Bernd Jentzsch: Flöze

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Bernd Jentzsch: Flöze

Jentzsch-Flöze

VIER AUGEN

Ich sah es untergehn in weißen Feuern.
Ein anderer in mir,
Der schärfer sieht als ich, sahs auch
Und sagt: Ich hab es kommen sehn.

 

 

In einer Zeit,

da es im Zeichen von Wenden dringlich ist, deutsche Geschichte aufzuarbeiten, meldet sich Bernd Jentzsch mit Texten zu Wort, die ,gerechte Bilder‘ hervorrufen wollen.
Der Autor rekonstruiert sein Leben zwischen 1954 und 1992, indem er erfahrene Lebenssituationen, erhalten in Tagebuchnotizen, verarbeitete Lebenskonstellationen, gespeichert in belletristischen Versuchen, essayistische Bemühungen um Literatur als gesteigertes Leben, dokumentiert in Aufsätzen, Rezensionen und Herausgaben, ins Verhältnis setzt zu landläufigen Ideologemen und zu heute gewonnenen Einsichten.
Gesuchte Nähe zum Prozeß, durch aufgenommene Originaldokumente, und erwünschte Distanz zu diesem, durch aufwendige Kommentare und Anmerkungen, erlauben dem Leser, sich selbst ins Bild zu setzen. Wer künftig über DDR-Literatur und Kulturpolitik, über Schwierigkeiten der Ausgrenzung politisch mißliebiger Autoren, über Heimat und Heimatverlust deutscher Schriftsteller urteilen will, kann mit diesem Buch argumentieren, das geradezu Weiterungen in folgenden Arbeiten verlangt, die sich in Vorbereitung befinden.

Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Klappentext, 1993

Von Flözen

Dieses Buch, das unterschiedliche Textsorten vereint, unternimmt den Versuch, Lebenssituationen dort zu rekonstruieren, wo sie im besonderen durchlässig für geschichtliche, literarische und kulturpolitische Konstellationen gewesen sind. Angesichts der historischen Veränderungen, die sich in Mittel- und Osteuropa vollzogen haben, können die Texte auch als eine Bilanzierung vorausgegangenen Literaturlebens in einem Staat gelesen werden, der untergegangen ist.
Um die eigene Biografie transparent zu machen, werden zugleich – etwa in den Serien Märchen, Sagen und Legenden aus der Deutschen Demokratischen Republik, Fundbüro und Kleine Feder – Kontexte dadurch hergestellt, daß normiertes Bewußtsein zitiert wird.
Die Repressalien, welche ungewollt zum Aufenthalt in der Fremde geführt haben, lassen aus dem Textkörper die Schwierigkeiten erstehen, die einem Menschen erwachsen, der zwei Welten erfahren hat. Das Textflöz ist somit beides: Erfahrungsspeicher einer Existenz im realen Sozialismus und Dokument notwendig veranlaßter Erinnerungsarbeit. Hier soll freilich nicht abgerechnet, sondern vielmehr kenntlich gemacht werden, was den Autor in den Jahren zwischen 1954 und 1992 betroffen hat.
Zu einer solchen Einfahrt in die ,nutzbaren Schichten‘ wird der Leser eingeladen.

Bernd Jentzsch, April 1993, Vorwort

 

O Arzgebirg, wie schie!

An seinem siebzehnten Geburtstag notiert der angehende Dichter, daß ihm, außer den Wollsocken und dem ersehnten Cordsamtjackett, „das Klopstock-Buch doch den größten Eindruck gemacht“ habe:

Ich möchte so schreiben können wie Klopstock und seine Art zu denken lernen. Er redet nicht nur stark – er redet stark dagegen.

Fast zwanzig Jahre danach, am Silvesterabend 1976 und nun nicht mehr in Plauen/Sachsen, sondern im Kanton Graubünden in der Schweiz, zieht Bernd Jentzsch Zwischenbilanz:

Das Vaterland hat mir den Kopf verdreht, weit nach hinten. Es möge nützen!

Dazu, wie es vom Dagegensein zum Kopf verdrehen durch das sozialistisch-deutsche Vaterland kam, und auch, wozu all dies womöglich nütze war, hat Jentzsch ein Materialkonvolut vorgelegt. Er selbst steht eben im Begriff, in Leipzig mit dem ehemaligen Literaturinstitut Johannes R. Becher auch eine Literaturprofessur zu übernehmen – Flöze ist gewissermaßen das Buch zur Heimkehr.
Nach der Ausbürgerung Biermanns hatte der Honecker-Staat auch den Lyriker, Nachdichter und Herausgeber der zu Recht hochgerühmten Reihe Poesiealbum, die in der DDR bis 1976 einer der wenigen Publikationsorte für internationale und nationale moderne Poesie war, aus seinen Grenzen ausgesperrt. Jentzsch hatte sich die Freiheit genommen, dem Staatsratsvorsitzenden in einem Brief entschieden, seine Meinung zum „Fall Biermann“ zu sagen. Auch dieses Zeugnis des Aufbegehrens gegen diktatorisches Staatsgebaren spezifisch deutscher Tradition findet sich unter den „Schriften und Archiven“. In akribischer Zusammenstellung wechselnder Schreibformen macht diese Sammlung deutlich, wie Jentzsch bereits seit Studententagen „dagegen“ dachte und schrieb, wie er sich in seinen Eigenschaften als Lektor und Herausgeber mit Verlagsoberen herumschlug, sich mit Kollegen der „Sächsischen Dichterschule“ verbündete, andere wiederum argwöhnisch oder kritisch-ironisch beobachtete, das Tagesgeschehen satirisch wahrnahm oder mit bitterer Resignation kommentierte wie etwa den 21. August 1968. Material genug also für ein spannendes Zeugnis der Literatur- und Zeitgeschichte und darin einer Schriftstellerbiographie.
Wenn es dennoch ziemlich steril zugeht, so liegt dies vor allem an der buchhalterischen Penibilität, mit der Jentzsch seine Rolle in den wechselnden Zeiten dokumentiert: Da kommt kaum ein Gedicht ohne Kommentar aus, kein Kommentar ohne einen umfangreichen Anmerkungsapparat. Natürlich ist es ganz drollig zu wissen, wer die „Lerche von Eibenstock“, eine Art mundartlich-realsozialistischer Friederike Kempner, im wirklichen Leben war („O Arzgebirg, wie bist du schie! / Wenn de Atombomb fällt, bist du hie!“). Auch ist es im Lichte der Stasi-Diskussion nicht ohne Bedeutung, eine kleine Einführung in Werk und Wirken von „Interpaule“ (Paul Wiens) zu erhalten. Doch ist es symptomatisch, wenn Jentzsch sein Gruppenportrait „Berliner Dichtergarten“ mit Erläuterungen zu einer Warzenoperation von Ehefrau Birgit versehen muß oder dem Leser bedeutet, die Formulierung „so selten wie verzinkte Dachnägel“ enthalte eine „Anspielung auf Versorgungsengpässe in der DDR“. Statt einer Bildersammlung aus zerrissenen Zeiten präsentiert er so die wissenschaftlich letztgültige, gleichsam wasser- und strahlendichte Fassung seines sehr gemischten Œuvres – eine akademische Installation. Die Texte reichen bis ins Jahr 1992, doch „weit nach hinten verdreht“ scheint der Kopf, dem sie entstammen und der nun meint, sie alle bedürften der umfassenden Sicherung. Selbst der Buchtitel wird, in den Worten der Sprachforscher Grimm, erläutert. Da ist von „hangenden und liegenden, sich stürzenden und wieder aufrichtenden, unartigen und schädlichen flötzen“ die Rede – von Bewegung also. An der aber gebricht es dieser Sammlung am meisten.

Frauke Meyer-Gosau, Die Zeit, 13.5.1994

 

„Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“. Ein Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin.

Die Neugründung des Literaturinstituts war eine Steißgeburt. Bernd Jentzsch im Gespräch mit André Hille und „eine Reise durch ein bewegtes Leben“.

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG
Porträtgalerie

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