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Wonnekind schaut, benommen von den eignen Worten,
aaaaaaaaaaauf Orama, das Netzkabel und mich.
„Hab ich zu viel gesagt?“, fragt er. „Sind wir Retorten
für deine Sekte?“, fragt das Internet in entlegenen
aaaForen
aaaaaaaaaaweniger Wonnekind als vielmehr sich.
„Nein, meine Sekte, wenn du wirklich sagen willst Sekte,
hat weniger Zweck als freundliche Funktion.
Sie legt sich auf alle, die hier sind: eine Decke
gegen die Kälte des Kosmos. Wie ein Kondom
wohltuend trennt, um nicht zu beunruhigen
aaaaaaaaaadie Säfte mit, was wissenschaftlich nicht
aaaaaaaaaaerläuterbar, wirkungstechnisch jedoch schlicht
unheimlich ist, damit man sich nicht zuigeln
aaaaaaaaaamuss innerlich. Bis es vielleicht einmal zerbricht.
Was nicht vorauszusehen ist, für Sorgen so kein Thema.
Zerbrechen ist für uns die Gottheit Nummer zwei.
Wir verehren natürlich die Schraubengottheit wie immer,
doch ist der Trickster Zerbrechen zu unsrem Glück dabei,
stört die Ordnung des Kosmos, oft zu unsren Gunsten,
aaaaaaaaaain jener eher kurzfristigen Sicht,
die wir so lieben, weil wir sie für süße Dinge nutzen,
Dummheiten wie den Zweitaktmotor oder Bumsen,
aaaaaaaaaada kümmert uns plötzlich das Schrauben nicht.
Und doch wird in diesen, sagen wir, leicht gelogenen
Momenten, meistens auch besinnungslos
euphorischen, die Schraube unsres Lebens festgezogen.
Wir kommen aus diesem Gewinde nimmer los.
Die Sekte oder Decke dient dazu, das zu verschönern.
aaaaaaaaaaDamit man eher damit einverstanden ist.
Geschraubt wird sowieso, doch nicht um zu verhöhnen
die Menschen, wie sie manchmal glauben, wenn sie hören,
aaaaaaaaaawas sie nicht hören wollen. An den Ist-
Zuständen änderts alles; wenn man sie nur gutheißt,
sind sie leicht zu manipulieren, sozusagen weich.
Die Temperaturen der Seelen sollten immer etwa gleich
heiß sein wie die Umgebung, dass es sie zusammenschweißt.
Und wie ein Einziges bewegt der Mensch die Welt,
aaaaaaaaaadie Welt den Menschen, der sie mag,
weil sie ihm auch in allem irgendwie gefällt.
Und er sich noch im Schlimmen gern zu ihr gesellt.
aaaaaaaaaaDer schöne Schmerz, unerbittliche Tag,
leichter Missklang, welcher nur reizt zu mehr –
wir lieben diese mehrdeutigen Sachen sehr.
Ihr habt es, wo alles erreichbar schien, vergessen,
wie sehr das, was es ist, längst in eurem Ermessen
begraben ist, während ihr nach noch mehr vorausbestimmtem
aaaaaaaaaaMaterial die Hände recktet,
um es anzumalen, euch anzueignen, zu gebrauchen, flimmernd
vor Gier, Nichtigkeit mittels Geistmanöver anzuzünden,
aaaaaaaaaaeuch flammend lecktet,
verachtend euch, voll Sehnsucht, euch zu wissen,
in Eile zu verschwinden, hoheitsvoll und bissig
last ihr Bücher, angetrieben von vagen Schuldgefühlen,
legtet die gellenden Ohren auf Pfühle, voll mit Müllen.“
(…)
Ann Cotten liest aus ihrem Versepos Verbannt! Teil 1 / Teil 2
ein Rascheln im Sellerie, ein Tiger verschwindet, in der Ferne detoniert eine Atombombe, und das Bewusstsein beginnt, rückwärts zu laufen. Es gehört einer Fernsehmoderatorin, die aufgrund wiederholten Fehlverhaltens auf eine einsame Insel verbannt wurde, ausgestattet nach eigener Wahl mit Messer, Schleifstein und Meyers Konversations-Lexikon.
Doch sie ist nicht allein. Hier sind schon fünfundzwanzig Matrosen, die in den Jahren seit ihrem Schiffbruch eine beachtliche kleine Parallelgesellschaft aufgebaut haben, sie heißt Hegelland. Ursprünglich Quäker, hängen sie jetzt der selbsterfundenen Schraubenreligion an und unterhalten in arbeitsamer Kulturleistung drei Pressen von kontinuierlich steigender Druckqualität. Was wird nun angesichts der ersten Frau passieren, und was, wenn mehr kommen?
In 399 Neo-Spenser-Strophen schildert Ann Cotten die Turbulenzen, die nach einer weiblichen Flüchtlingswelle aus dem Internet in Hegelland entstehen. Die verschuldeten Prothesenträgerinnen werden unwillentlich zum Katalysator einer schon lange schwelenden Konterrevolution. Mithilfe von Reimen, Anspielungen, synästhetischen Zwängen und großer Anschaulichkeit wird dieser luzide Alptraum auch in Ihr Bewusstsein gehämmert.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2016
– Ann Cotten ist die klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache. Ein Gespräch über ihr neues Epos Verbannt!, den Psychoterror des Internets und die Konterrevolution japanischer Zedern. –
Im Pluriversum der Poesie ist Ann Cotten ebenso zu Hause wie in den Metropolen. Während sie gerade zwischen Berlin, Wien und London pendelt, spielt ihr neues, die Sinne taumelnd machendes Werk auf einer einsamen Insel. Verbannt! heißt die Mischung aus Pop und Mythos, aus Hoffnung und Vergeblichkeit. Und mit ihm schreibt die 1982 im amerikanischen Iowa geborene Schriftstellerin ein Projekt fort, das anders ist, als alles, was es in der deutschsprachigen Literatur sonst gibt. Ann Cotten geht zurück in die Geschichte des Dichtens, um ganz im Heute anzukommen. In der bei Byron, Shelley und Keats beliebten Spenserstrophe ist ihr jüngstes Versepos erzählt. Ein Drahtseilakt zwischen seelenvoller Romantik und ausgebufftem Witz, über dessen Gefahren die Dichterin bei ein paar Bieren im Berliner Lokal Keyser Soze erzählt.
Paul Jandl: Der an eine öde Schwarzmeerküste verbannte Ovid wäre vor Neid erblasst. In Verbannt!, dem neuen Versepos von Ann Cotten stehen Palmen am schönen Strand von Hegelland. Neben einem Herrn namens Wonnekind streift ein lustiger Trupp aus der griechischen Mythologie über die Insel, Hermes Wolpertinger ist da und ein gewisser „Pan Orama“. Es gibt Internet und sogar eine „Schraubenreligion“.
Ann Cotten: Es geht – ich sage nur: Hegel! – um Dialektik. Die Dialektik steht mit dieser Schraubenreligion in Verbindung. In meinem Kopf zumindest: Es ist das Halbperfekte, das nicht ganz Runde, das einen aber doch weiterbringt. Wie wenn man sich mit einem hinkenden Fuß dreht. Die Dynamik entsteht durch den Defekt.
Jandl: Am Anfang Ihrer Geschichte steht die Schuld, eine erotische Verfehlung im Medienmilieu. Dann kommt die Verbannung. Drei Dinge darf die Verbannte auf die Insel mitnehmen. Sie entscheidet sich für ein Messer, einen Schleifstein und ausgerechnet für Meyers Konversationslexikon von 1910, einundzwanzig Bände.
Cotten: Ich habe im Altpapier Meyers Konversationslexikon von 1910 gefunden, und da hatte ich die Idee, dass jemand damit auf eine Insel verschlagen werden könnte. Zunächst dachte ich an Prosa. Aber da braucht man immer so eine Nähe zu den Figuren, so eine dicke, schwerfällige Konsequenz, da ist zu wenig Abstand zwischen den Worten, zu wenig Luft zum Spielen.
Jandl: Eine schöne platonische Idee: Es gibt die Insel, man ist dort aber mit Wörtern und Definitionen allein, die Dinge selbst gibt es nicht. Verbannt! ist eigentlich Dystopie und Utopie in einem.
Cotten: Ich war ganz beim Problem Hegel: Arbeit an einem System, das niemals gelingen wird. Während man schreibt, verändern sich die Wörter und Begriffe. Das System verzieht sich sozusagen, wie ein Fensterrahmen. Und natürlich ist das auch beim Text so. Während ich die Verse schreibe, schiebt sich die Wirklichkeit zwischen die Wörter, und die Geschichte verzieht sich. Was mir übrigens gefällt, sind manche japanische Erzähler. Die klingen naiv und intelligent. Im Vergleich stinkt europäische Prosa immer nach Ideologie. Man muss immer der Versuchung widerstehen, ins Auskennerische abzudriften, ins augenzwinkernde you know, you know.
Jandl: Dass sich Verbannt! nicht bei seltenen Versmaßen auskennt, kann man jetzt aber auch nicht sagen. Das Epos ist in Spenserstrophen geschrieben.
Cotten: Wenn ich mir so ein altes Versmaß hernehme, dann hat das einen experimentellen Charakter. In diesem Fall bin ich über den englischen Dichter W.H. Auden auf die Idee gekommen, mit der Spenserstrophe zu arbeiten. Auden hat auf dem Schiff nach Island eine Parodie von Byrons Childe Harold geschrieben, das durch seinen massiv tuntigen Humor die Sache ein bisschen in die Music Hall transponierte. Schon Byron beherrscht das recht strenge Reimschema – ababbcbcc mit der letzten Zeile als Hexameter – ganz souverän, er schreibt Strophe um Strophe quasi zur Entspannung vor dem Schlafengehen oder beim ersten Rotwein nach dem Aufwachen. Weil es im Deutschen nicht so viele vertretbare Reime gibt, geht es bei mir meistens so abaabccdd, wobei öfters eine Zeile hinzukommt, wenn es grad lustig ist, bei einem Reim zu bleiben, oder ich trage einen Reim in die nächste Strophe weiter.
Jandl: Im Buch gibt es neben einer Schraubenreligion auch eine „Kryptomerien-Bewegung“.
Cotten: Kryptomerien sind Japan-Zedern. Das Wort stand erst einmal nur da, weil ich es für einen Reim brauchte. Dann wurde es das Maskottchen für eine Art Konterrevolution oder Widerstandsbewegung. Das ist ein bisschen wie das Ende der DDR – mit dem, was man seit dem Mauerfall hat, dieser „Lidl-Freiheit“, ist man auch nicht wirklich zufrieden. So ist das halt im Buch. Die Wirklichkeit, wie ich sie mir in meinem Kopf zusammenfasse, wird zur mythologischen oder allegorischen Erzählung. Und da spielen moralische Abbiegemöglichkeiten eine wichtige Rolle.
Jandl: So ist es immer bei den Büchern von Ann Cotten. Man kann ganz trivialen Spuren folgen oder die Sache sehr hoch hängen.
Cotten: In meinem Kopf ist das Politische schon wirklich wichtig, und jede Erzählung ist auf eine gewisse Weise politisch. Aber auf sehr bochene Weise. Bochn, wie der Wiener sagt, also etwas ungeschickt. Aber auch sehr unschuldig. Die Bochenheit entspricht ungefähr meiner Weltsicht. Und es ist alles mit wenig Sorgfalt zusammengezimmert, aus Ungeduld. Es sind nur Modelle, Skizzen. Ich möchte herausfinden, was ich denke, und nicht die Ansichten anderer Leute nachplappern.
Jandl: Wenn es im Buch um eine Utopie geht, dann schaut die Verwirklichung dieser Utopie eigentlich auch ziemlich zusammengezimmert aus. Richtig glücklich sind die Leute auf ihrer Insel nicht.
Cotten: Aber nachher, nach der Kryptomerienrevolution sind sie noch unglücklicher. Tropical Island, haha.
Jandl: Es beginnt ja eigentlich recht pompös. Die Musen werden angerufen. Und Sex wird auch versprochen.
Cotten: Ich bin auch enttäuscht von diesem Abfall gegen Ende hin. Während ich immer dachte, dass es endlich losgeht, habe ich gespürt, dass ich allmählich genug habe von diesem Versmaß. Sex gibt’s übrigens bei Hermes Wolpertinger. Man muss halt kapieren, dass das Sex ist und nicht einfach ein Trip.
Jandl: In Verbannt! wird auch abgerockt. Es gibt atemberaubende Reime:
Doch geb ich zu, so ziemlich alles Doofe
gliedert sich in Exposition, Peripetie und Katastrophe.
Im Allgemeinen wär es damit abgetan. Ob pur
oder vermischt mit Eigenem,
das Drama ist zu erleiden. Es erfinden aber ist Tortur!
Cotten: Hör ich gerne, dass das nicht nur mir Spaß macht. Ein paar Mal habe ich übrigens nachgeschlagen, es gibt so Onlinereimlexika für Rapper. Aber letztlich braucht man’s nicht.
Jandl: Keine Anstrengung, sondern Lockerung.
Cotten: Absolut. Man kann es nicht forcieren, aber seine Gehirnstrukturen neu ausrichten: auf Reim. Es darf aber auch nicht zu leicht gehen. Denn dann wird’s oft blöd.
Jandl: Mit der Spenserstrophe ist es ja wie mit allem, was in der Literatur strenge Form ist. Das Scheitern wird beim Schreiben genauso generiert wie das Gelingen.
Cotten: Ja, wenn Steine im Weg liegen, wenn etwa der Reim schwierig ist, dann kann man sich überlegen, dem Stein nach links oder nach rechts auszuweichen. Und das wiederum gibt dann natürlich auch den weiteren Weg vor. Und das Scheitern ist auch wieder ein Scheitern an der Realität, an der Realität des Reimproblems etwa. Der Vorsatz, ein Versepos zu schreiben, ist noch die reinste poetische Träumerei, aber schon beginnen die Probleme. Manchmal klappert es so dahin und scheint ganz locker, aber man muss aufpassen. Es ist wie auf einer Schotterstraße, kleine Löcher versetzen das Ganze in Schwingung, und die Schwingung wird immer größer, bis man aus der Kurve fliegt.
Jandl: Und beim Versepos, anders als beim Gedicht, muss man ja auch die Handlung vorantreiben.
Cotten: Ja, genau, auch das noch. Ich schreibe normalerweise ja keine narrative Prosa, und ich muss mich an eine Handlung erst herantasten. Beim neuen Buch ist es der Versuch, einen Plot zu bauen, der nicht auf autobiografischer Erfahrung beruht, sondern auf Ideen. Und Reimen. Man muss wie beim Skifahren locker und konzentriert bleiben. Wenn man mehrmals hintereinander einen Satz nur wegen des Reims macht, ist man draußen. Wenn die Reime zu zahm sind, ist es aber wieder fad. Eigentlich ist das Buch nur eine Kleinigkeit nebenbei, ein Experiment, eine Fingerübung auf dem Weg zur Science-Fiction.
Jandl: Wirklich? Science-Fiction?
Cotten: Das ist dann wohl so etwas wie Steampunk oder Retrofuturismus, was? Ich kann nicht genau sagen, warum, aber Hegel ist für mich voll die Science-Fiction. Der Weltgeist! In der Science-Fiction-Literatur sind ja, finde ich, das Allerbeste die Zeitmaschinen. Gewaltig bewegend! Zeitmaschinen sind wie Abstraktion, eine Perspektive, ein Fenster, eine Fluchtlinie in Vergangenheit und Zukunft zugleich. Dieser Moment in H.G. Wells’ Zeitmaschine, wo er abhebt und die Tage, Monate, Jahre immer schneller vorbeiflackern! Vielleicht ist das so stark, weil es bloß eine Übertreibung des normalen Älterwerdens ist, so wie bei Stanislaw Lems Solaris die Erscheinungen Verkörperungen von Gedanken, Träumen, Neigungen sind. Das macht geradezu eine Art Slapstick draus.
Jandl: Die Welt wird aus den Angeln gehoben.
Cotten: Ich komme übrigens gerade von einem Symposium zur Frage „Was ist Kritik?“. Bei der Erfindung einer zukünftigen, also nicht historischen Welt, geht es natürlich um eine Fundamentalkritik von allem. Wie bei Lenin, der diese vielen Grundlagenwerke über alles verfasst hat, als müsste er die ganze Welt neu aufstellen. Nach der Tabula rasa ein Nulltext. Der Kitzel der Diktatur ist das dirty pleasure der Science-Fiction-Literatur. Das Vergnügen einer zirka 13-jährigen Seele. Die idealistische Lesart des Aufbaus der Ostblockstaaten schwingt aber auch mit. Ich war ja während der Schulzeit andauernd mit Inselverwaltung beschäftigt. Wir haben uns Utopien mit allen Details ausgemalt von der Agrarpolitik über die Gestaltung der Städte bis zur Wirtschaftsordnung.
Jandl: Im neuen Buch ist es ja auch Tabula rasa.
Cotten: Laborsimulation. Es interessiert mich, wie man einen Gedanken zum Körper bringt. Zum Beispiel: Wo kaum was ist, ist keine Selbstbeschränkung notwendig. Puritanistische Regeln entwickeln sich nur, wo man mit Überfluss umgehen muss. Jetzt gibt’s überall Dosenschinken und Cola, und Polynesien hat ein Problem mit Fettsucht.
Jandl: Ein schöner satirischer Witz des Buches betrifft das Internet. Wie eine Nabelschnur hängt es an den Figuren, und daraus kommt immer Gekicher. Egal, was aus den utopischen Ideen werden könnte, das Internet kichert.
Cotten: So erlebe ich es auch. Man sitzt in seinem Zimmer und arbeitet, und das Internet kichert. Das ist es ja: Ich konzentriere mich auf kleinste Dinge, und das Internet hat ja immer den Überblick. Über alles und jedes. Es ist noch viel besser als Meyers Konversationslexikon von 1910. Meine Konzentration muss ihm lächerlich vorkommen. Aber auch meine Ablenkbarkeit. Alles ist in seinem Licht lächerlich! Das muss eine Art Teufel sein, der mir alles madig macht!
Jandl: Das Internet hält sich ja selbst für eine Art Wahrheitsinstrument. Zum Schriftsteller kann es immer sagen: Google doch einfach, wie es wirklich ist.
Cotten: Aber ich traue dem Internet keine Weisheit zu. Es kichert nur blöd und weiß alles besser. Es ist süffisant und lacht alles aus. Psychoterrormäßig. Und was besonders fies ist: Es führt auch noch Buch über alle, die mit ihren Träumen und Utopien gescheitert sind. Es kann eigentlich nur pessimistisch machen.
Jandl: Auch auf der sprichwörtlich einsamen Insel ist das Internet mit dabei.
Cotten: Ja. Man hätte es mit einem diktatorischen, antidemokratischen Dekret aus meiner Utopie ausschließen müssen. So aber wird mein Versepos am Ende unübersichtlich. Ganz anders wäre es, wenn Meyers Konversationslexikon die alleinige Quelle des Wissens wäre. Das ist eine geordnete Welt. Aber hat man nicht irgendwie das Gefühl, dass es das Internet immer schon gab und dass man es technologisch nur sehr spät erschlossen hat? Vielleicht ist es als unterirdisches Reservoir schon lange da. Als Kanalsystem. Man darf es nicht idealisieren. Das Internet ist voller Schlampereien.
Jandl: Alles wissen ist ja auch eine Utopie. Die Mönche in den mittelalterlichen Bibliotheken…
Cotten: Ja, vielleicht ist das ein Anfang. Wissen zusammenzutragen aus verschiedensten Quellen. Ein erstes Onlinegefühl. Und es gibt natürlich Gustave Flauberts großartige Persiflage auf die Idee, Wissen zu akkumulieren. Bouvard und Pécuchet hasten von Gegenstand zu Gegenstand, lesen Tonnen von Büchern und wissen am Ende eigentlich gar nichts. Ich habe das Buch während der Arbeit an Verbannt! gelesen, und es hat mich sehr verstört.
Jandl: Warum?
Cotten: Ich hole mir auch stapelweise Bücher aus den Bibliotheken. Aber ist es jemals genug? Ich verliere mich in verschiedenen Narrativen, mein Interesse springt… Wenn nichts dabei rauskommt, ist diese Bibliotheksbulimie ja nur eine bürgerliche Neurose. In den „Flüchtlingsgesprächen“ von Brecht ist es ja wieder umgekehrt. Dort ist es der Arbeiter, der meint, dass Bildung für ihn nur Luxus ist. An seinem Leben wird sie nichts ändern. Augenauswischerei, Ablenkung. Aber ich bin getrieben.
Jandl: Wenn wir schon bei klassischen Bildungskonzepten sind: Die Scham, etwas nicht zu wissen, scheint direkt proportional mit den steigenden Möglichkeiten digitaler Recherche abzunehmen.
Cotten: Bei mir gibt es noch große Scham. Allerdings auch oft auf seltsamen Gebieten. Als junger Mensch interessierte ich mich zum Beispiel brennend für Fahrradmechanik, traute mich aber nicht fragen, weil ich meinte, alles schon wissen zu müssen. Dabei ist die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen ein geiler, ein magischer Ort. Hinter einem das, was man schon kennt, jenseits der nächsten Biegung das Unbekannte. Scham empfinde ich heute eher, wenn ich meine, mein Wissen nicht richtig zu organisieren oder anzuwenden.
Jandl: Das cottensche Werk hat ja durchaus was Enzyklopädisches, es ist von Anfang an eine Einübung in die Literatur. Von Fremdwörterbuchsonetten über die konkrete Poesie und Prosamischformen bis zu Byron.
Cotten: Ja, das stimmt schon, und ich werde manchmal gefragt, wann ich denn einmal ein richtiges Buch schreibe, so wie andere Schriftsteller auch. Einen richtig fetten Roman. Schnarch.
Jandl: Aber das Werk ist doch nicht gescheitert, ganz im Gegenteil.
Cotten: Ich weiß es nicht. Ich arbeite schon nach einer Idee, und ich sehe alle Fehler. Vielleicht eben, weil es eine Idee gibt. Die meisten Leute fangen ja einfach etwas an und haben eigentlich gar keinen Begriff davon, was sie da gerade tun. Kinder sind ja auch ohne Plan schnell gezeugt, eine Familie ist gegründet oder ein Unternehmen. Mir ist allzu klar: Die Dinge, die ich schreibe, sind nie perfekt. Deswegen muss ich immer weiter schreiben.
Jandl: Die Schraubenreligion! Gibt es denn in der Literatur überhaupt Perfektion?
Cotten: Goethe! Naja. Ganz allgemein gesprochen: Perfektion ist als Idealdispositiv unersetzbar. Was das neue Buch betrifft und um mal eine maritime Metapher zu wagen: Ich habe mir einen kleinen poetischen Kutter gebaut mit einem Elektromotor dran, und nach und nach fliegen einem die Teile um die Ohren. Totalhavarie. Analyse von Motor und Meer.
Jandl: Das Buch hat außerordentlich feine Illustrationen von der Dichterin selbst. Am Ende gibt es ein Schlusstableau: ein Strand, übersät mit Müll. Eine Ernüchterung nach den utopischen Träumen. Das ist allerschönstes Scheitern.
Cotten: Hm, schön, ja. Man hat einmal über mich gesagt, dass ich wirke, wie aus dem Kanalsystem der letzten Jahrhunderte gefischt. Dass meine Sprache sonderbar ist. Das stimmt schon: Es ist splatter-chaotisch. Man weiß nie, ist es Bullshit oder wahrer als der Boulevard.
– Die Lyrikerin Ann Cotten schreibt ein Versepos und führt ihre Kritiker an der Nase herum: Verbannt!. –
Ann Cotten ist eine Herausforderung für die Literaturkritik. Die amerikanisch-österreichische Lyrikerin schreibt wirr, aber witzig. Also, finden viele, sie sei ironisch. Sie jongliert mit Pointen der Geistesgeschichte und arrangiert diese auf denkbar ekstatische Weise. Also beherrscht sie ihren Fundus virtuos. Als Fingerübung betreibt sie Dekonstruktion so, dass es sich nur um Parodien einer einst vom Pathos des Politischen getragenen intellektuellen Praktik handeln kann. Weil die Autorin hier und da Schwänze am falschen Geschlechte wachsen lässt und Vokale von ihrem Wortkörper amputiert, unterläuft Cotten alle Kriterien der traditionellen Literaturkritik.
Und wenn man nun wie die 1982 geborene Autorin gleich in der Einleitung ihres Versepos mit dem altmodischen Titel Verbannt! deutlich macht, dass man seinem Kritiker immer schon eine Nasenlänge voraus ist, indem man dessen blöden Essentialismus geißelt, will man am Schluss nicht dieser blöde Kritiker gewesen sein. Eine Poetik der Verweigerung sehen die Aufgeschlossenen hier am Werk; auf die Rezeptionshaltung kommt es an! Den Skeptischen legt Cotten verleumderische Worte in den Mund:
„Die Cotten steckt den Kopf jetzt in den Sand“, hör ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen und an ihren Prinzipien hängend, zornbebend bescheinigen der „immer schon verwirrten“ Lyrikerin den Garaus, den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauss.
Also Kollegen: Kopf aus dem Sand! Betreiben wir ein bisschen Wortfeldanalyse und Formenkommentar im Revue-Stil – durchaus mit verschmutzter „Feder“.
Erste Frage: Warum nutzt eine moderne Lyrikerin die Versform für einen Text von immerhin 163 Seiten, wo es sich doch offensichtlich um ein völlig veraltetes Mittel zum Verfassen actionreicher Epen und Lehrgedichte handelt? Dieses war vor dem Schriftzeitalter zum einen mnemotechnisch nötig. Zudem übertraf die den Zeitgenossen erträgliche Pathosspanne die unsrige damals um ein Vielfaches. Bis ins achtzehnte Jahrhundert gingen die Zeitgenossen noch von der heute vollkommen obsoleten Vorstellung aus, die Sprache sei ein seelenloses Material, das sich durch die Auferlegung strenger Regeln einhegen ließ. Von Freud und Wittgenstein noch keine Spur. Der hohe Ton regierte die Literatur.
Ein totaler Anachronismus also, den Ann Cotten da kultiviert, zumal in sogenannten Spenser-Strophen (benannt nach einem Zeitgenossen Shakespeares), die Cotten formal aber gar nicht durchzuhalten vermag, weswegen im Klappentext vorsichtshalber von Pseudo-Spenser-Strophen die Rede ist. Soll jetzt keiner kommen und meckern, nur weil das Reimschema klemmt und die Jamben ziemlich unbeholfen vor sich hin stolpern. Ist doch sowieso nur ein Witz. Aber, das muss man ihr lassen, durchaus ein guter:
Wir spüren die Notwendigkeit einer kritischen Sprache,
Weltwahrnehmung statt Weltgestaltung und eh alles wurscht,
und wie bei Wurst geht’s um die Hängung.
Zweite Frage: Die Hängung, sprich die Positionierung des literarischen Objekts im Raum der Kunstsprachen. Dritte Frage: Der Inhalt.
Eine junge Moderatorin wird aufgrund ihrer Liebschaft zur Tochter einer Kollegin auf eine exotische Insel verbannt, die sich Hegelland nennt und auf der es irgendwie dialektisch zugeht. Denn kaum gelandet, wächst der bisexuellen Moderatorin auch schon ein Penis – und die Geschlechtergrenzen lösen sich in Luft auf. Hermes Wolpertinger ist von nun an der Name des lyrischen Ichs. Und als jener erlebt es die Abenteuer des Insulaners in der Strafkolonie. Im Gepäck hat es die zweiundzwanzigbändige Ausgabe von Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1910:
Ich aber hab Information!
Hab echte alte Seiten zu meiner Disposition
Und das ist nützlich, denn das Inselleben kann mitunter eintönig sein, auch wenn es dort Matrosen (Genets queerer Querelle ist auch dabei), Anhänger einer ominösen Schraubenreligion und entlaufende Musen aus dem Internet kennenzulernen gilt. Ein kühles Bier wäre schön, also erläutert das Lexikon, wie man es braut – in großen Enjambements treibt’s den Leser zum herben Genuss. Dabei lässt der Insulaner sich den Verstand vernebeln mit den Erzeugnissen der Inselzeitungen, derer es drei gibt: Die „Na-Presse“, die „Zy-Presse“ und das „Wischblatt“, wobei „Na“ und „Zy“ für naiv und zynisch stehen.
Ein übergeordneter Gedanke des Epos, von seinem Thema wollen wir an dieser Stelle lieber gar nicht reden, scheint die Möglichkeit einer Insel zu sein, auf der so etwas wie ultimatives Alleinsein geboten wird. Doch weit gefehlt, denn das Internet selbst räkelt sich kabelsalatmäßig unter Palmen. „Es ist wie ein Schlepper, kein Mensch weiß aber, / wo man rauskommt.“ Sein alerter Spion, Abkömmling einer irischen Familie im Margarine-Business, heißt Pan Orama. Das ist natürlich ein feiner Kalauer, und davon versteht die Cotten wirklich mehr als ihr Gewährsmann, der Überwachungsexperte Foucault. Doch jetzt ganz ehrlich, liebe Kritikerkollegen, Hand aufs Herz: Wer will so einen Kokolores, der sich in vierhundertdrei Strophen über das Raunen der Musendichtung lustig macht und dabei ersatzweise weißes Rauschen erzeugt, ernstlich lesen? Wäre die kleine Form, die Ann Cotten in früheren Gedichtbänden mit teilweise erstaunlichem Ergebnis beackert hat, da nicht das deutlich bessere Format?
Die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen sei ein geiler, magischer Ort, behauptete die Autorin kürzlich in einem Interview. Die Antwort klingt so originell, dass sie schon stimmen wird. „Splatter-chaotisch“ sei ihre Sprache. Und der Wahnsinn, den sie kultiviert: natürlich hat er keine Methode:
Doch geb ich zu, so ziemlich alles Doofe
gliedert sich in Exposition, Peripetie und Katastrophe.
Daraus folgt:
Ich hab keine Wahl, es wird hier wohl kein Drama geben,
weil dafür müssten mehrere Personen reden.
Ganz monoton ist das Ganze allerdings nicht. Immerhin kommt mit Homer und Vergil, mit Wordsworth und Keats, dem Marquis de Sade oder Jean Genet ein ganzer Chor von Einflüsterern zu Wort, quasi hinter Palmwedeln versteckt:
Nur hin und wieder baut ein Künstler kosmisch schöne Normen,
die meisten kleckern. Doch die Regelmäßigkeiten
ergeben sich fast gleich deutlich gerade aus dem Vermeiden.
So weit, so naseweis. Vielleicht tritt jetzt ein, was Ann Cotten immer schon vorausgesehen hat. Die Spielverderber steigen indigniert aus der Lektüre aus. Sie trösten sich mit den witzigen Comicstrips, die Cotten selbst gezeichnet und ihrem Versepos beigelegt hat. Die Fans werden die Genialität ihrer Pastichekunst feiern. Für sie ist auch weiterhin klar:
Der Sellerie raschelt geheimnisvoll im Mondlicht
Das glauben wir kaum – mit oder ohne Mondgesicht.
– Pseudo hin oder her: Mit ihrem Versepos Verbannt! legt Ann Cotten ganz gegenwärtige Zwischen- und Gegengesänge in Spenser’schen Stanzen vor. –
„‚Die Cotten steckt den Kopf jetzt in den Sand‘, hör ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen / und, an ihren Prinzipien hängend, zornbebend bescheinigen / der ‚immer schon verwirrten‘ Lyrikerin den Garaus, / den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauß“ schickt Ann Cotten ihrem neuen Buch, dem Versepos Verbannt!, einleitend voraus – und nimmt möglichen Kritiken den Wind schon aus den Segeln, bevor überhaupt in See gestochen wird. Fraglos: ein Taschenspielertrick. Kein ganz neuer zumal. Man kennt ihn von Norbert Gstrein, zum Beispiel. Der hat in seinem Schlüsselroman Die ganze Wahrheit auch allerlei erwartbare Einwände gegen sein ganzes Unterfangen angeführt. Genützt hat es dem Buch wenig.
Cotten freilich setzt noch eins drauf: „Und in der Tat, warum sollte jemand das lesen?“, heißt es. Und eine Hand voll Zeilen später kommt Lenin zum geflügelten Wort: „Was tun?“ Davor war schon vom „I Ging“ – John Cage lässt grüßen – die Rede und kurz darauf schleicht nach den Musen („schlaft weiter, schlaft, schlaft lange!“) auch ein „ganz moderner, deliriöser, inadäquater Herr Marquis de Sade in Fraungestalt“ ums Eck.
Um sie – das stellt diese „Einleitung“, die nicht einleitet, sondern mitten hineinschmeißt, klar – wird es in der Folge gehen. Irgendwie jedenfalls. Denn obwohl ein Epos grundsätzlich erzählender Natur, also ganz plump gesagt handlungsgetrieben ist, so wirklich schwindelfrei nacherzählen lässt sich Verbannt! nicht.
Trotzdem und ohne Gewähr, ein Versuch: Eine TV-Moderatorin wird, nachdem sie der minderjährigen Lena unbotmäßig nahekam, auf eine weit weniger einsame Insel als zunächst angenommen verbannt. Ein Eiland namens Hegelland, auf dem sich Signifikate nicht um Bezeichnungen kümmern und selbst Meyer Konversationslexikon (aus dem Jahr 1910), das der Protagonistin als mehrbändiges Buch für die Insel geblieben ist, wird hier keine Ordnung schaffen. Alles löst sich auf, verkehrt, verirrt, verzaubert sich auf Hegelland, wo – natürlich – weltgeistgetränkte Theoriearbeit auf zeitgeistig aufgemaschelte Praxis trifft – und selbst der strenge Reim von anno dazumal ganz absichtsvoll quietscht und knarrt.
Verfasst hat Ann Cotten, geboren in Iowa, aufgewachsen in Wien und zumeist in Berlin ansässig, ihr an Assoziationen, Zwischen- und Gegengesängen, Kalauern und Hintersinnigem reiches Epos in so genannten „Spenser-Strophen“. Der Klappentext kündigt einem, reichlich klugscheißend, aber was soll’s, „Pseudo-Spenser-Strophen“ an. Pseudo hin oder her: Die Spenser’schen Stanzen gehen auf Shakespeares Zeitgenossen Edmund Spenser zurück und sind Ausdruck viktorianischer Strenge: Jede Strophe hat neun Verse und das feste Reimschema ababbcbcc. Cotten hat diesen formalen Schraubstock fürs Deutsche adaptiert – und sich dabei die Freiheit genommen, so fest zuzudrehen, dass es Stock samt Stein aus seiner Verankerung reißt: kreative Zweckentfremdung, sprachbewusst, ungemein klug, gewagt und nie frei von bitterem Schmäh. Permanent blitzen im Irgendwie und Irgendwo schillernde Gegenwartsbezüge auf, gesellschaftspolitische genauso wie eher popkulturelle. Aber wirklich zu fassen kriegt man sie nicht. Dass irritiert zwar, aber geschadet hat etwas irrlichternde Irritation bekanntlich noch nie. Im Gegenteil: Verbannt! ist ein Meisterwerk, das Kopfzerbrechen bis zum Kopfweh bereitet. Mehr geht eigentlich nicht.
– In ihrem Versepos Verbannt! schickt Ann Cotten den weiblich gewordenen Weltgeist in Gestalt einiger postmoderner Internethippieamazonen auf die Insel – und übertrifft als Autorin sich selbst. –
Bevor man sich von Ann Cottens neuem Buch Verbannt! umgarnen lässt, einem Versepos in 403 Strophen, sollte man Folgendes wissen. Edmund Spenser veröffentlichte 1590 das Versepos The Faerie Queene, eine Eloge auf Elizabeth 1., und er tat dies in Strophen von jeweils neun Versen, die sich nach einem festen Schema reimen (nämlich: ababbcbcc).
Dieses Schema nun dient der preisverwöhnten Autorin, die nach Selbstauskunft gern „alte Bücher“ liest, als Vorlage für ihr ziemlich heutiges Stück. Vorlage? Na, eher als Einladung zur schlampig-genüsslichen Spielerei. Denn Cotten ist nicht Gernhardt; das Heiterkeitsdiktat zur Versöhnung der Dichtung mit der Basis-Melancholie des Lebens lehnt das verrückte, verkopfte Riot Girl der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Ihre Leserschaft soll’s nicht leicht haben, nein, nein.
Der Verlag weiß das wohl. Ein Plot muss her! Deshalb versucht die Gattung Klappentext hier das Unmögliche. Und das klingt dann so:
In 403 Pseudo-Spenser-Strophen schildert Ann Cotten die Turbulenzen nach einer weiblichen Flüchtlingswelle aus dem Internet.
Stopp. Bevor wir uns sagen lassen, dieser „luzide Alptraum“ hämmere (sic) sich in unser „Bewusstsein“, übernimmt jetzt die böse Kritikerin. Und das ist durchaus im Sinne der Dichterin, die gleich in der „Einleitung“ ihre Kritiker schmäht, vermutlich um ihnen den Wind aus den Segeln ihres eventuellen Widerstands zu nehmen. Aber was, wenn da gar kein Widerstand ist? Die gute Stimmung ist leider hin. „,Die Cotten“, schreibt Cotten, „steckt den Kopf jetzt in den Sand‘, / hör ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen / und, an ihren Prinzipien hängend, zornbebend bescheinigen / der ,immer schon verwirrten‘ Lyrikerin den Garaus, / den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauß.“
Ach Schwester Hochmut, war das nötig? Aufatmen, als „die Zeit für Einleitung fast um“ ist. Endlich kann es losgehen mit der Robinsonade, der abenteuerlichen Reise, von der hier dichtend die Rede ist. Ann Cottens fraglos erstaunliches Hirn, von unverschämten Musen zuverlässig geküsst, ist nun ganz auf Anti-Plot geeicht, sprich: „Echte“ Handlung will die Autorin gar nicht. Die Kopfgeburten dieser Verse kommen vielmehr aus dem Sprachmaterial selbst, aus der Dichtung der Alten (bei Spenser allein bleibt es nicht), die auf den „Weltplastikmüll“ der Jetztzeit trifft. Der wird an Küsten angeschwemmt und entstammt, vermuten wir, der Bewusstseinsindustrie im Großen wie im Kleinen. Oder, wie es an einer Stelle heißt:
Nichts ist echt. Was nicht Lüge ist, wird Kitsch sein.
Das Elisabethanische Zeitalter war in Sachen Gender-Trouble höchst entspannt. Daran will die 1982 im amerikanischen Iowa geborene und weitgehend in Wien aufgewachsene Ann Cotten offenbar anknüpfen, an ein Goldenes Zeitalter, als das schöne Durcheinander allerdings hauptsächlich für Männer Vergnügen bereithielt. Schluss damit, mag sie sich gesagt haben. Jetzt kommen die Frauen auf die Insel, beziehungsweise erst mal eine, und die wird eine prachtvolle Metamorphose erleben. Ihr wächst, kaum angekommen, ein Riesenphallus, in dem man sogar herumspazieren kann.
Wer diese Frau ist? Es handelt sich um eine intelligente Fernsehmoderatorin, die verurteilt wird in einem „Schiedsgerichtsprozess“, weil sie an der Manga-süchtigen Tochter Lena ihrer Freundin herumgefingert hat; sie mochte das Mädchen wohl wirklich gern. Die Elizabethaner hätte das nicht weiter gekratzt, aber heute – Stichwort Überwachung, saubere Sitten, Tugendmoral – landet die patente Fernsehmoderatorin, die fortan „ich“ sagt, auf der „einsamen Insel“ („Lena und ihre Mutter werd ich wohl nicht wiedersehn“). Verbannt!
Klar darf sie was mitnehmen, und das wären ein Messer mit Schleifstein plus Meyers Konversations-Lexikon in 22 Bänden, Ausgabe Leipzig 1910. Dieses herrliche Lexikon gesellt sich zu Dafoe, Homer, Vergil, de Sade, Genet, Marx, Keats, Jakobson, Strugatzki, Tschernyschweski hinzu als Quell der Assoziationsgewitter, die auf die verwandelte Moderatorin niedergehen. Ihr neuer Name: Hermes Wolpertinger. Der Ort: irgendwo im großen Meer. Warm ist es, Palmen stehen herum, die Moderatorin klettert da erst mal rauf, unten pennt ein Tiger, man sieht seine Erregung, aber nicht lange, denn es fällt eine Kokosnuss zielgenau darauf, peng! Überhaupt durchwabert viel Comic-Esprit die poetisch aufgeheizte Tropenluft, bis hin zum „Tempel“, der den babylonischen Turm in Form eines gigantischen Dübels nachformt. Ein seltsamer Schraubenkult herrscht hier, begleitet von handwerklichem Geschick der Neuankömmlinge Hilde, Mathilde, Dunja, Latosha und weitere, eine ganze Flüchtlingswelle aus dem Internet. Die Matrosen vor Ort (einer heißt Querelle!) freuen sich, alles nette Jungs.
„Hegelland“ heißt das Eiland allen Ernstes, und nun dürfen Sie raten, wer dort herrscht? Der Weltgeist, genau, aber der weiblich gewordene Weltgeist. (Das Ganze eine Synthese aus totaler Doofheit und totaler Philosophie.) Doch bevor es dazu, kommt und bevor die tolle schräge Zeit wieder vorbei ist, dieses surrealistische Happening, diese „Neo-Oper“ für postpostmoderne Internethippieamazonen, müssen noch zwei Herren erwähnt werden, die auf der Insel quasi regieren. Hermes Wolpertinger (alias „Ich“, die Fernsehmoderatorin) lernt gleich am ersten Morgen einen gewissen Wonnekind kennen, einen eher normalen Mann, und verliebt sich.
Liebe, Libido, Sex – da ist was los. In tausend „Gay-Chat-Foren“ chatten „Millionen Gleichgesinnte“, „dicht an dicht wie Plankton“ – puh, da wundert es einen schon nicht mehr, wenn das schaumgeborene Phallusweib irgendwann ausruft:
Endlich wirklich allein!
Ein kurzes Vergnügen allerdings; diverse Aufgaben warten auf es/auf sie. Zum Beispiel muss Bier her. Glücklicherweise hilft „Meyer“ aus. Das Lexikon weiß, wie man braut. Es folgen, etwas länglich, einige Pseudo-Spenser-Strophen über die Bierherstellung („getrunken wird immer“). Aber Alleinsein, wirkliches!, das gibt’s im Grunde nicht mehr. Schuld hat World Wide Web.
Einmal heißt es:
Wir finden immer alles scheiße in Europ-
a, und hier ist sicher nur manches besser…
Das ist genial:
Das „Objekt a“ (Lacan) abzutrennen vom Körper der geraubten Europa! Dass man das noch mal erleben darf, dieses freie Flottieren der Partialobjekte, in gewissermaßen unerschütterter Theorie-Euphorie, die Ann Cotten sich bisher – sie ist ja noch jung – nicht hat vermiesen lassen. Sie beschließt, sofern sie wirklich sie ist und nicht Hermes Wolpertinger:
Das Internet ist pleite!
Damit wäre auch der Internet-Spion arbeitslos. Sein Name – Pan Orama – erklärt sich daher, dass seine Eltern Margarine machten aus Abfallprodukten, denn sie waren aus Irland („O’Rama“) und hatten zwölf Kinder (vgl. Kapitel 11, 8. Strophe). Der Rama-Konsum hat natürlich allerhand Plastikmüll produziert, der als „Seemüll“ des Versepos’ Coda geben wird, als „alles zusammenbricht“. Doch vorher noch ein Wort zur Politik.
Der Witz ist nämlich, dass auf dieser gar nicht so einsamen Insel die Alte Zeit insofern reproduziert wird, als es – noch – Pressen gibt, im buchstäblichen Sinne des Wortes: gedruckte Zeitungen. Und zwar gleich drei, die „Na-Presse“, die „Zy-Presse“ und das „Wisch-Blatt“. Sie repräsentieren die Aggregatzustände der alten und der neuen Bewusstseinsindustrie: Naivität, Zynismus und Boulevard. Das ist klug und bitter gesehen!
Wenn es einen Aufruhr gibt auf dieser traditionsgesättigten Insel, die Ann Cotten mit schönen handgefertigten Comic-Blättern illustriert, wenn es eine Revolution der Zeichen gibt, dann gilt sie den Medien. Das, sagt die längst besänftigte, angetane Kritikerin, könnte überhaupt der Kern der verrückten Idee einer weItabgewandten Verbannung in Versform sein: Es holt dich immer wieder ein. Oder auch: Alt und Neu sind auch nur Fiktionen. Verbannt! ist ein stressiges, aber virtuoses Buch; es werden sich daran noch viele Germanisten die Zähne ausbeißen. Fürs Erste aber bleibt festzustellen: total abgefahren.
– Frei nach Flauberts Roman Bouvard et Péchuchet: Ann Cotten und ihr angriffslustiges, vergnügliches, boshaftes Versepos Verbannt! mischt die Insel Hegelland auf. –
Bei der Arbeit an einem „scheußliches Versepos“ hat sich die Dichterin Ann Cotten vor einiger Zeit einen prominenten Verbündeten gesucht. Sie hatte sich festgelesen in Gustave Flauberts letztem Roman Bouvard und Pécuchet, einer herrlichen Farce auf den Bildungseifer zweier Büchernarren, die das Wissen ihrer Zeit sammeln wollen und dabei ein absurdes Gewebe aus Zitaten kompilieren. „Ich mache mir Notizen für ein Buch“, so Flaubert 1872, „in dem vorhabe, meine Galle auf meine Zeitgenossen zu speien. Die Kotzerei wird mich wohl einige Jahre in Anspruch nehmen.“ Ann Cotten hat sich in ihrem jüngsten Lyrik-Projekt auf ihre eigene, stets angriffslustige, vergnügliche und boshafte Weise ausgekotzt.
Dass „Dichtung und Überfall“ zusammengehören, hat Cotten bereits in dem Poetik-Buch Helm aus Phlox (2011) dargelegt – der ästhetisch widerborstige, ketzerische „Veitstanz“ ist seither ihre Methode. Verbannt! nimmt sich die Freiheit, rein gar nichts in den heiligen Hallen der Kultur ernst zu nehmen und stattdessen in lustigem Quergang durch Philosophie, TV-Kultur und Internet-Trash ein Gebräu aus Reality-TV, Pop-Klischee und philosophisch unterfütterten Kalauern zu mixen. Verbannt! ist eine bunte Philosophie-Revue und zugleich eine heitere Mediensatire, die niemanden mit Spott verschont, noch nicht mal die Verfasserin des Langgedichts selbst.
Als „entsetzliche Ballade“ über einen „ganz modernen, / delirösen, inadäquaten Herrn Marquis de Sade in Frauengestalt“ annonciert, bahnt sich das Versepos einen Zickzack-Weg durch die Mythen unserer Medienwelt. Den formalen Rahmen liefert die mehr oder weniger rigide Anwendung der sogenannten „Spenserstrophe“, die von den englischen Romantikern verwendet wurde – eine Strophe von jeweils neun Gedichtzeilen, gereimt nach dem Schema ababbcbcc. Ann Cotten schlägt daraus Profit, indem sie ihre grellen Einfälle in diese lose gereimten Strophen bindet – schon sieht das Ganze nach einem hypermodernen Gedicht in strenger Form aus.
„Man weiß nie“, so hat Ann Cotten selbst sehr offenherzig dem Interviewer der Welt erklärt, „ist es Bullshit oder wahrer als der Boulevard“. Eine kuriose Story hat ihr Epos allemal: Eine Fernsehmoderatorin wird wegen einer erotischen Verfehlung an einer Minderjährigen vor die Wahl gestellt: entweder „unfreiwillige Brustvergrößerung“ oder „endgültige Zivilisationsverstoßung“. Sie entscheidet sich für die Verbannung und landet am schönen Strand von „Hegelland“, wo Palmen wachsen und ein wohlgesonnener Bürgermeister namens „Wonnekind“ und 25 weitere Männer als Quäker hausen und einer „Schraubenreligion“ huldigen. Die Lockerung der ideologischen Schrauben ist Programm. Als hilfreich bei der Kompilation nützlichen wie nutzlosen Wissens erweist sich Meyers Konservationslexikon in einundzwanzig Bänden aus dem Jahr 1910, das die Heldin nach „Hegelland“ mitgenommen hat. Daraus kann sie nach Bedarf Fakten entnehmen, um sie zu neuen Konstellationen zusammenzuklauben. Zu weiteren Akteuren des Versepos gehören so vieldeutig schillernde Wesen wie ein gewisser „Hermes Wolpertinger“ oder der Internet-Spion „Pan Orama“, die in immer neuen Verwandlungsgeschichten durch das Werk geistern.
Auch das Motiv des Vexierspiels mit geschlechtlichen und sexuellen Identitäten zieht sich durch die neunzehn Kapitel von Verbannt. Zu den heitersten Passagen zählen die wunderlichen Zeichnungen und Comics, die Ann Cotten beigesteuert hat, und ihre wunderbar böse Persiflage der Medienlandschaft. So konkurrieren auf „Hegelland“ drei Zeitungen um die Deutungshoheit: die „Na-Presse“, die „Zy-Presse“ und das „Wisch-Blatt“, die sich in ihrer Dummheit nur graduell unterscheiden. Unfreiwillig witzfrei sind dagegen die Exkurse über den Zusammenhang zwischen Poesie und Bierherstellung, wobei die Autorin hier wohl selbst das Konversationslexikon geplündert hat, das ihre Heldin auf die Insel gerettet hat.
Macht also besser gleich Bier aus den jungen Dichtern!
Malzapparate gibt es schon zuhauf.
Macht Bier auch aus den Kritikern und Kunstrichtern!
Lasset sie kommen, stampfet sie und sauft!
So kommen weniger Probleme auf.
Mein Gott, was sind das schöne deutsche Reime.
Obgleich ich bierlos, ist mein Hals wonnig davon im Schleime.
Ist das Resultat solcher satirischen Versübungen nur schlampig produziertes „Dünnbier“, wie es einmal heißt? Keineswegs. Ann Cotten hat mit Sarkasmus, Spott und Boshaftigkeit die ehrwürdige Gattung des Versepos neu erfunden. Manchmal stochert sie mit ihren Einfällen im Nebel und produziert Leerlauf. Immer wieder gelingen ihr Verse, die für großes Lesevergnügen sorgen. Flauberts Lesenarren hätten ihre helle Freude daran gehabt:
Doch, geb ich zu, so ziemlich alles Doofe
gliedert sich in Exposition, Peripetie und Katastrophe.
Im Allgemeinen wär es damit abgetan. Ob pur
oder vermischt mit Eigenem, das Drama
ist zu erleiden. Es erfinden aber ist Tortur!
– Ann Cotten schickt in ihrem Versepos Verbannt! eine Fernsehmoderatorin auf eine einsame Insel. Dort spukt der weibliche Weltgeist mutig gegen alle Konventionen. –
Wenn Ann Cotten reimt, dann fliegt einem der Verstand um die Ohren. Ihre Satzanfänge geben ein wenig Halt, eine erste Orientierung, um dann wieder abrupt die Richtung zu wechseln. Die Dichterin weiß, wie man eine Geschichte erzählt und eine kryptische Idee formuliert. Doch dann stößt sie alles beiseite und raunt dem Leser zu:
So nicht, mein Lieber. Zu früh gefreut.
Genau diese Erfahrung des kurzen Festhaltens und langen Scheiterns am Sinn ist die Quintessenz des neuen Versepos Verbannt!, verfasst von einer Autorin, die 1982 in den USA geboren wurde, in Wien aufgewachsen ist und sich irgendwann dazu entschieden hat, in Berlin zu leben. Der Text ist in neunzeiligen Spenserstrophen verfasst, die bei George Byron oder Percy Shelley besonders beliebt waren, höchste Konzentration beim Leser und größtes Taktgefühl für sprachliches Tempo beim Autor erfordern. Der Spagat zwischen klassischem, ja fast schon altbackenem Versschema (ababbcbcc) und radikaler, vor nichts haltmachender Konfrontation mit der modernen Welt ist das ständige Vexierspiel, das dieser Text auf kongeniale Weise umzusetzen weiß.
Der Inhalt wäre schnell erzählt und dürfte ohnehin nicht so wichtig sein: Eine Fernsehmoderatorin wird aufgrund einer betriebsinternen Liebesaffäre auf eine einsame Insel verbannt. Es ist ein riskanter Ausflug, bei dem die Heldin drei Dinge mitnehmen darf – ein Messer, einen Schleifstein und Meyers Konversationslexikon von 1910, einundzwanzig Bände. Als Resonanzkörper dient Ovid, der große Verbannte der Literatur, der Verwandlung und Mythologie ebenso ernst nahm wie Ann Cotten, die ihre Themen durch einen Fleischwolf der Ideen, Anspielungen und Paraphrasen presst, bis es blitzt und donnert. „Schraubenreligion“ heißt das dann.
Versucht man nun, sich an die Sätze zu klammern und ihnen zu folgen, merkt man schnell, dass das Lesen dieses Versepos einem teuflischen Pakt gleicht: Die Geschehnisse auf der Insel sind nur Staffage, eher Beiprodukt für einen Freestyle, der in Wirklichkeit ein skurriler Assoziationsreigen ist, eine Karussellfahrt der Ideen. Der Leser hetzt hinterher und darf einen Gedankenteppich beim Ausrollen beobachten, der sein Muster chamäleonhaft verändert. Das muss man erst mal aushalten können.
Aber genau das ist Literatur: mutig und wild und der Konvention schrill abgewandt. Just dann entstehen Sätze wie diese:
Schlimm ist es, wie die Zeit abläuft, sagte ich schon.
Wie unerbitterlich ein Problem ins nächste
sich gießt und nie zurück ins Kästchen hinterm Megafon
fließt ein gesagtes Wort, und sei es auch das allerschwächste
der Argumente, vom Schaumgipfel Scham das Höchste.
Man findet lieber einen komplett irren Reim,
lässt zu, dass was passiert – passieren muss –, auch wirklich kein
Schwein mehr verstehen kann, weil es nichts zu verstehen gibt,
sodass der Realismus, niemals irrig, in den Irrsinn kippt.
Der Widerspruch ist Programm, die Realität ein Missverständnis und überhaupt die Fundgrube für Witz, Pointe, schräge Metapher, die im Brüchigen unbekannte Perspektiven erschließen. „Ich scratche Wirklichkeit, wie mit den Händen Drucker Kupferplatten beätzen“, sagt das lyrische Ich und verliert sich sprichwörtlich auf dieser einsamen Insel, die sich später als Hegelland entpuppt, wo die notwendige Folge eines Reims den Weg des (weiblichen) Weltgeists bestimmt. Hierbei ist der intelligente Schluss genauso wichtig wie die banale Pointe – allesamt gleichberechtigte Partikel der Welt:
Was ihre Teile vor der Katastrophe
als Träume wählen, auch wenn es mir nicht gefällt,
ist Teil der Wirklichkeit. Ein Philosoph, eh
ein Freund von mir, erinnert: Welt ist auch das Doofe.
Von Seite zu Seite steigert sich die Komplexität. Die Insel wird bevölkert von mythologischen Gestalten, die den Sinn noch weiter ins Absurde treiben: ein Wonnekind taucht auf, ein Hermes, eine Syrinx und andere skurrile Figuren, die das Inselleben aufmischen und über Gott und die Welt philosophieren. Ihre (Geschlechts-)Identitäten sind opak, mit dem lyrischen Ich oft austauschbar und ohnehin mehr Stichwortgeber für eine Poetologie, die in der Übertreibung zerrspiegelhaft darstellt, dass unsere Welt nicht minder irrsinnig ist als das Cottensche Fleckchen Land.
Dabei werden die komplexen Strophen immer wieder unterbrochen von skurrilen Comicstrips der Autorin, die dem Versepos eine zweite Sinnebene verleihen. Man sitzt da und versucht sie zu entschlüsseln wie Schatzkarten, die nur so tun, als wären sie Anweisungen für ein letztes Verständnis. Wenn die Irrfahrt vorbei ist, bei der man gelernt hat, wie Bierbrauen funktioniert, wie aus „Zy-Pressen“ Zeitungen entstehen und warum sich das Internet selbst bei größter Einsamkeit im Kopf nicht ausschalten lässt, fühlt man sich betäubt, wund, verstört und irgendwie, ja, auch glücklich.
– Nach Hegelland: Ann Cotten geht in ihrem enormen Versepos Verbannt! auf große Fahrt. –
Man könnte den Versepos Verbannt! von Ann Cotten als eine Provokation empfinden. Denn dieser Text der vielleicht experimentellsten Lyrikerin im deutschsprachigen Raum strotzt auf den ersten Blick nur so vor Zumutungen. Er reißt scheinbar wahllos sprachliche Sinn-Abgründe auf und stürzt sich mit rücksichtsloser Lust in sie hinein. Er attackiert die einfachste Erwartung an Literatur, ansatzweise zumindest zu verstehen, was man liest, und wäre damit auf den ersten Blick nicht mehr als ein irres, komisches und doch bitter ernst gemeintes Sprachspiel. Und doch wäre nichts falscher als das. Ann Cotten ist mit ihrem Versepos ein bewundernswert kühner und tief gedachter Text-Coup gelungen.
In 403 Spenser-Strophen, einem nach dem englischen Dichter Edmund Spenser benannten Reimschema aus dem 16. Jahrhundert, räumt die Lyrikerin auf mit einer Dichtung, die uns die Welt vorführt, wie wir sie eigentlich schon immer verstanden haben. Dichtung kann, das bewies Cotten bereits in ihren drei vorangegangenen Büchern, auch eine kondensierte Form emphatischen Denkens sein. Und zwar in einer unerhörten Sprache. Verbannt! weist bei allem Anachronismus der Formen (Spenser-Strophe, Epos) in die Zukunft dessen, was noch möglich ist und sein könnte mit diesem manchmal schon so abgetragen erscheinenden Denkgewand Sprache. Nach der Lektüre ist man sich zumindest sicher, dass die Möglichkeiten der Literatur längst nicht ausgeschöpft sind.
In der Einleitung des in 19 Kapitel aufgeteilten Langgedichts beschreibt Cotten ihr dichterisches Ansinnen erst einmal bescheiden als das „Vermitteln zwischen Sein und Denken“. Sie lässt den Großteil der schwer nachzuerzählenden Handlung konsequenterweise auf einer Insel namens Hegelland spielen. Spuren dieser Philosophie finden sich im Text tatsächlich, nicht zuletzt in einer absoluten Unruhe des Subjekts, dem Beben eines nie zu einer endgültigen Form gerinnenden Denkens und Sprechens und dem Mut zur äußersten Zerrissenheit des Sinns, auch wenn Hegel all dies bekanntermaßen am Ende auf dem Olymp des absoluten Wissens still stellt.
Cotten hingegen spielt bis zuletzt ein wildes, waghalsiges Spiel mit Ideen und Texten, die ein Assoziationsfeuerwerk entlang einer jahrhundertelangen Denkgeschichte von Ovid bis Benjamin zünden und bei genauer Spurensuche wohl recht viele Regalbretter füllen würden. Die Dichterin scheint alles mit allem und das auf kürzesten Wegen zu verweben. So entsteht ein irritierendes, irrlichterndes, fantastisches Schlittern, Taumeln, Gleiten und Stolpern über die unwahrscheinlichsten Holzwege poetischer Ideen.
Anfangs bewegt sich das lyrische Ich, eine Fernsehmoderatorin, noch in einer langweilig geordneten Denkwelt. Sie „stakste durch die Diskurse, die liefen auf Schienen / in den Kantinen zwischen zwanzig starren Mienen“, heißt es zum braven Habitus, der in den TV-Studios herrscht, wobei nahe liegt, dass sie im Epos für jene berühmten Bretter stehen, die die Welt bedeuten. Menschen namens Dirk, Philipp und Lena bevölkern sie, und es herrscht eine Art Erwachsenen-Krankheit der Engstirnigkeit, die bewirkt, dass Sprechen und Denken immer wieder bekannte Muster reproduzieren und aussortieren, was nicht hinein passt:
Und so verklebt Erwachsensein die ganze Welt
Das lyrische Ich fühlt sich unbändig zum Kindlichen hingezogen, weil es selbst „keine Kästchen verwende“, „um die Wahrheit zu züchtigen“. Doch diese Sehnsucht, im Versepos realisiert als verbotene Liebe zur minderjährigen Lena, führt für die Moderatorin dann zum titelgebenden Urteil: Verbannt!, auf eine einsame Insel. Klar ist, dass es sich in den folgenden Kapiteln nicht um das Reportieren einer tatsächlichen oder fantasierten Reise auf eine Insel handelt, sondern um eine Art Reisetagebuch über Expeditionen in unbekannte Denk- und Sprachregionen, in denen das Dichten, Schreiben und Erzählen mitsamt seinen bekannten Konventionen mit auf dem Spiel stehen. Spricht die verbannte Moderatorin anfangs noch zu sich selbst mit Hilfe von Meyers Konversationslexikon von 1910, das sie als eines der wenigen Dinge mitnahm, so verändert die Begegnung mit Wonnekind, dem Bürgermeister der dann doch nicht so einsamen Insel namens Hegelland, alles.
Schnell gewinnt man den Eindruck, dass die Insel in Wahrheit nur ein anderer Name für eine ewige Seekrankheit der Sprache und des Denkens ist. Und da Veränderung das einzig Konstante in diesem Ideenkosmos ist, lösen sich auch die Identitätsgrenzen der Fernsehmoderatorin bei ihrer recht körperlichen Begegnung mit Wonnekind auf. Sie wird zum Fabelwesen Hermes Wolpertinger:
Ein Geweih wächst mir jetzt, ein Riesenpimmel
statt eines Beins, das andere wird Stummel
und Fischschwanz.
Mit Wonnekind leben noch 25 andere Männer und Götter auf der Insel als Quäker und huldigen einer Schraubenreligion. Das Wort Quäker, das sich von „Zittern“ ableitet, ist treffend für die unaufhörlichen Bewegungen der Körper und Geister in dieser anarchischen Paragesellschaft.
Der Text selbst erscheint wie eine Art „Dauererregung“, es herrscht „Random-Schaltung“. Schließlich stößt noch ein gelangweilter Internet-Flüchtling namens Pan Orama hinzu. Und was sich in diesen Begegnungen sprachlich ereignet, so viel soll gesagt sein, geht über das Bewusstsein und dessen angestammte Herrschaftsgebiete weit hinaus.
Man kann sich deswegen in diesem Hegelland auch nachhaltig verirren. Jeder Sinn, auch jener der 20 Illustrationen, ebenfalls aus Cottens Feder, jeder kleine Handlungsstrang, jede Figur, an die man sich lesend klammert, bleibt zwielichtig, offen, wandert und verschwindet. Das führt zu einem endlosen, fast psychoseverdächtigen Gleiten der Signifikate. Am Ende ist es trotzdem zutiefst traurig, wenn das surreale Gebaren der Inselbewohner fast unbemerkt wieder ins Alt-Bekannte kippt.
Und dann kommen noch die Frauen auf die Insel, bei Cotten geknechtete Wesen, geformt mithilfe von Prothesen nach den Vorstellungen des Internets. Lange von den Männern herbeigesehnt, setzt mit ihrer Ankunft bald der stetige Verfall der Wunderwelt ein. Auch die drei freien Pressen auf der Insel, welche die Moderatorin anfangs als utopische Sprechorgane erkundete, fußen, wie sich herausstellt, doch nur auf Naivität, Zynismus und boulevardesker Spaßigkeit.
Schließlich bricht die alte Engstirnigkeit wieder ein:
In Reichweite vor allem engt sich unser Himmel,
als sähe man nicht richtig, seit
Fiktion und Kunden überholten Wonnekinds Erfinden,
ununterscheidbar, nur unerbittlicher als real:
wörtlich, wie auch die Welt immer bloß war, was sie halt war.
Die poetische Revolution ist gescheitert! Es lebe die poetische Revolution der Ann Cotten!
– Ann Cotten schickt in ihrem Versepos eine TV-Moderatorin in Manolo-Blahnik-Pumps auf eine Insel der Verdammten. Das ist witzig, bizarr und von postmoderner Schönheit. –
Es ist eine „entsetzliche Ballade“, die Ann Cotten uns in ihrem neuen Buch singt. Ihre Moritat handelt von dem „sibirischen Unglück“ eines „Herrn Marquis de Sade in Fraungestalt“. Sie erzählt in Versen von dem Unglück und mit übers Knie gebrochenen Reimen zumal. Die Gewalt, wer immer sie an wem verübt hat, wird hier zunächst und vor allem an der Sprache vorgeführt. Sie wird gebrochen. An jedem Versende. Das geht durch Mark und Bein, nicht nur der Wörter, sondern auch des Lesers. „Nur wenn es richtig ist, duftet es in das Hirn hinauf.“ Richtig sind die Verse dann, wenn an ihnen sichtbar und hörbar wird, wovon sie erzählen.
Indessen erschliesst sich nicht ohne weiteres, wovon die Verse handeln. Unverkennbar ist nur, dass Gewalt im Spiel ist. Das Messer der Dichterin schneidet dann auch brachial mitten durch die Wörter hindurch und hält sich dabei weder an Silbengrenzen noch an Sinnzusammenhänge:
… wie er mich als neue Art verwendet:
Ihm Aussicht ist mein… Ende. T-
raumschluss. Ich bin jetzt Frau wieder…
Der Reim auf „verwendet“ kann dann zwar nicht gesprochen, aber immerhin im Schriftbild nachgeformt werden. Oder auch: Der Reim stimmt durchaus und lässt sich auch so lesen, nur entsteht dann ein Wort, das wiederum dem Schriftbild widerspricht.
Nichts also stimmt mehr vollends überein. Nicht das Schriftbild mit einem irgend denkbaren Wortsinn – und nicht ein naheliegender Wortsinn mit dem, was das Schriftbild suggeriert. Alle Sinnstiftungen sind hinfällig geworden in dieser Welt – die dennoch auf verwirrende Weise bei den uns vertrauten Zeichensystemen Anschluss sucht.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die Ich-Erzählerin, eine Fernsehmoderatorin, lässt sich zu Intimitäten mit der minderjährigen Tochter einer Kollegin hinreissen, die Sache fliegt auf und sie aus der Sendung. Man stellt sie vor die Wahl (und man erkennt an den Optionen, zu welcher Karikatur die Welt verzerrt ist): entweder „unfreiwillige Brustvergrösserung oder quasi endgültige Zivilisationsverstossung“. Sie wählt Letzteres, wird auf eine einsame Insel verbannt und nimmt drei Dinge mit ins Exil: ein Messer, einen Schleifstein und Meyers Konversationslexikon von 1910 in zwanzig Bänden nebst zwei Supplementbänden.
Der Verbannten bleibt nicht lange verborgen, dass sie nicht ganz allein auf dem Eiland lebt. Erst begegnet ihr ein Tiger, da sie gerade auf einer Kokospalme zugange ist. Aus Unachtsamkeit und weniger aus Berechnung tritt sie mit ihren Manolo-Blahnik-Pumps eine Kokosnuss los, die der Raubkatze aufs Gemächt fällt und darum diese fürs Erste ungefährlich macht. Alsbald stösst sie auf andere Menschenkinder, auf gestrandete Matrosen, die seit vier Jahren die Insel bewohnen und sich hier eingerichtet haben. Wonnekind ist deren Anführer, ihm vertraut sich die Erzählerin an; er führt sie – als sei er ihr Vergil in der Unterwelt – ein in die Gesellschaft der Inselbewohner.
Er erklärt ihr das Pressewesen: Drei Zeitungen erscheinen auf der Insel, vom Revolverblatt über die postmoderne „Zy-Presse“ bis zum ebenso wenig schmeichelhaften „Wisch-Blatt“. Er macht sie vertraut mit der insularen Metaphysik, die Wonnekind als Prophet selber gestiftet hatte:
Ich aber, im Hirn bunter,
ging auf den Berg, drei Nächte, kam mit Schrauben wieder runter.
Eine Schraubenheiligkeit also – angemessen jedenfalls für diesen spätzeitlichen Homo faber – wird im schraubenartigen Tempelgebäude verehrt.
Schliesslich zeigt ihr Wonnekind die Bibliothek, wo eine Eselin für die fortgesetzte Produktion von Gasen und darum von Strom besorgt ist durch die Lektüre unterschiedlichster Schriften. „Auch hat unseres Staats Verfassung sie geschrieben“, so erklärt Wonnekind der Verbannten, „aufgegessen und zu Eselsäpfeln zerrieben. / Sie ist somit die Hüterin von allem, des Mysteriums.“
Das ist alles lustig und skurril und nicht ohne bizarre Pikanterie. Denn der Inselstaat hat auch einen Namen: „Hegelland“ wird er geheissen. Und erst allmählich merkt man nun, in welcher parodistischen Slapstick-Komödie man sich befindet. Ann Cottens Versepos amalgamiert auf anarchisch wilde Weise Miltons Paradise lost, Vergils Georgica oder Aristophane’ Vögel zu einem Spottgedicht auf alle postmodernen Verfahren des Denkens und Dichtens.
Diese Dichtung zielt mitten hinein in eine Gegenwart, die sich in dieser Travestie kaum mehr zu erkennen vermag, aber gerade noch in der Entstellung das kritische Potenzial wahrnimmt. Ann Cotten verbindet ihr schauerliches Epos mit ebensolchen Zeichnungen, die nun vollends den schauerromantischen Habitus dieses Textes hervorheben – ohne ihm allerdings eine zusätzliche Aussagekraft zu erschliessen.
Vielleicht liegt in dieser motivischen Redundanz das Kardinalproblem dieses zugleich hochpoetischen wie absurd komischen Textes: Die Dekodierung seiner sprachlichen Struktur, seiner inhaltlichen Zusammenhänge und seiner unterschiedlichen Zeichensysteme (Reim, Versmass, Metaphern, Illustrationen) führt immer wieder an den gleichen Punkt und nur immer an genau diesen zurück: Die Welt ist aus den Fugen, die Sprache ein Mittel der Herrschaft, Religionen sind Erfindungen überreizter Hirne – und der Staat stellt nichts als eine Eselei vor. Wohin auch immer man blickt in diesem Versepos: Es ist die Gewalt am Werk, ob an der Sprache, an den Menschen oder an den Tieren.
Der sprachliche Aufwand in diesen rund 400 Strophen zu (in der Regel) neun Versen (in Anlehnung an die sogenannte und von der englischen Romantik wieder aufgegriffene Spenser-Strophe) ist darum so gewaltig wie gewalttätig. Das gedankliche und poetische Ergebnis wiederum steht in einem argen Missverhältnis dazu. Darum noch einmal der eingangs zitierte Vers:
Nur wenn es richtig ist, duftet es in das Hirn hinauf.
Duftet es ins Hirn hinauf? Oder um mit einem Vers zu fragen:
Und in der Tat, warum sollte jemand das lesen?
Allein der Sprache wegen! Weil hier jemand, im Wortsinn, Verse schmiedet. Weil hier im Reim zusammengezwungen wird, was nie und nimmer sonst zusammenkommt. Und weil hier auseinanderbricht, was man sich getrennt sonst nicht denken würde.
Für die Mühsal, die diese Lektüre, es sei nicht verschwiegen, kostet, entschädigt am Ende allein der ingeniöse Sprachwitz Ann Cottens. Wenn sie etwa „Klang“ auf „Bumerang“ reimt, dann ist das nicht nur lustig: Es fasst ins genaue Wort, was die hochkomplexe Reimstruktur der Spenser-Strophe macht: Alles kehrt immer wieder zurück. Jeder Klang schlägt den Leser zwei, drei, vier Verse später wieder als Bumerang vor den Kopf. Das bereitet ein köstliches Vergnügen, wie es nur die boshaften Parodien können.
Jan Kuhlbrodt: Von der Wiederkehr des Epos
signaturen-magazin.de
Meinolf Reul: Rhapsodische Gedanken zu Ann Cottens Versepos „Verbannt!“
signaturen-magazin.de
Timo Brandt: Der weibliche Faust…
fixpoetry.com, 5.4.2016
Christiane Kiesow: Medienzirkus bei Ann Cotten
fixpoetry.com, 10.8.2016
Kristin Steenbock: Posthumane Science-Fiction
literaturkritik.de, Juli 2016
Peter Groenewold: Ann Cotten, „Verbannt!“ – Das komplette Lesetagebuch (1–18)
café-deutschland.blogspot.de, 2.8.2016
Tilman Winterling: Verbannt! – Ann Cotten – Versepos
54books.de, 21.8.2016
Daniel Grabner: Vers-Punk
FM4, 6.5.2016
Maria Renhardt: Flotter Plot in alter Strophe
Die Furche, 1.12.2016
Ann Cotten: Verbannt! – Interview – DAI Heidelberg.
Ann Cotten und Antye Greie alias AGF (EPHEMEROPTERAE IX), 2015.
Ann Cotten im Gespräch mit Alexander Kluge: Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen.
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