlich im Herbst die Ermordung des Innenministers und Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin, die das Land, das sich bislang noch halb in den Händen des Adels und der Beamten befunden hatte, endgültig unter die Herrschaft der Polizei brachte.
Alle diese Tatsachen aus unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit hätten, so Block, jenen einheitlichen musikalischen Sinn, den er immer wieder aufzufinden suchte. Allerdings bezeichnet die Arbeit an dem nie vollendeten Poem auch einen wichtigen Einschnitt in Blocks Vorstellungen von der Einheit der Welt. Wenn er in den Jahren vor und nach der Revolution von 1905 bis 1907 seinen Welt-Synthesen das mystische Ineinsgehen aller Erscheinungen zugrunde legte, so datiert ab 1910 ein verstärktes „Bewußtsein der Ungeteiltheit und Unvereintheit von Kunst, Leben und Politik“. Der Unterschied ist gravierend. Wort und Tat fallen nicht mehr ununterscheidbar zusammen. Die 1906 durch die Nietzsche-Lektüre gestützte Vorstellung von der Dichtung als Beschwörungsorgie wird distanzierter betrachtet. Eigengesetzlichkeit der einzelnen Bereiche und Unendlichkeit der Übergänge bedingen einander. Synthese so begriffen heißt: Der unendliche Prozeß der Vereinigung und inneren Durchdringung vernichtet nicht die Gegensätzlichkeiten.
Wenn Revolution Vergeltung war, dann offenbarte sich das Schöpfertum der Massen in der Zerstörung. So sah es Block. Niemand aus seinem Kreis hat mit dieser Unerschrockenheit die Vernichtung der alten Welt selbst in den Grimassen der Revolution angenommen wie Block. Die Musik der Revolution erklang für ihn im Krachen des Zusammenbruchs. Die Masurka der „Vergeltung“ schlug um in die Lieder der proletarischen Kämpfe, die im Poem „Die Zwölf“ abgerissen durch den Schneesturm klingen. Natürlich entging ihm auch die Arbeitsseite der Revolution nicht. Aber dies seiner Dichtung zugrunde zu legen erwies sich als unmöglich.
Im Februar 1920 bezeichnete er noch einmal den Augenblick. In jeder Bewegung komme es zu einer Minute der Verzögerung, einer Minute der Besinnung, der Ermüdung, des Verlassenseins vom Geist der Musik. In der Revolution, wo nichtmenschliche Kräfte wirken, sei das eine besondere Minute. Die Zerstörung ist noch nicht abgeschlossen, geht aber schon zurück. Der Aufbau hat noch nicht begonnen. Die alte Musik ist schon nicht mehr, die neue – noch nicht.

4
Die Fähigkeit, „begierig zu leben und zu handeln in der angebrochenen Epoche der Wirbel und Stürme“, habe nur jene neue Menschenart, die Block den Künstler-Menschen nannte. Diesen Künstler-Menschen begriff Block nicht als das Ergebnis der europäischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, sondern als ihren Widerpart. Es sei eben gerade nicht der gespaltene ethische oder politische oder humane Mensch, sondern der Mensch der Elementarkräfte, deren er sich auf artistisch-meisterliche Weise in ihrer Ganzheit bewußt sei.
In Westeuropa sei er zu Beginn des Humanismus aufgetreten, dann aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an der Zersplitterung der künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen verkümmert. In diesem Zusammenbruch des Humanismus hätten nur wenige unter furchtbaren Verfolgungen den synthetischen Geist, die innere Einheit der Kultur hüten können. Block nennt Heine, Wagner, Strindberg, in Rußland Gogol, Tolstoi, Dostojewski. Kunst als Stimme des Elementaren und selber Elementarkraft sei für diese Künstler nie getrennt gewesen von den barbarischen Massen, den unbewußten Hütern der Kultur. Sie seien auch nicht dem Irrtum einer allmählichen Bildung der Massen durch populistische Senkung des Niveaus verfallen, sondern hätten im Gegenteil die Massen als die Träger eines anderen Gesetzes erkannt, das zur Herrschaft dränge.
Die neue Menschenart, der Künstler-Mensch, hat Block von früh an beunruhigt. Die Trilogie der Vermenschlichung meint sie, „Vergeltung“ und „Die Zwölf“ haben sie zum Gegenstand. Seine Sicht auf Wladimir Solowjow, auf die „Musik der alten Familien“ im Leben Michail Bakunins, auf den „Genossen“ August Strindberg und auf Maxim Gorki, den Mittler zwischen Volk und Intellektuellen, ist davon erfüllt.
Wie immer aber der Künstler-Mensch gegen das 19. Jahrhundert entworfen war, so ist er ohne es undenkbar. Das Skythische, das Zigeunerische, das Christus-Modell, Faszination und Beängstigung durch das Petrinische Erbe, die neue „Geschlechterauslese“ wie das „Neue Amerika“ – alles ist durch das europäische 19. Jahrhundert gegangen. Durch Gogol und Solowjow das Skythische, durch Apollon Grigorjew das Zigeunerische, Christus durch Dostojewski, Peter durch Puschkin, die Geschlechterauslese durch die europäische Mystik, die deutsche Romantik und Strindberg und das „Neue Amerika“ durch Nikolai Nekrassow.
Block war sich der tödlichen Gefahren beim Übergang zum Künstler-Menschen bewußt. Er selber sah sich mit in den Abgrund gerissen. Keine andere als die tragische Weltauffassung hielt er für ausreichend, um das ganze Ausmaß der Vorgänge zu erfassen, Die kosmischen Entsprechungen waren sein Alltag. Vom 29.Dezember 1912 ist das Gedicht „An die Muse“, das mit diesen Strophen beginnt:

Dein geheimes Gedicht sagt die Schwere
Des Geschicks, dem der Untergang droht.
Es verhöhnt jedes Glück, schmäht die Ehre,
Lästert Sitte, Gesetz und Gebot…

Es reißt mit, und mitreißend zerreißt es.
Ja, ich hab deine Krallen gespürt.
Die gefallenen Engel, so heißt es,
Hat der Reiz deiner Schönheit verführt…

Und verlachst du den Glauben, dann schimmert
über dir plötzlich purpurn und grau
Jener Strahlenkreis, der mich erinnert,
Doch an was, weiß ich nicht mehr genau.

Lust und Marter der Lästerung nach dem Fall gehen zusammen. Blocks Dichtung entsteht, indem ständig Kult und Lästerung gegeneinandergetrieben werden. Der Künstler-Mensch müsse diese Bedingtheiten der Welt in sich aushalten, ohne sie auszugleichen. Schon im Herbst 1902 hatte Block gegen Milde und Demut des Kults der Schönen Dame die grausame Harlekinade gesetzt, die dann in seinem lyrischen Drama Die Schaubude (1906) eine äußerste Zuspitzung erfuhr. Die Jungfrau aus dem fernen Land, die blasse Freundin erweist sich als Columbine, Pierrots Geliebte. Das Mysterium wird zur Posse. Das letzte Abendmahl findet in der Schaubude statt.
„Die Zwölf“ bringen den neuen Gipfel. Am 29. Januar 1918, als Block das Gedicht abschloß, heißt es im Notizbuch:

Ich verstehe Faust. „Knurre nicht, Pudel!“

Bei Goethe folgt:

Zu den heiligen Tönen, Die jetzt meine ganze Seel umfassen, Will der tierische Laut nicht passen.

Mephistopheles ist schon im Zimmer.
Block zweifelte nicht im mindesten daran, daß es bei diesen „Zwölf“ nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Er berichtete später mehrfach von einem großen anhaltenden Krachen – „wahrscheinlich das Krachen vom Zusammenbruch der alten Welt“ – und von einem furchtbaren Kräfteverfall. Er berichtete von der Hingabe an die Elemente wie bei den Ausbrüchen im Januar 1907 und im März 1914, die mit der Leidenschaft für die Schauspielerin Natalja Wolochowa und die Sängerin Ljubow Delmas die Gedichte der Bücher Schneemaske und Carmen hervorbrachten. Das gleiche hatte sich am Anfang des Jahrhunderts bei der Begegnung mit Ljubow Mendelejewa, seiner späteren Frau, ereignet, jenem „Augenblick überhellen Lichts“, als die „Verse von der Schönen Dame“ begannen.
Das erotische Verhältnis zur Welt (Rußland als Geliebte, Frau, Mutter) zeigt die tödlichen Leidenschaften der „Zwölf“ nicht als Episode der ersten Revolutionstage, sondern als Problem des von Block erwarteten und begrüßten Lebens des Künstler-Menschen in der neuen Zeit. Den Konflikt von Leidenschaft und Macht wertet Block durch die Bauart seines Gedichts entschieden als geschichtliche Legitimation der Zwölf: Aufbegehren, Zorn gegen die „Welt des Schreckens“, schöpferisch noch in der Verkehrung. In Blocks Sicht nimmt Christus dem Mörder Petrucha die Schuld nicht ab, sondern ist eins mit den Zwölf, deren einer der Mörder ist.
Block schließt hier strukturell wie ideengeschichtlich an Puschkins „Ehernen Reiter“ an: Der Imperator Peter jagt im Bunde mit den Elementen, den über die Ufer der Newa getretenen Wassern, den kleinen Beamten Jewgeni, der seine Frau verloren hat durch die Elemente und Peter fast zu drohen wagt, in den Wahnsinn. Die Stadt, den Sümpfen abgetrotzt, wird ihren Bewohnern zum Verhängnis. Was Puschkin zu leisten aufgab, war nicht weniger als die Vereinigung von Peter und Jewgeni, Macht und Menschlichkeit. Block wußte, daß dieses Peter und Jewgeni in eins den Konflikt bis ins Ungeheure kompliziert: Petrucha, unser neuer Jewgeni, tötet seine Geliebte Katjka selber und darf – noch lauert der Feind – sich seinem Schmerz nicht überlassen. Den „Weltbrand im Blut“, ziehen die Zwölf, wie einst der gespensternde Peter, weiter, Petrucha ist einer von ihnen.
Diese übergreifende Geschichtlichkeit der Dichtung entwickelte Block aus der Materialität des Augenblicks. Die „Zwölf“ sind immer: die Zwölfer-Patrouille der Rotgardisten und die Jünger und (laut Randnotiz Blocks zum zehnten der zwölf Gesänge) auch die zwölf Räuber nach Nikolai Nekrassows Moritat „Von den beiden großen Sündern“ in „Wer lebt glücklich in Rußland“. Die robusten Eindeutigkeiten – Soldatentschastuschka, Abschiedsklagelied, Romanze, Marschzitat, Losungsformel, Hurengeplänkel – schaffen das vieldeutige Spiel der Poesie.
Daß der Christus des Gedichts zu weiblich geraten sei, wie Block einmal notierte, ist danach eine höchst verständliche Befürchtung. Der andere, der Gewaltige, den Block sich lieber mit den Zwölf wünschte, kann nur der Künstler-Mensch gewesen sein, in dem sich Blocks Nachdenken über ein Leben in der neuen Zeit konzentrierte. Tatsächlich taucht einen Tag vor der ersten Notiz zu den „Zwölf“ im Tagebuch eine Eintragung auf, die unter dem Eindruck der Roman-Lektüre Jesus für ein geplantes Jesus-Drama so sieht:

Nicht Mann, nicht Frau. – Künstler.

In dieser Charakterisierung seines Jesus nahm Block ein altes Bild auf, welches er in dem Aufsatz zu August Strindbergs Tod 1912 entworfen hatte, Es sei Zeit für eine neue „Geschlechterauslese“, in der das „männliche Prinzip“ und das „weibliche Prinzip“ harmonischer als bisher verteilt seien. Strindberg sei eine der gelungensten „Proben“ dieser neuen Zusammensetzung gewesen und habe für die Überwindung eines Zustands gearbeitet, den Block so beschrieb:

Wenn das Männliche zum Männchenhaften wird, entartet Zorn zu Bosheit; wenn das Weibliche zum Weibchenhaften wird, verwandelt sich Güte in Gefühlsseligkeit.

Die neue Geschlechterauslese gehörte für Block zur Vorgeschichte des Künstler-Menschen, Den Wechsel der Masken, das schillernde Verhalten der Menschen, die seelenzerrüttenden Kämpfe um die neue Art hat er, die „Zwölf“ befragend, in all seiner nachrevolutionären Prosa erzählt. Am eindringlichsten in einer Vision aus dem „Zusammenbruch des Humanismus“, die die Radikalität seines Erneuerungsbewußtseins bezeugt:

Der Mensch – ein Tier; der Mensch – eine Pflanze, eine Blume. In ihm treten Züge äußerster Grausamkeit zutage, einer scheinbar nicht menschlichen, sondern tierischen Grausamkeit; daneben Züge einer naturhaften Sanftheit, die gleichfalls nicht menschlich, sondern pflanzenhaft zu sein scheint. All das sind zeitweilige Larven, Masken, das Wechseln unendlich vieler Larven. Dieses Wechseln zeigt eine Veränderung der Art an: der ganze Mensch ist in Bewegung geraten; er ist aus dem jahrhundertelangen Schlaf der Zivilisation erwacht, Geist, Seele und Körper sind vom Wirbel der Bewegung erfaßt: in dem Wirbel der geistigen, politischen und sozialen Revolutionen, die ihre kosmischen Entsprechungen haben, vollzieht sich eine neue Auslese, formt sich ein neuer Mensch; der Mensch, das humane Tier, das gesellschaftliche Tier, das sittliche Tier wird zum Künstler, um mit Wagner zu sprechen.

5
Gegner und Verbündete des Künstler-Menschen hat Block genau benannt. Ameisen-Mensch und Dandy-Mensch stünden in diesem Kampf gegen die „Menschen der Elemente“ und die aktiven Revolutionäre, deren „stürmische, physische, äußere Offenbarung“ der Konzentration aller Kräfte auf inneres Wirken bei den Künstlern entspreche.
Rachsucht gegen die Elementarkräfte sei die Triebfeder der Ameisen-Menschen. Fällt der erste hinunter bei der ewigen Suche nach den Nadeln, kriecht der zweite nach, stürzt der ab, kriecht der dritte hinauf. Und der Ameisenhaufen wächst. Voll geheimen Grimms, bemüht, das Toben der irdischen und unterirdischen Elementarkräfte zu vergessen und nicht zu hören, bauen sie wutschnaubend Maschinen und bringen die Wissenschaft voran. Block knüpfte dieses vernichtende Bild eines Produzierens um des Produzierens willen an die Erschütterung, die das Erdbeben von Messina in den fortschrittsgläubigen Geistern ausgelöst hatte.

Plötzlich, in dem historischen Augenblick, da Tolstoi Krieg und Frieden schreibt, Mendelejew das Periodensystem der Elemente entdeckt, da im Schoß der Erde das Erz sich der Picke des Menschen singend unterwirft, da Eisenbahnzüge den Raum in allen Richtungen verschlingen, da der deutsche Kaiser hochmütig den ,wundertätigen Erbauer‘, den Wohltäter der Menschheit und Eroberer der Lüfte umarmt – in ebendiesem Moment schlägt in einem Observatorium der Zeiger des Seismographen aus.

Die Wissenschaftler sagten lediglich, daß Süditalien auch künftig Erdbeben drohten; daß dort die Erdkruste noch nicht fest geworden sei. Sind wir aber sicher, daß die ,Kruste‘ über einer anderen, ebenso furchtbaren, nicht unterirdischen, sondern irdischen Elementarkraft, der des Volkes, fest genug geworden ist?

Sei der Ameisen-Mensch unempfindlich für das Ausschlagen des Seismographenzeigers, so fege der Dandy-Mensch den Seismographen einfach hinweg. Die Vernichtung, die der eine nicht begreift, macht der andere sich zum Gaudium, Entstanden aus dem antibürgerlichen Aufruhr, der „manches auf dem Ödland der ,Philanthropie‘, der ,Progressivität‘, der ,Humanität‘ und der ,Utilität‘ versengte, münde die Verneinung in die Selbstzerstörung. Die unerlaubte Grenze überschreitend, lasse das Feuer die Wurzeln dieser Jugend verdorren. Historisch-autobiographisch hatte Block das Problem im Poem „Vergeltung“ zu fassen versucht, doch nach der Revolution schließt er seine Prosa „Die russischen Dandys“ mit der besorgten Feststellung:

Aber auch im Arbeiter- und Bauernmilieu sind schon junge Dandys anzutreffen.

Ameisen-Mensch und Dandy-Mensch hielt Block für nicht leicht überwindbar. Sie seien durchaus in der Lage, sich rasch anzupassen, ja als Gönner und bürokratische Mäzene des Künstler-Menschen aufzutreten. Aber es sei das „rettende Gift der schöpferischen Widersprüche“, die „geheime Freiheit“, die die Umarmung des Künstler-Menschen durch den Spießer-Pöbel oft jäh beendet. Das Gift der Haßliebe, das der Künstler-Mensch auf alles ausdehne, sei auf die Dauer für einen auf Ruhe und Endgültigkeit Erpichten unerträglich.
Die „Erprobung der Herzen durch die Harmonie“, welche Block in der Puschkin-Rede als Auftrag der Poesie sieht, müsse Ameisen- wie Dandy-Mensch verdächtig sein: niemand weiß, ob sie die Probe bestünden. Um es nicht so weit kommen zu lassen, erschalle von jeher der Ruf nach Mäßigung:

Vergiß, Poet! ruft man mir zu.
Laß Wohnlichkeit dich inspirieren!
In Frösten lieber dann erfrieren!
Nein, nicht Beschaulichkeit. Nicht Ruh.

Um so willkommener ist die Unruhe und Erregung des Künstler-Menschen dem russischen Revolutionär, der weder die Selbstgefälligkeit des Aufhäufens noch die der Selbstzerstörung hat und Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten beständig kritisiert. Hier treibt das rettende Gift der schöpferischen Widersprüche die Sensibilisierung.
In unseren Tagen, kurz vor dem hundertsten Geburtstag des Dichters im Jahr 1980, gewinnt die Herausforderung von Blocks Welt-Synthesen an Deutlichkeit. Sie übergreift den Sturm der Analysen in den Jahren zwischen 1910 und 1930, als sich die Material- und Operationsästhetiken an ihr übten und ihre Zusammensetzung im Laboratorium der Spracharbeit und in der Praxis der Gesellschaft erprobten. Ihre Kühnheit ist nicht übertroffen. Die neue Lektüre hat eben erst begonnen.

6
Block lesend, wird man es freilich immer dringlicher mit diesen bezeichnenden Unschärfen zu tun bekommen, die die Empfindungen ins nicht Geheure locken. Wer sich dieser Lockung entzieht, verfehlt den Dichter. Denn Blocks Unschärfen im Historischen, Philosophischen, Politischen sind kein Mangel, sondern seine Art, die Empfindungen für das mit unserem Vorrat an Begriffen schwer oder gar nicht Sagbare zu schärfen. Blocks Geschichtsraffungen, Prozesse riesigen Ausmaßes zusammenziehend, schaffen die Schärfe im Lyrischen, poetische Genauigkeit.
Blocks geistiger Maximalismus scheute vor den äußersten Schlußfolgerungen aus den ihm zugänglichen Informationen nie zurück. Da aber sein synthetisches Denken weder Weltentwürfe hervorbrachte noch ein Laborieren mit Varianten, ein Spiel der Konzepte war, gibt es bei Block keine Verlängerungen in die Utopie oder Prophetie. Das Artistische am Künstler-Menschen war für Block nie die Fertigkeit, etwas experimentell herauszubekommen, sondern immer die Fähigkeit zur geschärften Empfindung des neuen Augenblicks.
Diese Sammlung der Welt im Augenblick zeigte auch in Blocks letztem großem Gedicht, den „Skythen“ aus dem Jahr 1918, die Leistung der Unschärfe. Da Block mit dem Vergeltungssieg der Elementarkräfte in der Oktoberrevolution die gesamteuropäische Erstarrung durchbrochen glaubte, baute er auf den Anschluß aller solidarischen Kräfte des Westens, auf die Unterstützung der russischen Revolution. Das Gedicht entstand in dem Augenblick, als die Bedrohung des revolutionären Rußlands durch das deutsche Kaiserreich noch bestand, vor dem Friedensschluß von Brest-Litowsk. Es ist als eine Anrede der Skythen an Europa gebaut, ein Warngedicht.
Block ging von der Möglichkeit eines neuen Hunnensturms oder Tatareneinfalls aus, wie er im 4. und im 12. Jahrhundert Europa beunruhigt hat und der nun, im 20. Jahrhundert, wieder drohe. Die Skythen hätten immer den Schild zwischen Europa und Asien gehalten und die Hauptlast getragen. Wenn sie jetzt im Stich gelassen würden, könnten sie den Schild vielleicht wegziehen und dem Todeskampf der beiden Gegner tatenlos zusehen.
Die historische Doppelgestalt Rußlands zwischen Europa und Asien hatte schon frühere Jahrhunderte ständig bewegt. Block betont die Aufnahmefähigkeit für den scharfen gallischen Verstand wie für den düstern deutschen Genius, aber auch die Empfindlichkeit für die Musik des Panmongolismus. Block knüpft hier an Wladimir Solowjows Interpretation des Panmongolismus an, die der Mystiker außer in einem Gedicht, aus dem Block das Epigraph zu den „Skythen“ nahm, in einem seiner letzten Prosatexte 1899 gegeben hatte. Eine eingeschobene Erzählung enthält die Prophezeiung einer fünfzigjährigen Herrschaft der Mongolen im Europa des 20. Jahrhunderts. Beendet werden sollte sie durch die Arbeit zahlreicher Geheimgesellschaften und das Auftreten eines Volksführers, der sich als Messias fühlt, zum Herrscher Europas aufsteigt, aber, als er in Jerusalem auch zum geistlichen Oberhaupt ausgerufen werden will, als der Antichrist erkannt wird.
Man wird bemerken, daß Majakowskis Weltklassenkampf-Hyperbeln in „Mysterium buffo“ und „150 Millionen“ der Beginn der analytischen Erkundung dieser ungeheuren Zusammenschau Blocks sind, die einem Kalenderzeitrechnen natürlich niemals standhielte. Für Blocks Skythen-Synthese gilt aber, was er in der Catilina-Prosa von seinem Vorgehen sagte:

1. Ich mache mich nicht an eine akademische Untersuchung der ersten besten historischen Epoche, sondern suche jene Epoche aus, die meiner Zeit im historischen Prozeß am meisten entspricht. Durch das Prisma meiner Zeit sehe und verstehe ich klarer jene Einzelheiten, die dem Forscher, der den Gegenstand akademisch betrachtet, entgehen müssen; 2. ich bediene mich des Vergleichs von Erscheinungen, die aus den Lebensbereichen stammen und scheinbar nichts miteinander zu tun haben; im vorliegenden Fall stelle ich zum Beispiel die römische Revolution und Verse Catulls gegenüber. Ich bin überzeugt, daß man nur mit Hilfe solcher und ähnlicher Vergleiche den Schlüssel zur Epoche finden, ihr Beben spüren, sich ihren Sinn erklären kann.

Die Skythen als Nomadenvölker, die in der zweiten Hälfte des vorchristlichen Jahrtausends die osteuropäischen Steppen beherrschten, hatten geschichtlich für Block genau die Unschärfe, die nötig war, um sie zu Sprechern für das welthistorische Problem zu machen, das er in der Konfrontation von revolutionär verjüngtem Rußland und vergreistem Westeuropa sah. Unbehaust und ungeborgen, befindet sich der Skythe ewig im Aufruhr, doch Europa ist ihm lieb. Die entscheidenden Verse des Gedichts sind dann:

Ja, so lieben, wie dies Blut hier liebt,
aaaKönnt ihr schon längst nicht mehr. Und nicht erkennen,
Daß es auf Erden eine Liebe gibt,
aaaDie euch zerbrechen kann und auch verbrennen.

Wir lieben alles: gallischen Esprit,
aaaDer Zahlen kalte Glut, das Ahnen
Des Unbekannten, doch auch das Genie
aaaDes finster brütenden Germanen.

Und wir erinnern uns der Hölle auch,
aaaDer Straßen von Paris. Venedigs Feste
Sind uns so nah wie jener graue Rauch,
aaaDer sich auf Kölns Gemäuer niederpreßte.

Diese Sicht des „Skythen“ Alexander Block umgreift und vertilgt sowohl den Rußland-Messianismus, die Idee von der besonderen Rolle Rußlands in der Welt, als auch den Panmongolismus, die Idee von der permanenten Bedrohung der europäischen Welt. Sie gelangt zu einem synthetischen Rußland-Bild, das die phantastische Produktivität dieses Landes wie deren Gefährdungen in den Widersprüchen seiner universalgeschichtlichen Stellung begreift.

Fritz Mierau, Januar 1977, Vorwort

Zu unserer Edition

Die vorliegende Ausgabe unternimmt den bisher ausführlichsten Versuch einer deutschsprachigen Vorstellung der Dichtungen Alexander Blocks. Sie wirft viele Fragen auf, die im Laufe der allmählichen Edition der Lyrik, Prosa, Dramatik und Publizistik sowie des Briefwechsels und der Tagebücher jener Zeit erörtert werden müssen. Der Umfang der inneren Gliederung des russischen Symbolismus, der ästhetischen Polemiken, des Kampfs um die weltanschaulichen und geschichtsphilosophischen Positionen ist hier erst zu ahnen, da die zeit- und poesiegeschichtliche Vorarbeit der sowjetischen Forschung noch kaum rezipiert wurde.
Dies bedenkend, beschränken wir uns bei der Kommentierung im wesentlichen auf den Aufschluß der literarischen Zitate entsprechend der sowjetischen achtbändigen Ausgabe Moskau-Leningrad 1960–1963 sowie, bei einem Beitrag, der zwölfbändigen Ausgabe Leningrad 1932–1936. Die Originaltitel aller Block-Beiträge in Band 1 und 2 sind in der Bibliographie nachgewiesen.
Die wichtigsten sowjetischen Block-Monographien stammen von W. Orlow (1956), L. Timofejew (1963), N. Wengrow (1963), P. Gromow (1966), T. Rodina (1972), B. Solowjow (1973), D. Maximow (1975), D. Pozepnja (1976) sowie von S. Minz, die seit den sechziger Jahren in mehreren Folgen ihre Spezialvorlesung über Block in Tartu erscheinen läßt. In Tartu wurden auch zwei Block-Sammelbände (1964, 1972) herausgegeben, und die Wissenschaftlichen Annalen der Staatlichen Universität Tartu enthalten regelmäßig Untersuchungen zum russischen Symbolismus. Hingewiesen sei schließlich auf eine der bedeutendsten Untersuchungen über die russische Lyrik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts – L. Ginsburgs Buch Über Lyrik, das in seiner zweiten, erweiterten Fassung deutsch im Reclam-Verlag Leipzig erscheint.
Herausgeber und Verlag danken allen Nachdichtern und Übersetzern dieser Ausgabe, allen ihren Förderern, besonders Oskar Törne, der die kommentierten Interlinearfassungen anfertigte, Margarete Baade, die ihre Bibliographie der deutschen Übersetzungen zur Verfügung stellte, und Ilse Tschörtner, die die Edition im Lektorat schöpferisch betreute.

Fritz Mierau, Nachwort

 

Alexander Block (1880–1921)

„Block, der Dostojewski in seiner prophetischen Gabe wohl am nächsten stand“, schrieb Lunatscharski 1921, „sagte: ,Der Strom der Revolution zerstört deine Hoffnung, deine Träume. Er führt zu viel Schlamm und Schmutz mit sich. Doch höre, was er spricht! Sein Dröhnen besagt Großes.‘ Rußland schreitet auf dornenvollem, heroischem Wege vorwärts, und hinter ihm stehn seine großen Propheten, die es auf seinem Wege segnen.“ Als Prophet der Revolution ist Block in die Weltdichtung eingegangen. Doch sein ganz und gar zeitgenössisches Werk weist, indem es die Frage nach einer würdigen Menschheitsexistenz neu stellt, weit über seine Zeit hinaus. Wie jeder bedeutende Künstler fand er zu seinem zentralen Thema, „Rußland zwischen den Revolutionen“, nicht auf geradem Weg. Bereits im ersten Jahrzehnt seines Wirkens zeichnet sich eine grundsätzliche Wende ab. Der Versuch, mit dem Bild der Geliebten, des „Ewigweiblichen“, der „Schönen Dame“ die ersehnte Gestalt des neuen harmonischen Menschen, die Vision eines nahen, „goldenen Zeitalters“ zu wecken, gerät ins Zwielicht; die Welt der Städters, die seine, erscheint im Widerstreit von Schönheit und Trivialität, entlarvt sich schließlich als „Welt des Schreckens und der Totentänze“. Einschneidend auch das Erlebnis der scheiternden Revolution von 1905, es führt zu neuer poetischer Erkenntnis: dem schuldhaften Bewußtsein von der Kluft zwischen Volk und Intelligenz und von der kommenden „Vergeltung“. Mit dem Beginn der großen Rußlanddichtung, die in den Poemen „Die Zwölf“ und „Skythen“ ausklingt, beherrscht den Vers eine apokalyptische und doch weltbejahende Unrast – Voraussage und Begrüßung des „reinigenden Sturms“.
Unsere Werkausgabe, die erste deutschsprachige, die sowohl Poesie als auch Prosa des Dichters umfaßt, schließt eine empfindliche Lücke in der Rezeption der russischen Literatur des 20. Jahrhundert.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1978

 

Literatur der Sowjetunion vorgestellt

– Verlegerische Pionierarbeit Drei Bände Alexander Block bei Volk und Welt. –

Alexander Blocks Poem Die Zwölf, im Januar 1918 entstanden, erfuhr 1920 gleich drei Nachdichtungen ins Deutsche, fünf in den zwanziger Jahren, neun insgesamt bis heute. Doch erst jetzt erschien — im Verlag Volk und Welt, herausgegeben von Fritz Mierau — die erste für Blocks Gesamtwerk repräsentative deutschsprachige Ausgabe.
Das frühe und anhaltende Interesse für Die Zwölf erklärt sich freilich daraus, daß sie mit bezwingender poetischer Kraft vom Anbruch eines neuen, revolutionären Zeitalters kündeten. Mochte es auch nicht so sehr der künftige Erbauer der neuen Welt als vielmehr das seine Fesseln sprengende Volk sein, das Block in Gestalt seiner zwölf Rotgardisten erfaßte — weit über das Wort Gewordene hinaus vermittelt das Poem bis heute den Pulsschlag der Weltenwende. So wie ja auch der Jesus Christus, der den Zwölf „mit blutiger Fahne“ voranschreitet, aus dem Geist des Poems heraus zu einer — den Autor selbst überraschenden Symbolfigur jenseits bloß christlicher Mythologie wurde.

Lyrik, Stücke, Essays, Briefe und Tagebücher
In dem Poem, ebenso wie im Gedicht „Die Skythen“, gipfelte eine unermüdliche Suche, die das gesamte Werk Blocks bestimmte sogar in seinen, poetisch vollendeten, doch anfangs mystischen, schwer entschlüsselbaren, durch eine komplizierte Entwicklung geprägten Versen von der Jahrhundertwende an. Die vorliegende Ausgabe macht es nun möglich, diesen Weg des Dichters zu verfolgen: ihn als einen hervorragenden Repräsentanten des russischen Symbolismus kennenzulernen, sein Ringen um Wirklichkeitsgewinn — sein, wie er es später nannte, „Weg zwischen Revolutionen“ — zu erleben, und auch Die Zwölf differenzierter zu verstehen.
Absolut neu an dieser deutschsprachigen Block-Ausgabe ist, daß sie nicht nur Lyrik bietet, sondern — neben Stücken — auch Essays, Reden, Briefe, Tagebücher… Jede dieser Teilsammlungen folgt einer selbstendigen Chronologie, vermittelt dem Leser auf ihre Weise gewissermaßen einen besonderen Farbauszug zum Block-Porträt, das so immer vielseitiger, vollständiger wird.
Beeindruckend vor allem, wie der Dichter auf seine emotional betonte Weise immer tiefer in den historischen Prozeß eindringt. „Welt des Schreckens“, dieser Titel eines Gedichtzyklus charakterisiert den tragischen Aspekt von Blocks Verhältnis zum vorrevolutionären Rußland, seine soziale Position — mochte er dem aktiven politischen Leben auch ferngestanden haben. Insbesondere sind es die Fragen „Rußland und die Intelligenz“ — die ihn beunruhigende Kluft zwischen Volk und Intelligenz — und „Kunst und Revolution“, denen er eine ganze Folge von Essays und Reden widmete. Der „Entwurf“ der Revolution aber, den zu sehen nach seinen Worten Pflicht des Künstlers ist, lautete:

Alles umzugestalten. Und so einzurichten, daß alles zum Neuen sich wandelt; damit unser verlogenes, schmutziges, ödes häßliches Leben zu einem gerechten, reinen, heiteren und schönen Leben werde.

Blocks Historismus unterschied „Kalenderzeit“ und „musikalische Zeit“, wie denn in seiner Weltwahrnehmung überhaupt die Musik eine große Rolle spielte im Sinne eines geschärften Gefühls für die Tendenz der in großen Zeiträumen sich vollziehenden historischen Prozesse. Die Unvergänglichkeit schon seiner vorrevolutionären Poesie rührt nicht zuletzt daher, daß er darin um es in seinen Begriffen zu sagen — zunehmend die „Musik“ einfängt, „die aus dem Weltorchester klingt“. Aber gewiß ist es kein Zufall, daß Block — der selbst erlebten Umwälzung „im historischen Prozeß“ nachspürend — schon im Besitz seiner Erfahrung als Autor der Zwölf Verse des römischen Dichters Catull als Seismograph interpretiert, der bei scheinbar völlig anderem Thema bis ins Versmaß, in den Rhythmus hinein den heraufziehenden Untergang des römischen Imperiums angezeigt hatte.
Blocks Sehnsucht galt von früh an dem „neuen Menschen“, wie er ihn selbst nannte. Zu den „Wohltaten der Revolution“, der er — bei der Ablösung der alten Gesellschaft — betont auch rächende, zerstörerische Funktionen zubilligte, zählte Block, „daß sie den ganzen Menschen zum Leben weckt“, ihn so zu einem „Künstlermenschen“ macht – auch wenn sich in ihm das Bild der neuen Welt, in der das geschehen würde, noch entzog.

Aus seiner Zeit für unsere Zeit erschließen
Ein Verdienst der vorliegenden Ausgabe besteht dann, Block nicht nur aus seiner Zeit sondern auch für unsere Zeit, lebendig zu erschließen. Dies gilt für die getroffene Auswahl, die auch bei drei Bänden Umfang immer noch auf sehr Lesenswertes verzichten mußte, und für Fritz Mieraus Vorwort, das Blocks synthetisches Schaffen, seine Stellung in der Kunst, seine Aktualität souverän charakterisiert. Schade nur, daß der Herausgeber auf Kommentare verzichtet hat, die dem Leser im einzelnen den Zugang au Blocks Werken erleichtert hätten – sogar im Sinne von Blocks eigenem Bekenntnis, „Gedichte, deren Inhalt völlig abstrakt und ohne Bezug zur Epoche erscheinen könne“, würden „durch höchst unabstrakte und alltägliche Ereignisse ins Leben gerufen“.
Langzeitwirkung gewinnt diese reich illustrierte Ausgabe aus dem überwiegend hohen Niveau der Nachdichtungen und Übersetzungen. So verleiht die Dichte und Ausgereiftheit der Nachdichtungen sogar Gedichtzyklen poetische Geschlossenheit, die von vielen Nachdichtern und auf verschiedene Weise — streng metrisch und gereimt oder frei und reimlos übertragen wurden.

Leonhard Kossuth, Berliner Zeitung, 31.10.1978

Seismographischer Spürsinn

– Ausgewählte Werke von Alexander Block in drei Bänden bei Volk und Welt. –

Am Anfang die „Verse von der Schönen Dame“, zart, romantisch, empfindsam, schwermütig und mystisch träumend, eine Seelenlandschaft unstillbarer. Am Ende im Poem Die Zwölf das Einverständnis mit dem revolutionären Epochenumbruch In der kühngewaltigen Vision, daß im schneesturmdurchpeitschten nächtlichen Petrograd einer Rotgardistenpatrouille Jesus Christus voranschreitet.
Alexander Block: Dichter zwischen Dekadenz und Revolution. Die Formel erscheint stimmig, indem sie durchaus das Spannungsfeld erfaßt, worin der 1880 geborene und 1921 gestorbene große Poet des russischen Symbolismus stand. Sie ist indes aber auch unscharf und vereinfachend, indem sie nur wenig ahnen läßt von der Tiefe, mit der Block die so bezeichneten Gegensätze und Widersprüche erlebte und erlitt und in seinem Werk austrug. Sie suggeriert Brüche und Wandlungen dort, wo eine Einheit bestand und außerordentlich folgerichtige Entwicklungen in des Dichters Welt- und Selbstverständnis stattfanden. „Wie in einem Brennglas vereinigte Block in seiner Persönlichkeit alle Gefühle seiner Zeit“, schrieb dazu der Schriftsteller Michail Sostschenko. Eben gerade das macht jetzt auch die dreibändige Ausgabe Ausgewählte Werke Alexander Blocks nachvollziehbar, die von Fritz Mierau herausgegeben und eingeleitet wurde, unter Mitarbeit einer großen Zahl von Nachdichtern und Übersetzern entstand, im Verlag Volk und Welt erschienen ist und eine editorische Leistung von hohem Rang darstellt.
Denn die hier dargebotene umfängliche Auswahl aus der Lyrik und der ebenfalls ganz lyrisch gestimmten Dramatik läßt sehr deutlich erkennen, wie wenig auch der schillernde Begriff des „Symbolismus“ dazu taugt, das poetische Ingenium Blocks ganz zu umfassen. Die symbolistische Ästhetik und Theorie wird sehr bald schon durchbrochen. Zu den religiös-mystischen Motiven und den ungefähr schwebenden Stimmungen treten härtere Töne, bewegtere Leidenschaften und scharf umrissene Realität. Die Verzweiflung ist echt und nicht modische Attitüde. Die lyrische Verklärung und Verzauberung der Welt ist keine Flucht vor ihr. Die Beschwörungen einer irrealen Schönheit und das Verlangen nach unbekannten Welten bedeuten auch die Verwerfung einer vorgefundenen und tatsächlich von Dekadenz gezeichneten Wirklichkeit, vor der die Sensibilität des Dichters erschrickt.
Und der Blick weitet sich. Rußland wird zum Thema, tragisch und groß, als Heimat und Natur, als Historie und Mythos. Die Beunruhigung und die Unruhe wachsen. Prophetisches dämmert auf. Künftige Vergeltung wird erwartet, ein reinigender Sturm. Zur Bejahung der Revolution ist es nur noch ein Schritt.
Block war Dichter ganz und gar. Alles verwandelte sich ihm in Verse. Stimmungen, Gefühle. Seine Sicht auf seine Welt und Zeit ist immer die des Lyrikers, nicht die des Politikers, des Ideologen, des Revolutionärs. Sie ist intuitiv; sie ist somit unmittelbarer und gefährdeter. Doch gerade deshalb ist es auch so wichtig, daß die bisher umfangreichste deutschsprachige Block-Ausgabe sich nicht auf das eigentliche dichterische Werk beschränkt, sondern auch eine Autobiographie, Essays und Reden, Briefe und Tagebücher enthält.
Das läßt sich dann lesen wie ein Kommentar zu des Dichters Lyrik, obwohl diese in ihrer Klarheit zu ihrem Verständnis der Kommentierung keineswegs bedarf. Doch es zeigt den Hintergrund. Es macht die komplizierte Persönlichkeit Blocks verständlicher. Darin ist vieles, was ihn bewegte, noch viel krasser und unverhüllter formuliert. Dadurch entsteht ein überaus fesselndes Bild von dem reichen und bewegten russischen Geistesleben der vorrevolutionären Periode, das noch in seinen widersprüchlichsten und seltsamsten Erscheinungen insgesamt als Vorahnung eines kommenden großen Wandels erscheinen mag und muß.
Hier nachlesbar Alexander Blocks Stolz auf gelehrte und literarische Familientraditionen. Nachlesbar seine Krisen, psychischen Labilitäten, verhängnisvollen Leidenschaften. Hier seine oft schroffen, unbestechlich scharfen Urteile über das zeitgenössische kulturelle Leben und dessen Vertreter. Hier Brief und Tagebuch anvertraut seine bis zu Ekel und Haß gesteigerte Antipathie gegen das verrottete zaristische Regime und die Vulgarität der Bourgeoisie.
Hier aber auch Erklärungen für manche der eigentümlichsten Motive seiner Gedankenwelt: Wenn etwa Block in dem gleich den Zwölf im Januar 1918 entstandenen Gedicht „Die Skythen“ Rußland als eine Sphinx der alten Welt Europas entgegenstellte und asiatische Drohungen beschwor, um zu Besinnung, Verbrüderung und Frieden aufzurufen, dann wird solche die Geschichte mythologisierende Vision leichter verständlich, wenn man weiß, wie tief den Dichter die Ideen des Religionsphilosophen Wladimir Solowjow beeinflußt haben.
Und hier vor allem erkennbar die Kontinuität in Leben und Werk Blocks: Wenn er nach der Oktoberrevolution zu den wenigen Angehörigen der bürgerlichen Intelligenz gehört, die sich sofort zu loyaler Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht bereit erklären, wenn er dabei den Bruch mit alten Freunden und deren Feindschaft in Kauf nimmt, dann ist dies keine abrupte Wendung, sondern die Konsequenz aus längst gehegten Überlegungen, aus dem schmerzlichen Empfinden der Kluft zwischen Intelligenz und Volk, aus dem Gefühl des Versagens der Intelligenz vor der Revolution.
Er sieht die Revolution als Zerstörung und Untergang der langst verdammten alten Welt. Er sieht sie aber auch als „Musik“, nämlich in Übereinstimmung mit dem Rhythmus und der Harmonie der Welt. Er sieht sie in den weitreichendsten Epochendimensionen, vergleicht die von ihr bewirkte Weltenwende mit dem Ende der Antike und den Anfängen des Christentums. So vermag er etwa auch den Verschwörer Catilina, von dem die Geschichtsschreiber ein durch und durch negatives Bild überlieferten, positiv als einen frühen römischen Revolutionär zu deuten und erkennt in einem Gedicht Catulls die Reflexe einer revolutionär erregten Zeit.
Beweisbar ist da nichts, die Einfühlung ist alles. Der Dichter bleibt Dichter, auch wenn er sich zu den res publica, den „öffentlichen Angelegenheiten“, äußert. Aber gerade so sieht er auch das anderen Verborgene. „Was bin ich vorerst? Nur dies — ich habe einiges gesehen im Wachen und Schlafen, was andere nicht gewahrten“, lautet eine Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahre 1911, die bezeichnenderweise im Zusammenhang mit höchst grimmigen Urteilen über Abscheulichkeiten des St. Petersburger Lebens und gewagtesten geschichtsphilosophischen Spekulationen steht.
Und drei Jahre vorher schon in einem öffentlichen Vortrag, in dem vor den Elementarkräften und des Volkes die übliche bürgerliche Kultur als nichtig erscheint, dieses Fazit:

Noch wissen wir nicht genau, was für Ereignisse wir zu gewärtigen haben, doch in unserem Herzen hat der Seismographenzeiger bereits ausgeschlagen.

Nicht in der verführerischen und berauschenden Schönheit seiner Gedichte allein will uns da die Größe des Dichters Alexander Block begründet sein, sondern ebenso in dem seismographisch empfindlichen Spürsinn, mit dem er unter Masken und Verkleidungen, hinter Katastrophen, Dämonien und Apokalypsen die Wahrheit seiner Epoche erahnte und ihr folgte.

Helmut Ullrich, 7.8.1978

Kalenderblatt für Alexander Block

Und sie schreiten majestätisch.
Hinten: Hund und Hungerleid;
Aber vorn: mit blutiger Fahne,
Unter Wind- und Schneegeleit
Gegen Blick und Blei gefeit,
Eisperlschimmer, Flockenglosen
Um den Kranz aus weißen Rosen
Und voll Sanftheit jeder Schritt,
Schreitet Jesus Christus mit.

Der 1918 mit diesen abschließenden Versen den Zug einer Rotgardistenpatrouille beschreibt, dem er den Gottessohn vorangehen läßt, kam aus dem Bürgertum und hatte sich als Symbolist einen Namen gemacht, war lange der Protagonist einer mystischen Lyrik gewesen, hatte die Romantik überwunden, aber den Realismus noch nicht für sich entdeckt: der Dichter Alexander Block.
Die Zwölf nannte er sein Poem, das „die Musik“ der Revolution ertönen ließ und — wie Majakowski nach dem frühen Tod des Dichters schrieb „einer vierzigjährigen Periode der russischen Dichtkunst und Auftakt einer Poesie des realen, geschichtsmächtigen Menschen“ war. Nicht nur wegen des Themas gilt dieses Werk als seine reifste Dichtung, sondern auch und vor allem, weil es ihm mit dem vielstimmigen Bau jenes Poems gelang, als erster geschichtliche Repräsentanz für die nachrevolutionäre russische Poesie zu erreichen.
Alexander Block, der 1880 geboren wurde und 1921 starb, stand als Dichter zwischen Dekadenz und Revolution. In diesem Spannungsfeld entwickelte er sich zu einem der größten Poeten seiner Zeit, dessen Werk — beginnend mit den romantisch verklärten „Versen von der schönen Dame“ und gipfelnd in dem weitausschreitenden Revolutionspoem Die Zwölf — einen hohen Stellenwert in der Weltliteratur einnimmt. Immer wieder rückte er die Frage nach einer würdigen Menschenexistenz in den Mittelpunkt seines Schaffens. Und wenn er auch kein Revolutionär der Tat war, so war er doch allemal ein von entschiedener Leidenschaft getriebener Prophet der Revolution.
Dieser sprachgewaltige Wortführer einer neuen Zeit hat — wie Konstantin Paustowski betonte „in seinen Gedichten und in seiner Prosa ein beträchtliches Stück der russischen Geschichte durchschritten, von der unheilvollsten Periode der neunziger Jahre bis zur Oktoberrevolution“. Er sei ein Hüter der Poesie, ihr Troubadour, ihr Schwerarbeiter und ihr Genius.
In welcher Weise das ebenso umfangreiche wie vielgestaltige Werk Blocks auch hierzulande bewahrt und schöpferisch genutzt wird, das belegen Editionen des Verlages Volk und Welt. Neben einer repräsentativen Gedichtauswahl in der weißen Lyrik-Reihe erschien vor drei Jahren eine ebenfalls von Fritz Mierau herausgegebene Werkausgabe in drei Bänden, die man gut und gern als Jahrhundertausgabe bezeichnen darf.

Horst Buder, Neue Zeit, 10.8.1981

Der Schrauben Toben oder Schwierigkeiten

mit dem Lyriker Alexander Block

– Anläßlich einer neuen dreibändigen Auswahl der Werke. –

Anfangs der zwanziger Jahre fand das unheimliche Revolutionsgedicht „Die Zwölf“ von Alexander Block ein weltweites Echo. Dennoch ist dieser überragende Dichter des russischen Symbolismus, der auch im gesamteuropäischen Kontext zu den Klassikern der Moderne zu zählen wäre, außerhalb seiner Heimat bis zum heutigen Tag eher unbekannt geblieben. Blocks umfangreiche und vielschichtige Lyrik läßt sich schwer übersetzen, weil sie in einer alles durchdringenden „Sprachmusik“ aufgeht. Allerdings hat diese nur bedingt mit Verlaines Devise „Musik vor allen Dingen“ zu tun, der sich die meisten Symbolisten verpflichtet fühlten. Musik war für Block nicht bloß ein Problem der Formgebung, sondern der Eckstein seiner Weltanschauung schlechthin.
Der Wagner-Bewunderer Block begriff – von Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik angeregt – Musik als eine Elementarkraft, von der das gesamte Universum getragen wird, als die Ur-Kraft, die auch die Weltordnung und gar den Gang der Geschichte bestimme und lenke. Dieser „mystische Nebel“ hat sich bei Block als eine vorbehaltlose Begeisterung für die Oktoberrevolution von 1917 niedergeschlagen, die manchen seiner Schriftstellerkollegen und die Aristokratie, der er entstammte, befremdet hatte. Aus dem „revolutionären Chaos“ glaubte Block die „entfesselte Musik“, die „Elementarkraft“ herauszuhören. Freilich schon einige Monate später zeigte er sich zutiefst betroffen, daß „die Musik der Revolution verstummt ist“.
Um ausgerechnet Blocks letzte Lebens- und Schaffensperiode als rosarotes Happy-End zu deuten, wie es in einigen sowjetischen Block-Darstellungen der Fall ist, muß man schon von manchem absehen. Etwa von den aufschlußreichen, zwischen 1917 und 1921 entstandenen Aufsätzen, Reden, Briefen und Tagebücher-Passagen, welche die bisher umfangreichste, dreibändige deutsche Block-Ausgabe Ausgewählte Werke zur Geltung kommen läßt. Die vorbildlich mit Textkommentaren, Personenregister, Bilddokumenten sowie einer einzigartigen Bibliographie deutschsprachiger Block-Nachdichtungen angereicherte Auswahl wurde von Fritz Mierau und einem mehr als zwanzigköpfigen DDR-Übersetzerkollektiv für den Ost-Berliner Volk und Welt-Verlag besorgt und von Hanser als Lizenzausgabe übernommen. Sie ist zwar am sowjetischen Block-Bild orientiert, doch bleiben der Wille zur Eigenständigkeit, die Bemühung um eine differenzierte Block-Präsentation erkennbar Es ist ein weiteres Verdienst dieser Ausgabe, daß sie mehr als die Hälfte ihres Umfangs dem „Publizisten“ Block einräumt, von dem man sich in Deutschland – sieht man von einem Suhrkamp-Bändchen ab – bisher keine Vorstellung machen konnte. Dabei wird nicht nur Blocks Biographie abgesteckt, sondern auch die Entwicklung seiner Kunstauffassung und Weltanschauung dargelegt sowie die gesellschaftliche und politische Szenerie der Zeit erhellt. Es zeigt sich, wie eng der Publizist Block mit dem Lyriker zusammenhängt. Viele Probleme, mit denen er sich in den Aufsätzen auseinandersetzt, Themen wie „Religiöse Suche und das Volk“, „Volk und Intelligenz“, „Die Elementarkräfte und die Kultur“, „Intelligenz und Revolution“, „Ironie“, „Farben und Worte“, „Der Zusammenbruch des Humanismus“ und andere mehr, kommen auch in seiner Lyrik zum Ausdruck. Bedauerlicherweise ist der erste Band dieser Ausgabe, der die Gedichte enthält, Block so manches schuldig geblieben. Das liegt nicht an der Auswahl, sondern an den Übersetzungen. Wieder einmal erwies sich, daß jene „totale Sprachmusik“ kaum wiederzugeben ist. Selbst diejenigen der neunzehn Nachdichter, die sich um rhythmisch-melodisch durchstrukturierten, ja sogar gereimten Vers bemühten, erreichten nur selten die selbstverständliche Virtuosität des Originals.
Als problematisch erscheint mir in diesem Band auch der ansonsten sehr kenntnis- und gedankenreiche Einführungsessay von Fritz Mierau. Sein Bemühen, die mystische Perspektive Blocks mit der des „Historischen Materialismus“ um jeden Preis zu vereinigen, führt nicht selten zu kuriosen gedanklichen und sprachlichen Zwitterbildungen. Zum Beispiel: „Da Block mit dem Vergeltungssieg der Elementarkräfte in der Oktoberrevolution die gesamteuropäische Erstarrung durchbrochen glaubte, baute er auf den Anschluß aller solidarischen Kräfte des Westens (sic!), auf die Unterstützung der russischen Revolution. Das Gedicht (die Rede ist hier von den „Skythen“, dem allerletzen großen Gedicht Blocks vom Januar 1918) entstand in dem Augenblick, als die Bedrohung des revolutionären Rußlands durch das deutsche Kaiserreich noch bestand, vor dem Friedensschluß von Brest-Litowsk“. Befremdend auch die technokratisch-funktionalistische Betrachtungs- und Ausdrucksweise in Äußerungen wie:

Blocks Dichtung entsteht, indem ständig Kult und Lästerung gegeneinandergetrieben werden.

Antonin Brousek, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.1978

 

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