DAUERTEN WIR UNENDLICH
Dauerten wir unendlich
So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.
Seit dem Erscheinen von Band VI der „Gedichte“ im Jahre 1964 – in der folgenden Zeit kamen sieben Bände der „Schriften zum Theater“, je zwei Bände der „Schriften zur Literatur und Kunst“ und „Schriften zur Politik der Gesellschaft“ sowie die Bände XIII und XIV der Stücke heraus – wurden die Texte und Datierungen der für die Bände VII bis IX vorgesehenen Gedichte und Gedichtfragmente und eine Reihe zurückgestellter, weil noch ungesicherter Texte weiter überprüft. Die Resultate, die in die drei jetzt vorgelegten Bände unserer Ausgabe eingegangen sind, repräsentieren somit den Stand der Überprüfung 1967/68. Im Vergleich zu den im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, bereits erschienenen Bänden VII bis IX ergaben sich daraus für die entsprechenden Bände unserer Ausgabe Veränderungen in der Aufteilung der Texte auf die Bände sowie in der Anordnung innerhalb der einzelnen Bände.
Für den vorliegenden siebenten Band bedeutet dies: Ein Gedicht wurde gänzlich ausgeschieden, und zwar „Über die Berge I“ (Suhrkamp-Ausgabe, Band VII, S. 54), da es eine Vorstufe des hier abgedruckten Gedichts „Über die Berge“ darstellt. Die Gedichte „Richtigstellung“ II („Daß man mich jemals sagen hörte“), „Über den Ernst in der Kunst“ und „Höre beim Reden!“ (früher unter dem Titel „Lehrer, lerne!“) sind jetzt Band IX zugeordnet. Das erste gehört zu dem Fragment eines Stückes über Albert Einstein, das zweite zu „Gedichte aus dem Messingkauf“, das letzte ist ein Fragment. – Dagegen sind sechzehn Gedichte aus Band VIII und ein Gedicht aus Band IX der Suhrkamp-Ausgabe in den vorliegenden siebenten Band unserer Ausgabe vorgezogen worden.
Der siebente Band enthält Gedichte aus den Jahren 1947 bis 1956. Brecht kehrte im Herbst 1947 nach Europa zurück. Nach einjährigem Aufenthalt in der Schweiz reiste er nach Berlin weiter, das bis zu seinem Tode im August 1956 wieder sein fester Wohnsitz und Arbeitsplatz war. Viele der Gedichte aus diesen neun Jahren erschienen in Zeitungen und Zeitschriften, in Heften der Versuche, in Auswahlbänden und Anthologien des In- und Auslands. Die zwei bekanntesten Auswahlbände, Hundert Gedichte (Aufbau-Verlag, Berlin 1951, herausgegeben von Wieland Herzfelde) und Gedichte und Lieder (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1956, herausgegeben von Peter Suhrkamp), konnten nur einen geringen Teil der Gedichte aus dieser Zeit aufnehmen.
Die 1953 geschriebenen „Buckower Elegien“ sind Brechts letzter Gedichtzyklus. Sie sind nach dem Ort Buckow bei Berlin genannt, wo Brecht ein Haus mit Garten an einem See gepachtet hatte. Eine Auswahl der hier abgedruckten Gedichte erschien in Heft 13 der Versuche und in der Zeitschrift Sinn und Form (1953). Vier Elegien („Der Himmel dieses Sommers“, „Die Kelle“, „Die Musen“ und „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“) sind gegenüber der Suhrkamp-Ausgabe, wo sie in Band VIII stehen, hier aufgenommen worden. – Die in „Die Wahrheit einigt“ zitierten vier Zeilen stammen aus A. Twardowskis „Wassili Tjorkin“, Brecht fand sie, ebenfalls zitiert, in dem sowjetischen dokumentarischen Roman Ein Strom wird zum Meer von W. Galaktionow und A. Agranowski über das Bauprojekt der Wolga-Wasserkraftzentrale. – „Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“: Hier handelt es sich um den soeben erwähnten Roman Ein Strom wird zum Meer und nicht, wie zuerst angenommen, um Marietta Schaginjans Das Wasserkraftwerk, das Brecht um die gleiche Zeit las.
„Die Freunde“: Es geht um den Bühnenbauer und Maler Caspar Neher, den in früheren Bänden bereits erwähnten Freund und Mitarbeiter. Als Brecht nach Europa zurückkehrte, nahmen Neher und Brecht die Zusammenarbeit wieder auf. Sie begannen sofort mit einer Bearbeitung der Antigone des Sophokles, die im Februar 1948 in Chur (Schweiz) zur Aufführung kam. – „An meinen Freund, den Maler“: Die Reproduktion einer Version des Neherschen „Wasser-Feuer-Menschen“ („Hydatopyranthropos“) war der Hauspostille (1927) beigegeben.
In „Wahrnehmung“ steht für das Wort „Mühen“ auf anderen Blättern auch „Anstrengungen“ oder „Schwierigkeiten“.
„Ein neues Haus“: Dies war das von ihm gemietete Haus in Berlin-Weißensee, in das er im Frühjahr 1949 mit seiner Familie einzog. Da es von seiner Arbeitsstätte, dem Berliner Ensemble, zu weit entfernt war, nahm er im Zentrum Berlins eine kleinere Wohnung, in der er von 1952 bis zu seinem Tode wohnte.
Das Gedicht „An meine Landsleute“ widmete Brecht im Herbst 1949 Wilhelm Pieck, als dieser Präsident der Deutschen Demokratischen Republik geworden war.
Die Zusammenfassung der beiden Vierzeiler unter „Sprüche“ erfolgte für diese Gedichtausgabe.
Das Gedicht „An den Schauspieler P. L. im Exil“ ist an Peter Lorre gerichtet, mit dem Brecht vor 1933 in mehreren Inszenierungen zusammengearbeitet hatte und mit dem er auch im amerikanischen Exil weiter befreundet war.
Die „Neuen Kinderlieder“ (auch „Kinderlieder 1950“) wurden für diese Ausgabe zusammengestellt.
Der Herausgeber der Hundert Gedichte, Wieland Herzfelde, wählte als Abbildung für die vordere Umschlagseite eine merkwürdig geformte Wurzel, den sogenannten „Theewurzellöwen“, der Brecht zu dem Gedicht „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ veranlaßte, das auch auf der Umschlagrückseite abgedruckt wurde.
Das „Lied vom Glück“ schrieb Brecht für den Film Frauenschicksale, den Slatan Dudow drehte.
Die „Inschrift für das Hochhaus an der Weberwiese“ wurde nicht an diesem, sondern an einem anderen Hochhaus in Berlin angebracht; am Hochhaus an der Weberwiese steht die zweite Strophe vom „Friedenslied“.
„Deutschland 1952“ war bestimmt für Emil Burris Szenarium eines Films nach Mutter Courage und ihre Kinder, der nicht gedreht wurde. Das Gedicht wurde zuerst auf der hinteren Umschlagseite des Versuche-Sonderheftes Die Gewehre der Frau Carrar (1953) veröffentlicht.
„Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission“ und „Das Amt für Literatur“ erschienen in der Berliner Zeitung am 11. und 15. Juli 1953, „Jakobs Söhne ziehen aus, in Ägypten Lebensmittel zu holen“ im Vorwärts, Berlin, am 10. August 1953.
„Zum Einzug des ,Berliner Ensemble‘ in das Theater am Schiffbauerdamm“: Das Berliner Ensemble, dem nach seiner Gründung 1949 Gastrecht im Deutschen Theater gewährt wurde, übersiedelte im März 1954 in ein eigenes Haus, das „Theater am Schiffbauerdamm“ – heute am Bertolt-Brecht-Platz –, in dem 1928 die Uraufführung der Dreigroschenoper stattgefunden hatte.
Die drei Vierzeiler „An die Studenten der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“ gehören zur „Friedensfibel“, die Brecht als Fortsetzung der Kriegsfibel geplant hatte. Der dritte Vierzeiler ist mit dem dazu gehörenden Foto, das Studenten im Hörsaal zeigt, auf der hinteren Umschlagseite der Kriegsfibel abgedruckt.
„Panzereinheit, ich freue mich“: Diesen Vierzeiler schrieb Brecht, wahrscheinlich für die geplante „Friedensfibel“, zu einem Foto, das er in der Zeitschrift Neues China fand mit der Unterschrift: „Die Besatzungen einer Panzereinheit der chinesischen Volksbefreiungsarmee unterschreiben den Appell des Weltfriedensrates zur Ächtung des Atomkrieges.“
„Ich benötige keinen Grabstein“ erinnert an „Exegi monumentum aere perennius“ („Ich habe mir ein Denkmal gesetzt von größerer Dauer als Erz“), jene berühmte Ode des Horaz, den Brecht sehr mochte und immer wieder las.
Unter dem Titel „Wechsel der Ringe“ wurden die zwei Vierzeiler für diese Ausgabe zusammengestellt.
Das „Gegenlied“ schrieb Brecht, als er bei der Vorbereitung der Ausgabe der „Gedichte“ das Hauspostillengedicht „Von der Freundlichkeit der Welt“ wieder zu Gesicht bekam.
Brechts Bearbeitung der Lenzschen Tragikomödie Der Hofmeister, für die er das kleine Lied „O stille Winterzeit“ schrieb, wurde 1950 vom Berliner Ensemble aufgeführt.
Das Lied „Vom Glück des Gebens“ schrieb Brecht 1950 für die Oper Persische Episode von Rudolf Wagner-Regeny und Caspar Neher.
Der „Herrnburger Bericht“ ist eine Chorkantate für Schulen, die Paul Dessau komponierte. Sie wurde 1951 anläßlich der Weltfestspiele für die Jugend geschrieben und aufgeführt.
Das „Lied der Ströme“ war für den gleichnamigen Film bestimmt, für den Dmitri Schostakowitsch die Musik schrieb. Uraufführung: Wien 1955.
Die Bearbeitung von Ben Jonsons Volpone, bei der Brecht half und für die er die Lieder schrieb, wurde 1952 in Wien angefertigt und aufgeführt.
Für die Bearbeitung von George Farquhars The Recruiting Officer, die unter dem Titel Pauken und Trompeten vom Berliner Ensemble aufgeführt wurde, schrieb Brecht (1955) neue Lieder.
Mit diesem Band wird der Großteil der Gedichte aus den Jahren 1913–1956 beschlossen, für die seinerzeit eine chronologische Anordnung angestrebt wurde. Die folgenden Bände VIII und IX enthalten nachgetragene Gedichte, Gedichtfragmente sowie eine kleine Abteilung „Übersetzungen, Bearbeitungen, Nachdichtungen“. Der vorgesehene zehnte Band bringt Berichtigungen, Textfassungen und Datierungen betreffend, sowie Berichtigungen und Ergänzungen zu den Anmerkungen der einzelnen Bände, dazu ein alphabetisches Register der Titel und Gedichtanfänge.
Elisabeth Hauptmann, Nachwort
Im Juli lieferte der Suhrkamp-Verlag drei weitere Bände mit Gedichten Bertolt Brechts aus, die Bände 5 bis 7. Es ist bekannt, dass es sich bei der Gedicht-Edition wie bei der gesamten Brecht-Ausgabe nicht um eine historisch-kritische Ausgabe handelt. Wir wollen uns hier nicht an dem Streit darüber beteiligen, inwieweit die jetzt vorgelegte Ausgabe in dem, was sie bietet, zuverlässig ist, ob politische Rücksichten genommen wurden, ob Einiges – aus welchen Gründen auch immer – von der Veröffentlichung ausgeschlossen wurde. Denn endgültig wird man ohnehin zu dieser Frage erst Stellung nehmen können, wenn der angekündigte achte Gedichtband vorliegen wird, der später aufgefundene Gedichte, Fragmente, Variationen und Nachdichtungen enthalten soll. Dass jetzt, nur acht Jahre nach dem Tode Brechts, noch keine historisch-kritische Ausgabe ediert werden kann, ist sicher bedauerlich, aber doch im Blick auf die immense und zeitraubende Vorbereitungsarbeit, die eine solche Ausgabe mit sich bringt, erklärlich. Halten wir uns darum an das Vorhandene.
Die Gedichte der drei vorliegenden Bände stammen vor allem aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Viele von ihnen haben eindeutig Kampf- und Agitationscharakter; in ihnen warnt Brecht nicht mehr vor der braunen Diktatur – das hatte er lange vorher vergeblich getan –, hier kämpft er gegen Nazi-Terror und Krieg: es sind ausgesprochene „Gebrauchs-Gedichte“, die ihre Funktion in der Anti-Hitler-Propaganda erfüllten. Wie sehr auch die Form dieser Gedichte von ihrer agitatorischen Funktion her bedingt ist, belegt Brechts bekannter Aufsatz „Ueber reimlose Lyrik mit unregelmässigen Rhythmen“. Er ist, zusammen mit zahlreichen, bislang meist unveröffentlichten Aeusserungen Brechts in dem kleinen Band Ueber Lyrik (edition suhrkamp) erschienen, der einige Hilfen zum Verständnis und zur Interpretation der Brechtschen Poesie gibt. Auch in ihm finden sich wieder einige Aeusserungen, die sich – wie so oft bei Brecht – unversehens gegen ihren Verfasser wenden. Manche der kommunistischen Tendenzgedichte der Nachkriegszeit, verweisen geradezu auf eine Notiz aus den 30er Jahren, in der es heisst:
Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche nehmen…
Zwischen den im weitesten Sinne politischen Gedichten Brechts finden sich auch immer wieder Liebesgedichte, Naturgedichte, lakonisch und zart zugleich. Eigentlich dürfte es sie, hätte der Theoretiker Brecht über den Lyriker Brecht gesiegt, gar nicht geben. Denn:
… In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.
Und zur Frage der Natur-Dichtung und der „reinen Kunst“ hatte er in den 40er Jahren geschrieben, das Geräusch fallender Regentropfen dürfe in einem Gedicht sehr wohl dargestellt und zu einem genussreichen Erlebnis des Lesers gemacht werden – allerdings erst dann, wenn alle Menschen ein Obdach besässen und niemandem die Regentropfen mehr zwischen Hals und Kragen fallen könnten. Hätte sich Brecht an diesen Vorsatz gehalten: einige der schönsten Stücke aus den Buckower Elegien wären ungeschrieben geblieben. Die Buckower Elegien eröffnen den siebenten Band der Gedichte: melancholische Spätgedichte, aber unsentimental und von einer Schärfe der Kontur, wie wir sie aus der japanischen Lyrik kennen. Was in ihnen an Politischem auftaucht, ist nicht mehr lauthals verkündete Propaganda – das Bewusstsein, an politischem Unheil mitschuldig zu sein, schwingt mit. „Freunde, ich wünschte, ihr wüsstet die Wahrheit und sagtet sie!“, schreibt hier einer, der die Wahrheit wusste und sie nicht immer gesagt hat. Nur zwei Seiten hinter den berühmt gewordenen Versen über den 17. Juni („Die Lösung“) findet sich das Gedicht „Böser Morgen“:
Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! schrie ich
Schuldbewusst.
Über B. B. ist schon alles gesagt. Jeder Winkel seines Daseins ist ausgeleuchtet und ausgelegt worden. Er war jemand, der zu bewundern und zu vermeiden war. Ich wußte, daß er immer ein Ausbeuter war und daß er stank. Alle seine Schüler und seine Anbeterinnen hat er plattgedrückt.
Ich mochte manche von seinen Sachen. An der Hauspostille war nicht vorbeizukommen, und Mahagonny war scharf, lustig und böse. Unangenehm waren die meisten Theaterstücke, in denen er den Zeigefinger wie ein Schulmeister hob, im Jasager, im Neinsager und in der berüchtigten Maßnahme von 1930. Man mußte den Haufen, den er hinterließ, entschieden auskämmen. Er hat ja wie Goethe jeden Wisch aufgehoben, vom Schmierzettel bis zur Wäscherechnung, weil er schon als Pennäler wußte, daß er das Zeug zum Klassiker hatte.
Das beste war, mit ihm so umzugehen, wie er es mit anderen hielt: Nur wo etwas Brauchbares zu finden war, galt es ihn auszubeuten. An diese Regel habe ich mich allerdings nicht immer gehalten. In einem Gedichtbuch habe ich ihm nachgeplappert, was er anno 1927 in seinem Kurzen Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker behauptet hat: daß Gedichte Gebrauchsgegenstände seien. Das ist eine Viertelwahrheit von geringer Halbwertszeit.
Aber ansonsten habe ich ihm viel zu verdanken, auch wenn ich mit seinen vielen Talenten nicht konkurrieren konnte. Fabelhaft waren seine Selbstinszenierungen. Er war unerhört intelligent, eine Eigenschaft, die er nicht mit allen Dichtern teilte. Bekanntlich kann man in der Poesie auch ohne sie auskommen und ganz beachtliche Lyrik zustande bringen. Auf die Dauer allerdings ziehe ich die gescheiteren Mitbrüder in Apollo vor. Das ist nicht nur eine Frage der Poetik. Brecht war ein weitblickender politischer Stratege, der alle Wendungen der Geschichte wie ein Haruspex aus ihren Eingeweiden las. Die Diktaturen in Italien, in Deutschland und in Spanien hat er kommen sehen und ihre katastrophalen Folgen sofort verstanden.
Weniger einsichtig war er, was die Parteiherrschaft in der Sowjetunion angeht. 1930 verstieg er sich zu ihrem Lob. In seinem tückischen Lehrstück Die Maßnahme singt ein „Kontrollchor“:
Der einzelne kann vernichtet werden,
Aber die Partei kann nicht vernichtet werden.
Denn sie ist der Vortrupp der Massen
Und führt ihren Kampf
Mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind
Aus der Kenntnis der Wirklichkeit.
Das sind nicht nur ziemlich schlechte Verse. Auch politisch verraten sie eine ganz verkehrte Einschätzung. Wie es seine Gewohnheit war, hat Brecht auch in diesem Stück den einen oder anderen „dialektischen“ Vorbehalt versteckt. Er verfügte über ein ganzes Arsenal von solchen Manövern. Schon 1922 schrieb er in sein Tagebuch:
Das Gesündeste ist doch einfach: Lavieren.
Zwar entwickelte er sich in der Weimarer Republik zu einem gelernten Kommunisten, doch vermied er es sorgfältig, in die KPD einzutreten.
1927 war die herrliche Sammlung Bertolt Brechts Hauspostille erschienen. Schon damals zeigte sich, wie er vorging. Er arbeitete am liebsten mit anderen zusammen, achtete aber darauf, daß er stets die Zentralfigur des Teams blieb. Er war in der Lage, von Lebenden und von Toten zu klauen.
Sein eigenes Copyright jedoch wußte er mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Seine vielen Mitarbeiterinnen und Geliebten, wie Ruth Berlau, Elisabeth Hauptmann und Margarete Steffin, hatten wenig zu lachen.
Im Mai 1933 wurden seine Bücher dem Feuer übergeben und seine Werke verboten. Er verließ Deutschland rechtzeitig, genau einen Tag nach dem Reichstagsbrand. Seine Flucht führte über Prag, Wien und Zürich nach Paris. Kurz darauf erwarb er ein Haus in Dänemark. Als die Deutschen das Land besetzten, ging er nach Finnland, das damals noch neutral war.
Obschon er an Stalins Terror, seinen „Säuberungen“ und Schauprozessen, öffentlich nichts auszusetzen hatte, gelang es ihm im Mai 1941, sich ein Einreisevisum in die Vereinigten Staaten zu verschaffen und mit seiner Familie über Moskau nach Kalifornien zu gelangen. Für seine Freundin und Mitarbeiterin Carola Neher, die in die Sowjetunion emigriert war, konnte er nichts tun. Sie war als „trotzkistische Agentin“ verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden. 1942 ist sie im Gulag gestorben.
In Hollywood, wo er erfolglos blieb, gefiel es Brecht nicht. Als die USA in den Krieg eintraten, galt er als enemy alien und wurde vom FBI überwacht. 1947 sollte er vor einem Kongreßausschuß wegen „unamerikanischer Umtriebe“ Rede und Antwort stehen. Seine ironischen Antworten machten aus der Anhörung eine bravouröse Kabarett-Nummer.
Am nächsten Tag kehrte Brecht nach Europa zurück, um seine Theaterarbeit wiederaufzunehmen. Die Einreise nach Westdeutschland wurde ihm verweigert; deshalb ließ er sich in der Schweiz nieder. 1948 wurde er nach Ost-Berlin eingeladen. Dort nahmen nicht nur die Künstler, sondern auch die Parteifunktionäre ihn gerne auf.
Nicht zufrieden war Brecht mit seinem Paß. Schon 1935 war ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. In seinen Flüchtlingsgesprächen, die größtenteils 1940/41 entstanden sind, sagte er hellsichtig voraus:
Der Paß muß ein Paß sein, damit sie einen in das Land hereinlassen… Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.
Dieses Problem löste Brecht 1950 während eines Auftritts bei den Salzburger Festspielen. Er erreichte, daß ihm die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Natürlich hatte er nie die Absicht, die DDR zu verlassen. Ein ausländischer Paß hatte eben auch im sogenannten Ostblock seine Vorzüge. Als die Partei den „Formalismus“ zur gefährlichen Abweichung erklärte, agierte Brecht umsichtig und ließ sich auf keine theoretische Auseinandersetzung ein. 1954 konnte er endlich sein Theater am Schiffbauerdamm eröffnen.
Als es am 17. Juni 1953 in der DDR zu Massenprotesten der Arbeiter kam, ärgerte er sich. Noch am selben Tag drückte er in einem Brief an Walter Ulbricht seine Verbundenheit mit der Partei aus. Weitere Solidaritätsadressen schickte er an das Außenministerium in Moskau und beteuerte seine „unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion“. Leider hatte die Zensur seinen Brief gekürzt. Brecht war wütend. Ein paar Monate lang trug er eine Kopie des vollständigen Textes mit sich herum und zeigte sie seinen Freunden. Er konnte beweisen, daß er sich von der Haltung der Parteioberen deutlich distanziert hatte.
Das konnte sein Publikum aber erst lesen, als das Kind längst in den Brunnen gefallen war, nämlich in dem berühmten Gedicht „Die Lösung“ in den Buckower Elegien. Die Bühnen im Westen setzten seine Stücke ab, und es dauerte lange, bis dieser Boykott aufgehoben wurde.
Es ging ihm schlecht, und er wurde ernsthaft krank. Er starb im August 1956 an „Herzversagen“. Die Verse, die er auf seinem Grab haben wollte, sind dort nicht zu lesen. Aber daß er sich alle Reden bei der Beerdigung in seinem Testament verbat, daran haben sich alle gehalten.
Erst in seinen letzten Tagen, den Tod vor Augen, hat er mit Stalin, dem „verdienten Mörder des Volkes“, abgerechnet.
Für den Nobelpreis war Brecht ungeeignet. Überhaupt kamen, obwohl er weltberühmt war, nur wenige Auszeichnungen auf ihn herunter: der Kleist-Preis, der Nationalpreis der DDR I. Klasse und der Stalin-Preis für Frieden und internationale Verständigung, der ihm allen Ernstes im Kreml überreicht worden ist.
Er ist immer beizeiten abgehauen. Ein Gerücht besagt, daß er nicht nur einen österreichischen Paß besaß, sondern auch ein Konto und einen Banksafe in der Schweiz, in dem Dokumente lagerten, deren Publikation für die kommunistischen Parteien nicht zuträglich gewesen wären. Wer ihm aus all diesen Vorkehrungen einen Vorwurf machen wollte, dem fehlt es an historischer Phantasie.
Hans Magnus Enzensberger, aus Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, 2018
(…)
Dabei ist die politische, ideologische Einordnung Brechts und seiner Schule etwas, das den Blick verstellt. Zur Aura des Dichters, zu Wirkung und Nachwirkung können doch nicht ideologische und wissenschaftlich daherkommende utopische, welterlösende Ansichten den wesentlichen Beitrag leisten. Oder? Sonst wäre dieser Luther-Brecht tatsächlich ein Mann der neuen Kirche, etwas wie ein Zement- Lieferant des neuen Glaubens gewesen. Das wäre zu wenig. Das wäre fast nichts. Die Herrschaft der Ismen gehört dem vergangenen Jahrhundert an, die Sprache eines Dichters nicht, schon gar nicht die eines Reformators. Findungen, hingebungsvolle Übernahme und Entwicklung der Methoden innerhalb einer ganz eigenen sind Beiträge zu lebendiger Sprache. So etwas übersteigt das Jahrhundert. Wesentlich ist für einen wie Brecht eben nicht das Bemühen um revolutionäre Erneuerung der Welt, sondern Revolution der Sprache innerhalb des vorgegebenen Materials. Seine Neuerung war zentral Rückgriff, Zusammenfassung und Anwendung sonst dem Mythos vorbehaltener Formen, von sprachlichen Figuren, die schon traditionell waren, als sie von den Verfassern der Thora und den Erzählern des Neuen Testaments benutzt wurden. Brecht ist gegen seine eigene ausdrückliche Programmatik ein Verwalter des uralten Schatzes gewesen. Er tat alles, sich den Anschein zu geben, das wäre ihm vollkommen gleichgültig. Eins seiner vielen Bonmots dazu notiert Walter Benjamin 1938:
Nicht an das gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue.
Doch seine Gedichte verraten ihn. Eins seiner größten bezieht sich, nebenbei bemerkt, auf das fünfte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Es ist „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ aus den Svendborger Gedichten. Das Gedicht ist die Ausschreibung einer aus dem alten China überlieferten Anekdote, die etwas wie den umgekehrten Fall der historisch späteren Berufung des Matthäus zum Inhalt hat. Es ist ein Gedicht über die Entstehung des Werks beim Überschreiten einer Grenze. Brecht kannte die Anekdote längst. Jetzt nimmt er sie auf, jenseits der deutschen Grenzen, in der Emigration. Das Gedicht spricht von der Not des Dichters und von der Notwendigkeit des Gedichts. Die dreizehn mal fünf trochäischen Verse mit jeweils dreifachem einsilbigen Reim, deren letzten eine verkürzte Zeile abschließt (was beim Lesen Spaß macht), bilden die heiterste, leichteste, schönste aller Balladen Brechts. So etwas mache dem Manne einer nach.
*
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Verzeihen Sie! Selbstverständlich ist das die meistzitierte unter den sprichwörtlich gewordenen Findungen Brechts. Dabei bilden die drei Gedichte, in deren erstem die drei Zeilen stehen, unter dem Gesamttitel „An die Nachgeborenen“ das Credo, vor allem als ein Mea Culpa, das volkstümliche Vermächtnis einer erfundenen Figur unter dem Namen des Autors Brecht. Abgeleitet ist das Ganze aus großzügig überschauten, zusammengefassten Konstellationen der Zeit und dazu passenden Lebensumständen. Die Zuspitzungen und Überhöhungen sind deutlich. Trotz der Schein-Prosa der Zeilen, trotz der Einfachheit der Sätze, der gesprächsweisen Beiläufigkeit handelt es sich um feinstes Destillat. Die Manipulationen, Verallgemeinerungen, Verwischungen des biographischen Grundstocks zu passenden, einleuchtenden Klischees sind notwendig, um den Effekt zu erzielen. Und der ist groß. Er besteht im Wesentlichen darin, dass das Ganze glaubhaft ist, berührt und erschüttert. Hier spricht ein Mensch zu den Mitmenschen und, ja, ausdrücklich zu den Nachkommen. Das „Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht“ am Schluss des letzten Gedichts erreicht die Höhe von „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Nur ist die Bitte um Nachsicht zugleich ganz Brechtigkeit, freundliche Bitte, deren Pathos fast nicht auffällt. Es steht da nicht „Denkt an uns“, es heißt:
Gedenkt unsrer.
Erstaunlich pathetisch, Herr Brecht.
Dazu ist hier nichts weiter zu sagen. „An die Nachgeborenen“ steht im Schulbuch, entsprechend hochfrequent wird es interpretiert. Es sei nur noch kurz auf ein Detail verwiesen. Die Zeiten, denen der Stoßseufzer gilt, machen, dass „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Das kurze, leicht zu übersehende Wort nimmt dem Satz die Schärfe. Was hätte es denn bedeutet, die Zeiten zu solchen zu erklären, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen war? Das Gespräch über Bäume wird, so in den Fokus genommen, zum Sinnbild des Menschlichen überhaupt. Menschen können unter keinen Umständen davon absehen, Gespräche über Bäume zu führen. Wenn sie es fast tun, das festzustellen genügt. Es bedeutet: Die Gattung steht kurz vor dem Ende. Dass jenes Gespräch über Bäume zugleich Sinnbild der Kunstausübung ist, dass die Feststellung über die Zeiten insbesondere und unmittelbar auf Brechts Dichtung durchschlägt, lässt sich ohne Mühe in seinen Gedichten zeigen.
Das achte Gedicht der ersten Abteilung der Hauspostille heißt „Morgendliche Rede an den Baum Green“. Unter Versen, die ringsum auf Goethes „Wanderers Nachtlied“, auf die archetypische Figur des „Bösen“ und auf den nicht minder „bösen“ Villon Bezug nehmen, mitten in dem poetischen Aufmarsch intimer Helden Brechts der Auftritt des Baums. Ein anderer Tonfall als sonst in den Bittgängen ist das reimlose, prosahafte Parlando. Der Held trägt einen Namen wie jemand aus den Lektüren des jungen Brecht, könnte damit auch in der Dreigroschenoper auftreten oder in Mahagonny wurzeln, etwa als Mister Green. Er zählt ganz gewiss zu den Helden. Als solcher besteht er das Abenteuer von Nacht und Sturm. Er ist verwandt mit dem schaukelnden Helden eines anderen Gedichts, „Das Schiff“, wenige Seiten zuvor. Vom Baum Green wird bemerkt, er stehe schwankend wie „ein besoffener Affe“. Am Horizont zieht, nicht von ungefähr in diesem Teil der Hauspostille, das „Bateau ivre“ Rimbauds dahin. Der hier nun spricht, der Lyriker als erstaunlich freundliches Abbild seiner selbst im Fensterausguck, gewinnt nach Art der Romantiker Einsicht durch Aussicht und bekennt, dass er sich „geirrt habe“. Schon läuft es darauf hinaus, dass Arm in Arm so dagestanden wird und größtes Männer-Einverständnis herrscht:
Sie leben ziemlich allein, Green?
Ja, wir sind nicht für die Masse
Den Topos – Dichter und Baum im vertrauten Gespräch unter Männern –, den nehme ich gern mit.
Ins Gepäck gehört auch, dass es schon in den Psalmen, den früheren Gedichten Brechts, von der Mutter heißt: „Sie ist im Wald aufgewachsen“, und später einmal vom reisenden Lyriker selbst:
Von den Wäldern nehme ich das Schweigen mit.
Oder es wird nach dem Wind gefragt:
Aber für was ist der Wind da, herrlich in den Baumwipfeln?
Als lebte er da, der junge Dichter Brecht, nicht als ein Bewohner der Stadt, der Städte, als der er sich umgehend stilisieren wird, sondern hoch droben in den Bäumen, ein Stück über der Welt, wie sie sonst gesehen wird, ein wenig als Baron, nein als Prophet in den Wipfeln. Her damit, mit seinen eigenen Bildern, für das, was kommt! Denn was sich auf jeden Fall durch diese über zweitausend Gedichte und Lieder aus fünfundvierzig Jahren zieht, auch wenn alles anders wird: Der Baum bleibt. Für Abstammung, für das sich verzweigende Leben und phallische Lust steht er in Kunst, Mythos, Literatur und den anthropologischen Wissenschaften. Der vielleicht berühmteste trägt Früchte. Davon zu essen öffnet die Augen mit aller Unbill, die daraus folgt, und weiten Raum für künstlerische, literarische und philosophische Spiegelung. Für all das steht der Baum bei diesem Dichter auch. Sein Lied von ihm beginnt mit der Erfindung der Herkunft:
Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein,
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.
Hier sieht man Brecht working ahead, Lebenswerk im Aufbau. Man beobachtet ihn beim Aufsetzen der Arbeitsmaske. Noch ist es nicht jene des Sprechers zu den Massen oder des Lehrers der Massen. Hier handelt es sich zuerst um die Auratisierung des Individuums, einen wesentlichen poetischen Vorgang. Es ist nicht dichterische Selbstschöpfung nebenher, im Fortgang der Jahre des Schreibens, sondern kalkuliertes Erfinden, Herleiten und Etablieren eines neuen Ich.
Aus dem oberen Schwarzwald oder aus dem Allgäu, wo Brechts wirkliche Mutter herstammt, werden schwarze Wälder. Vivat! Die alte Stadt Augsburg, in der Brecht geboren wird, verwandelt sich in „die Städte“, ein modernes Konzept, schon Anklang oder besser Herklang von London, Chicago und New York, den Städten, in die hinein Brecht das Personal erfolgreicher Bühnenstücke und der dafür geschriebenen Lieder pflanzt. Lieder übrigens, die populär werden durch sein und Kurt Weills Genie, aber unbedingt auch, weil der Dschungel der Großstadt eine damals virulente, eine Zeitgeist-Metapher (hierorts insbesondere für Berlin) ist, weil „die Städte“ genau diese Aura bekommen. Die Hauspostille erschien erstmals 1926, als Buchauflage 1927. Das sind auch die Jahre der Uraufführung der ersten und zweiten Fassung von Fritz Langs Metropolis, der in Babelsberg produziert worden war. Ebenso 1927 kam der Dokumentarfilm Berlin – Sinfonie einer Großstadt in die Kinos. Und Alfred Döblin arbeitete zur selben Zeit an seinem Roman Berlin Alexanderplatz.
Das zitierte Gedicht „Vom armen B. B.“ schreibt dem Alter Ego des Dichters die „Kälte der Wälder“ zu. Sichtbar und hörbar schließt er an deutsche Märchenwälder an, die für Hänsel und Gretel, für das Rotkäppchen und andere, die da hineingerieten, verhängnisvoll „kalt“ waren. Insbesondere erinnert Brechts „Kälte der Wälder“ an Das kalte Herz, das gewissermaßen antikapitalistische Schwarzwaldmärchen, einhundert Jahre vor Erscheinen der Hauspostille verfasst von Wilhelm Hauff. Dass Brecht die Kälte auch als Haltung des Künstlers versteht und verstanden wissen will, dass es zum Erfolg führt, wenn einer sich den Stoff kalt vom Leibe hält, dieses Konzept teilt er neben einigem anderem sehr deutlich mit seinem Zeitgenossen und Antipoden Gottfried Benn.
Der Vers, mit dem die vierte Strophe der „Morgendlichen Rede“ beginnt, ist eigentlich unauffällig:
Ich konnte gut schlafen, nachdem ich Sie gesehen habe.
Nur ist die Zeitform des Nebensatzes falsch. Die absichtliche Verletzung der Hochsprache zieht sich durch die Postille. Brecht stellt seinen beiläufigen, umgangssprachlichen Sound in diesem Beispiel wie anderswo auf nämliche Weise mit dem Anklang an alte Moritaten her. Man lese „Vom Mitmensch“ aus der Abteilung 2, „Exerzitien“ in der Fassung der Taschenpostille von 1926. Das Gedicht, mit schiefer Überschrift beginnend (in der „Mitmensch“ kabarettistisch zu einem Eigennamen erhoben wird; man lese wie: Vom Karl oder: Vom Herbert), hebt an im Präteritum, um gleich ins Präsens zu verfallen, und so typischerweise hin und her: „Sie warteten. Mit Schwamm und Leinen! / Sie grüßen mit Trompetenschall“ oder „Sie brachten ihm die roten Bälge […] Erlebt in Furcht vor ihrem Grauen“. Es ist das Prinzip der Synopse der Kirchenaltäre und Fresken, der Moritatentafeln mit den vielen Bildern, die mit Fingerzeig oder Zeigestock erläutert werden. Die Zeitform pendelt bei dieser Vortragsform aus manchem Grund. Hauptsache ist: Der Vortragende muss Spannung erzeugen, das Publikum bei Laune halten. Dichter Brecht zeigt in diesen früheren Versionen der Gedichte eine schöne, absolut gestische Ruppigkeit.
Übrigens ist der Wechsel der Zeitform auch typisch etwa für den Zeugen eines Unfalls, der wiedergibt, was er eben gesehen hat. Sein Bericht wird und will zwar dem Ablauf folgen, aber er wechselt zwischen dem, was geschah, einerseits und dem, was gezeigt, also vorgespielt wird und damit jetzt geschieht, andererseits. Um Spannung zu erzeugen – denn er merkt ja rasch oder weiß es aus Lebenserfahrung, dass er in einem performativen Modus des Erzählens ist –, braucht er gern den Akut, erzählt im Präsens, als würde gerade geschehen, was vorher geschah, und er gäbe eine Livereportage. Unwillkürlich will er Spannung erzeugen, durch Geschwindigkeit, durch Wechsel der Ebenen die Dramatik der Situation wiedergeben oder übertreiben. Die Anwesenheit eines Publikums stachelt ihn an. Ein solches, die Wirklichkeit möglichst genau nachempfindendes Spiel, das vom Zeugen Darstellung und Gestaltung wechselnder Perspektiven verlangt, ist Brechts Urmodell für episches Schauspiel. Er führt es mehrfach an, beispielsweise in „Über alltägliches Theater“ von 1930 oder in dem berühmteren „Kleinen Organon für das Theater“ von 1948. Nach diesen Vorbildern von der Straße jedenfalls wechseln seine eigenen, schon zeitig „epischen“ Gedichte, seine Moritaten, Balladen, Lieder gern die Zeitform. Sie nehmen den Hörer auf diese Art herein ins Geschehen. Die Methode war auch auf Märkten und Jahrmärkten überliefert. Brecht, heißt es, habe Derartiges noch mit angesehen und gehört. Vor allem hat er es aufgehoben und als Schreib-Techniker beherrscht im direkten Sinn des Worts.
Ich konnte gut schlafen, nachdem ich Sie gesehen habe.
Aber Sie sind wohl müd heute?
So sehe ich den Baum Green und den, der ihn gesehen hat, nachdem er ihn sah. Ich weiß, wie gut der schlief. Und ich wohne dem Gespräch unmittelbar bei, als Zeuge. So sind wir im Gedicht zu dritt. Eine für diesen Fall ausgezeichnete Erfahrung.
Baum und Wind sind ein natürliches Paar, das auch bei Brecht zusammengehört. Wenige Seiten weitergeblättert in dem rundum feinen ersten Gedichtband, diesem Handschmeichler, einem Katechismus für den bürgerlichen oder Pfarrhaushalt nachgebildet, vom schwarzen Ledereinband, Goldschnitt, Goldprägung des Titels bis zu den eng zweispaltig gesetzten Gedichten, lädt uns dieses hier ein zum „Klettern in Bäumen“:
Dann steigt auch noch auf eure großen Bäume
Bei leichtem Wind. […]
Sucht große Bäume, die am Abend schwarz
Und langsam ihre Wipfel wiegen, aus!
Was für eine Aneignung, dieses: eure Bäume. Was für ein Geschenk, was für eine Gabe! Nackt mit weicher Haut hinaufzuklettern in die Wipfel, nur zu fühlen, sich hinzugeben der Bewegung – das Gedicht erzeugt Abendlicht und Atmosphäre, dunkle sinnliche Sensationen. Kurz vor Schluss die Einschränkung: „Es ist ganz schön, sich wiegen auf dem Baum!“ – als wäre es nicht wohltuend und nur schön, das Gefühl, sich zu wiegen und gewiegt zu werden. Doch will Brecht auf etwas Besonderes hinaus, und dazu fordert er auf:
Ihr sollt dem Baum so wie sein Wipfel sein:
Seit hundert Jahren abends: Er wiegt ihn.
Der abschließende, letzte Blankvers, mit dem die Bestätigung der Aufforderung erfolgt, duldet keinen Widerspruch. „Seit hundert Jahren abends“ – das ist ein mythischer Zeitraum. Die Zahl steht für die Ewigkeit. Das schwächere Gedicht eines schwächeren Dichters hätte versucht, mit „immer“ oder „ewig“ zu argumentieren. Der Abschluss dann:
Er wiegt ihn.
Das ist eine Frechheit. Wo hätte man das je gehört oder gelesen? Der Wipfel wiegt den Baum? Ja, der Wind bewegt die Zweige und Äste, den Wipfel, und das ist es auch schon. Der Wipfel ist doch Teil des Baums, nicht wahr? Wer wiegt hier wen? Die vom leichten Wind bewegten Äste den Stamm? Durch die Schlussformulierung ist das Bild eindeutig homoerotisch. Mangels rationaler Schlüssigkeit, gerade weil das kurze, klare Bild nicht ganz aufgeht, hält es den Leser fest. Das unmittelbar folgende Gedicht, mit dem nach dem Klettern in Bäumen das „Schwimmen in Seen und Flüssen“ behandelt wird, beginnt etwas lauter, aber mit derselben Partnerschaft von Wind und Baum im selben Licht: „Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben / Nur in dem Laub der großen Bäume sausen“ … Der Wind in den Bäumen ist Brecht so wichtig, dass er ihn gleich wieder hereinnimmt in seine Sammlung. Die ist in zehn Jahren gewachsen, enthält Gedichte des 18- bis 28-jährigen Mannes. Nichts ist Zufall, schon deshalb nicht, weil von Gründung des Unternehmens Brecht an selbstverständlich Mitarbeiterinnen, vor allem weibliche, an Bearbeitung, Fertigstellung, Zusammenstellung und Herausgabe der Texte von „Bertolt Brecht“ arbeiteten. Heißt für diesen Fall in der Formulierung der Anmerkungen zur Hauspostille von Jan Knopf:
An der endgültigen Textgestaltung hat Elisabeth Hauptmann wesentlichen Anteil.
Fünfzehn der einundfünfzig Gedichte des Bandes kommen nicht ohne Baum, Bäume, Wald aus. Neben Green und vorstehend behandelten Wipfeln haben ihren Auftritt Apfelbäume, morschender und schwarzer Tann, ewige Wälder, Kiefern, ein junger Pflaumenbaum und der Baum, der das Aas fraß. „Vom Tod im Wald“ ist bei Brecht sowieso und notorisch die Rede. Auch der Baal des gleichnamigen Stücks (1918/19 entstanden) wird ihn sterben. Hier findet sich eine Variante der für Brecht offenbar sehr wichtigen Ursituation:
Und ein Mann starb im Hathourywald
Wo der Mississippi brauste.
Starb wie ein Tier in Wurzeln eingekrallt
Schaute hoch in die Wipfel, wo über den Wald
Sturm seit Tagen ohne Aufhörn sauste.
Dieses Einkrallen, diese Verschlingung im Organischen ist nicht weit entfernt von Bildern, mit denen Brecht vielleicht selten in Verbindung gebracht wird. Einmal kommt sie von Märchen her, in denen Bäume Gesichter haben, die Zweige oder Wurzeln wallen wie wildes Haar von Geistern und Riesen oder greifen wie Gliedmaßen. Der weltweit in der Kunst um 1900 wirkende Jugendstil, mit diesem deutschen Begriff für Art nouveau oder die Münchner Sezession benannt nach der ebenfalls Münchner Zeitschrift Jugend, mochte derlei über alles. Wer hat sie gezählt, die Bilder der Ophelia und anderer Wasserleichen, etwa des Haupts des erschlagenen Orpheus im sich räkelnden, ringelnden Geflecht von Pflanzen und Pflanzlichem? Und sicher dichtete nicht nur der Münchner Arzt unter dem Pseudonym A. de Nora Derartiges, aber er tat es eben auch, als Brecht begann, Gedichte zu schreiben:
Die Jungfrau ging in den Elfenhain,
Am Eibenbaume schlief sie ein
… „Den Nachtmahr“, der diesem Werk den Titel gibt, umfängt die Jungfrau in dem Eibenbaum. So gibt sie sich verloren, und es bleibt ihr nur, dass sie „springt in das tiefe, dunkle Moor. / Hell hinter ihr her aus Busch und Rohr / Hallt höhnisches Lachen der Elfen.“ Welche Bilder von Pflanzen und welches bleiche oder fahle Licht auf den Gesichtern hatte Brecht im Kopf, als er zwischen Symbolismus und romantischer Ironie vom Klettern in Bäumen dichtete:
Und wartet auf die Nacht in ihrem Laub
Und um die Stirne Mahr und Fledermaus?
Und wie geschieht es also dem Baal, dem bösen Mann und brutalen Gebraucher der Wörter „10° ö.L. von Greenwich“, wo sich in etwa auch der Geburtsort von Brechts Mutter „in den Wäldern“ befindet? Baal spricht mit sich, mit der Natur:
Der bleiche Wind in den schwarzen Bäumen! […]
Das ist ein kleiner Wald. Ich trolle mich in die großen hinunter. […]
Ich muß mich nach Norden halten. Nach den Rippseiten der Blätter.
Ein Holzfäller sagt nach seinem Tod von ihm:
Er hatte eine Art, sich hinzulegen in den Dreck […] Er legte sich wie in ein gemachtes Bett.
In dem „Chroniken“ überschriebenen Teil der Hauspostille findet sich neben „Vom Tod im Wald“ ein Gedicht mit verwandtem Sujet unter anderem Titel. Es behauptet zwar, eine „Ballade von des Cortez Leuten“ zu sein, einundfünfzig handfeste Blankverse lang. Ihre Protagonisten aber sind kaum die „Leute“, auch nicht die erst noch brüllenden, dann schweigenden Ochsen. Akteur ist (mit der zeitgenössischen Übersetzung von Kiplings in Indien angesiedelter, berühmter Fiktion) „die“ Dschungel. Die Männer rasten auf irgendwelchen Wiesen. Sie hauen sich Feuerholz („Armdicke Äste, knorrig, gut zu brennen“). Sie trinken Branntwein, braten Ochsenfleisch. Zur Mitternacht schlafen sie schon „vollgesogen“. Zwölf Stunden später, „gen Mittag“, erwachen sie statt auf Wiesen mitten im Wald. „Armdicke Äste, knorrig“ umfangen sie nun als dichtes Dickicht mit „kleinen Blüten süßlichen Geruchs“. Auch nach obenhin alles dicht. Weder Sonne noch Himmel. Nach ausdauernden Versuchen, an ihre abgelegten Äxte zu gelangen, „pressen sie“ nur noch „die Stirnen / Schweißglänzend finster an die fremden Äste.“ Die aber „wuchsen und vermehrten langsam / Das schreckliche Gewirr.“ Dunkel wird’s, ganz zugewachsen, obwohl, heißt es, irgendwo noch der Mond scheint. Und nachdem noch mal Gesang der Leute zu vernehmen war, tags darauf, wird es zur zweiten Nacht ganz still. Was bleibt, was siegt, sind Brecht’sche Bäume, Brecht’scher Wind:
Langsam fraß der Wald
In leichtem Wind, bei guter Sonne, still
Die Wiesen in den nächsten Wochen auf.
Will ja wohl sagen: Die Dschungel holte sich das Aas der Leute. Der Dichter und sein Gedicht schwelgen im Sieg der Bäume über die Konquistadoren.
Etwa zehn Jahre nach der Hauspostille hat sich alles für Brecht geändert. Der Erfolgsautor der „Städte“ lebt als Emigrant in ländlicher Gegend in Dänemark. Die Svendborger Gedichte erscheinen in umfassender Form erstmals in Kopenhagen 1939, zusammengestellt und finanziert von Brechts zum Kollektiv hinzugestoßener dänischer Mitarbeiterin, der Schauspielerin und Regisseurin Ruth Berlau.
In den „Gedanken über die Dauer des Exils“ spricht der Dichter zu sich selbst. Zuerst wähnt er die Frist des Exils kurz und meint:
Laß den kleinen Baum ohne Wasser!
Wozu einen Baum pflanzen?
Bevor er so hoch wie eine Stufe ist
Gehst du froh weg von hier!
In Teil 2 des Gedichts weiß er mehr, das Exil dauert an. Und so heißt es zum Ende:
Tag um Tag
Arbeitest du an der Befreiung
Sitzend in der Kammer schreibst du
Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?
Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes
Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest!
Gedichte wie dieses bringen den Dichter Brecht nahe an den Leser heran. Er kommt zwar auf dem hohen Ross daher, arbeitet seinem Selbstverständnis nach mit jedem Wort an der Befreiung Deutschlands. Doch das Schleppen der Kanne Wasser, das zunächst noch für müßig gehalten wurde, wird so wie der Baum und sein Wachstum zum Gleichnis für das Schreiben im Exil, für das langsame Wachstum des Werks.
Die Tugend noch größerer Einfachheit im Gedicht gewinnt Brecht aus der asiatischen traditionellen Dichtung und Weisheitslehre. Die Begegnung damit verdankt er wesentlich der Initiative Elisabeth Hauptmanns, die ihn mit den englischen Übersetzungen des Sinologen Arthur Waley bekanntmacht und ihm deutsche Rohversionen anfertigt, nach denen er mit ihr gemeinsam arbeitet. Es gab zur fraglichen Zeit folgende Ausgaben: One Hundred and Seventy Chinese Poems von 1918, More Translations from the Chinese, 1919, sowie Japanese Poetry, ebenfalls 1919. Dazu kam 1921 The Nō Plays of Japan. Aus Letzterem hatte Elisabeth Hauptmann zum Beispiel das Stück übersetzt und 1929 in Berlin publiziert, aus dem Brechts/Weills Der Jasager wurde. Mit Arthur Waley treffen wir kurz auf eine Parallele zwischen dem einflussreichsten deutschsprachigen Dichter und dem einflussreichsten amerikanischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Ezra Pound. Über ihn sagte T.S. Eliot einmal, er wäre „zum Erfinder der chinesischen Dichtung für unsere Zeit“ geworden. Chinesische Dichter bestätigen heutzutage sogar die Rückwirkung Pounds auf die chinesische Dichtung der Gegenwart seit den 1980er Jahren. Pound jedenfalls, seit 1913 mit dem Nachlass des Orientalisten Ernest Fenollosa ausgestattet, hatte 1917 die ersten chinesischen Gedichte in den Fassungen Arthur Waleys in der Zeitschrift The Little Review lanciert (wie er am selben Ort kurze Zeit später auch für das Erscheinen von James Joyce’ Ulysses in Fortsetzungen sorgte). Was die chinesische Dichtung für Pounds eigenes Werk bedeutete, zeigt neben den Cantos sein Gedichtband Cathay von 1915, der siebzehn Übersetzungen traditioneller chinesischer Gedichte umfasst. 1917 veröffentlichte Pound ebenfalls aus den Manuskripten Fenollosas in eigener Auswahl und Bearbeitung Certain Noble Plays of Japan. William Butler Yeats hatte dazu eine Einführung verfasst. Pound war von 1913 an saisonweise Yeats’ Sekretär. Seinen Anregungen verdankt sich dessen Einakter im Nō-Stil At the Hawk’s Well, der 1916 uraufgeführt wird. Die zweite auffallende Parallele zwischen Brecht und Pound ist sicher das Arbeiten und Publizieren im Verband einer Gruppe. Pound hatte zu jener Zeit Künstlergruppen initiiert und mitgegründet wie die „Imagisten“ und die „Vortizisten“ mit jeweils eigenen Manifesten, Ausstellungen, Zeitschriften. Die dritte Parallele darf aufhorchen lassen: Im Jahr 1919 macht Pound die Bekanntschaft mit dem Ökonomen C.H. Douglas. Dessen auf staatliche Intervention ausgerichtete monetäre Theorie fasziniert ihn, er wird deren Anhänger. Die Beschäftigung mit ökonomischen Fragen, insbesondere mit der Rolle des Zinswuchers, wird Ezra Pound, den Dichter von Weltrang, schließlich in das Italien Mussolinis führen. Er wird Rundfunkreden mit faschistischem Furor halten, er wird noch der Regierung Italiens von Hitlers Gnaden in Salò 1943–45 seine Dienste als Berater antragen, es wird ihm in den USA der Hochverratsprozess gemacht, er wird für geisteskrank erklärt werden und nur deshalb einem härteren Urteil entgehen.
Brechts Begegnung mit der politischen Ökonomie führt auf die andere Seite der Welt, zur Identifikation mit der anderen totalitären Ideologie. Beide Dichter gehören zu den Großen der Weltliteratur. In ihrem Werk trifft künstlerische Avantgarde auf politische Doktrin und vereinigt sich mit ihr in beiden Fällen rückhaltlos und fruchtbar. Es gilt nicht nur für Pound und Brecht und sowieso nur pars pro toto für die Dichtung: Ihr ethisches Fiasko war beispielhaft für die Moderne auf dem langen Marsch durch das 20. Jahrhundert. Bis heute wird das ideologische Erbe der einen Seite selbstverständlich verdammt, während das der anderen hochgehalten, fortgeschrieben und kopiert wird. Für Letzteres steht der Name Brecht. Dabei sind sowohl Pounds als auch Brechts Ästhetik in ihrer jeweiligen Eigenart Maß und Stachel für Nachfolgende.
Zur ostasiatischen Tradition gehört auch, dass Tiere, Pflanzen, Bäume konkret und korrekt benannt werden und dass die Metapher dadurch zeitlose Stimmigkeit erhält: „Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes“ … Hier wusste Brecht selbstverständlich um das kulturübergreifende Symbol der wehrhaften Tugend, das in der stachligen Kastanie liegt. Im Gegensatz zu sonstiger Selbststilisierung ist das glaubhaft bescheiden.
In der Gedichtsammlung, deren Schlussstein die Gedichte „An die Nachgeborenen“ bilden, wird deutlich wieder und wieder auf dichterische Tradition und auf den (deutschen) Wald Bezug genommen. Massiv setzt Brecht die Metapher ein, gerade am Anfang, in der Deutschen Kriegsfibel: „Lorbeerhaine stehen / Abgeholzt“ – so steht es um die abendländische Kultur, wenn das „Brot der Hungernden“ aufgegessen ist. (Das vielzitierte Vorwort Heines zur Lutetia vom 30. März 1855 lässt grüßen, wo es allerdings notabene über die zukünftige Herrschaft der Kommunisten heißt: „sie hacken mir meine Lorbeerwälder um, und pflanzen darauf Kartoffeln“; im Originalton Heines in seinem vorletzten Lebensjahr: „ils détruiront mes bois de lauriers et y planteront des pommes de terre“). „Die Wälder wachsen noch“, doch nicht mehr lange, wo der „Anstreicher“ von kommenden „großen Zeiten“ spricht. „Die Baumfäller stehen horchend in den stillen Wäldern“, wenn derselbe Herr verlogen Frieden fordert. Kein Zufall, wenn einem hier mit Claudius’ „Abendlied“ eines der populärsten deutschen Gedichte überhaupt einfällt. So genau, so bewusst, so eingedenk seiner deutschen Leser und Hörer arbeitet Brecht. Mit Bildern von Baum und Wald, die ihm nicht nur zur Verfügung stehen als Kenner der Tradition, sondern die offensichtlich stark verwurzelt sind in seinem eigenen Bilderkanon, im dichterischen Werk von Anfang an. Folgerichtig heißt es zwei Seiten später schon vom General und seinem starken Panzer: „Er bricht einen Wald nieder“ und, zwar in derselben Zeile, doch erst im Anschluss: „zermalmt hundert Menschen“. Erstaunlich offen steht es da: Baum und Mensch sind für Brecht Verwandte. Wer dem Wald etwas antut, trachtet auch den Menschen nach dem Leben. Mit der Zahl „hundert“ sind es alle.
Es wäre vielleicht nicht der Rede wert. Es wäre vielleicht etwas wie ein Pleonasmus, durchaus ein weißer Schimmel: der Dichter und die Bäume. Klingt wie: der Dichter und die Worte oder, besser: der Dichter und sein Stift. Das zweite Sujet aller überlieferten Lyrik ist die Natur, in welcher Ausprägung auch immer. Der Mythos von Orpheus, der alles dazu weiß und hergibt, er drehte es auch schon um: Die Natur lauschte dem Dichter. Ein größeres Kompliment für den singenden Nachfahren Adams ist nicht zu machen. Ein ganz anderer Fall des Umgangs, insbesondere mit der sprossenden Welt der Flora, liegt offensichtlich bei Brecht vor. Doch gegen alle Politisierung des Mannes von sich aus, vonseiten der Mitwelt und Nachwelt, gegen den Vorrang des politischen Gedichts und Theaters, der ideologischen, belehrenden und besserwisserischen Absichten in so gut wie jeder Äußerung, könnte gesagt werden: Auch du, Brecht, warst ein Nachfahr des Orpheus. Der grobe Kerl hätte da seinen weichen Kern, der Sänger brutaler Männlichkeit einen sanften Faunsfuß. Brecht hat von allem Denken und Wissen und Weltverbessern Aufhebens gemacht. Ein Verhältnis zur Natur passt wohl nicht dazu, er nennt es nur „merkwürdig in meinen Arbeiten“. Hans Sahl ist präziser in seinen „Schwierigkeiten im Verkehr mit dem Dichter Brecht“:
In Brechts frühen, sehr schönen Gedichten wird ein vegetatives Naturgefühl offenbar – Nietzsches „Raubtierschönheit“, Werden und Vergehen, der Baum, der Aas frißt usw. In seinen späteren Stücken ist dies eine seltsame, oft faszinierende Mischehe mit dem Marxismus-Leninismus eingegangen, wobei beidem „Gewalt“ angetan wurde.
Was bei Brecht keine Rolle spielt, keine Rolle spielen kann, ist das von Gottfried Benn her so populäre lyrische Ich. Die Heutigen machen davon ziemlich viel Aufhebens. Anfangs unschuldig, mag sein. Sie werden gefragt, sie antworten. Schon früh, wenn einer die ersten Fühler ausstreckt mit Gedichten in einer Zeitschrift, mit einem ersten Bändchen, sofort kommt der akademische Frager und fragt nach dem, was da und wer da drinsteckt. Und sogleich kommt der Nachfrager, der das grüne Pflänzlein ins Herbarium presst, meist schon einen Abdruck im Sediment der Literaturgeschichte in ihm sieht. Da antwortet man, zu früh, zu ungenau, so, wie die eben noch private Innenansicht es hergibt. Was weiß einer von sich? Brecht verweigerte das. Seine lyrische, intime Poetologie steckt in seinem gegen die eigene Meinung gar nicht merkwürdigen Umgang mit der Natur, heißt im Gedicht. Sie findet sich in Kameradschaft mit dem Baum, im Bewohnen des Baums, im Gleichnis vom Baum, in der Gießkanne fürs Bäumchen, in dem letzten der Kinderlieder noch, gleich nach der „Kinderhymne“, veröffentlicht 1950, „Die Pappel vom Karlsplatz“; mit ihrem „freundlich Grün“ „in der Trümmerstadt Berlin“.
Zweimal wird das Bild vom Baum markant zur politischen Metapher verschoben. Das geschieht, wo die größte Hochachtung herrscht. Die „Ballade vom Baum und den Ästen“ von 1933 konterkariert mit ihrem Refrain jeweils das „tolle“ Treiben der Braunhemden, die sich als rücksichtslose Herren aufführen. Der Refrain erwidert auf die Anmaßung der Nazis:
Gut, das sagen die Äste
Aber der Baumstamm schweigt.
Einmal tut er es mit einer anderen umgangssprachlichen Variante:
Schön, so sagen die Äste
Aber der Baumstamm schweigt.
Es ist eindeutig das Volk, das hier Stamm ist, und die Äste sind die aufgepfropften Nazi-Äste, die so tun, als wären sie mächtig. Der Dichter vertraut so sehr auf das deutsche Volk, dass er seine wichtigste Natur-Metapher dafür zur Verfügung stellt. Er geht in seinem poetischeren Bild davon aus, dass der Schwanz der NSDAP nicht lange mit dem Hund der Arbeiter, der Massen wedeln wird. 1933 vielleicht ein noch verständlicher Gedanke, ein Gedanke aus Hoffnung. Bald, vom Blitzkrieg bis zum irrsinnigen Vertrauen auf den Endsieg, die Wunderwaffen usw., wird sich anderes erweisen. Das schert Brecht grundsätzlich und eben deshalb bis zum Schluss nicht. Wie stark – so gesehen – sein Glaube an „das Volk“, an „die Arbeiter“, an „das Proletariat“ ist, erweist sich hier an der Metapher. Im Weiteren verschiebt es sich mehr und mehr auf den Glauben an das sowjetische Volk, das große Land und seine Führer. Brecht sieht dort die historische Avantgarde am Werk. In dem größten Kompliment, das er dann doch und nach alldem – in der lyrisch fruchtbarsten Phase des skandinavischen Exils – zu vergeben hat, spricht er den Parteigründer und -führer an. Die Anekdote war schon zitiert. Hier folgt ihre lyrische Apotheose. Nach dem bisher über Brechts Metaphorik Gesagten bekommt sie das ihr zustehende Gewicht:
Als Lenin ging, war es
Als ob der Baum zu den Blättern sagte:
Ich gehe.
Brecht nimmt seine Grund-Metapher, sein vertrautes, fruchtbares, vielfach variiertes, sein poetisches Urbild und tritt mit dem Mythos, als welcher der Baum in allen Spielarten sein eigenes Werk trägt, an das Grab des Führers der Bolschewiki und Gründer des Sowjetstaats. Zum Baumstamm, in der „Ballade vom Baum und den Ästen“ noch eindeutig Allegorie für das Wesen, für die (vergeblich erhoffte) Widerstandskraft des deutschen Volks, wird eine einzige, zu der Zeit schon historische Person. Sie muss wohl die größte, die kräftigste, die wirklich tragende sein. Ja, gewiss, da steht „Als ob“. Da steht nicht: Der Baum Lenin sagte zu den Blättern des russischen Volks, der Parteimitglieder und Kommunisten in aller Welt, der „Proletarier aller Länder“: Ich gehe. Die Einschränkung ist da. Die Verse weisen darauf hin, dass dies nicht wahr ist, nicht ganz wahr, nicht wirklich so sein kann. Sie sprechen uneigentlich. Das Bild dekuvriert sich als Bild ganz im Sinne der Brecht’schen Verfremdung, schränkt sich offensichtlich selbst ein durch dieses „Als ob“. Und doch ist es Brechts Baum, ist es damit sein eigenes Werk, das er hier darbringt. Ein dialektischer Denker zeigt, wo seine Dialektik endet: in der uneingeschränkten Verehrung für diesen Mann. Im Glauben an dessen Sache. In der Hingabe des eigenen Werks für die Sache Lenins, das heißt für den Aufbau der besseren Welt, die namhaft gemacht wird in der realen Sowjetunion, unter den Bannern zum 1. Mai bei der Parade auf dem Roten Platz in Moskau, der Brecht 1935 an der Seite von Margarete Steffin tief beeindruckt beiwohnt. Was waren das für Zeiten, wo Brechts Gespräch über Bäume, das heißt sein Weiterschreiben fast verbrecherisch wurde, weil er schwieg, nach seinem Verständnis als antifaschistischer Schriftsteller schweigen musste, über so viele Untaten!
Paul Celan widmet ihm Jahrzehnte später das Gedicht „Ein Blatt, baumlos“, eine kurze Paraphrase:
Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?
Brechts Frage nach den Zeiten treibt Celan selbstverständlich um. Er steigert sie ins Paradox, spricht implizit vom Fluch der Gespräche, die das schon Gesagte, schon Ausgesprochene, das Unabänderliche dessen, was alles gewusst und reflektiert wurde, mit sich schleppten, so dass sie nur aufhören könnten. Celan hatte seine Konsequenz, den Selbstmord, schon vor dem Erscheinen des Bandes Schneepart mit dem Gedicht darin vollzogen. Seine Antwort auf die Frage nach den Zeiten war sein Verstummen.
(…)
Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016
Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116
LIED DER WERKTÄTIGEN FRAUEN
nach Bertolt Brecht
Du Bauernbursche, maßlos und verwegen,
wenn du an meiner Brust wie einem Euter hängst,
so werd ich sagen: Mach schon, meinetwegen,
Geliebter du, mein wollüstiger Hengst.
aaaaaDoch vergiß nicht über deinem Gestampf,
aaaaawas Lenin und Liebknecht uns lehrten.
aaaaaWir stehen noch immer im Klassenkampf.
aaaaaVorwärts, Genossen, Gefährten!
Du Werkzeugmacher mit den hohlen Wangen,
wenn du die Hand mir unters Linnen schiebst,
daß mich zerreißt dein wachsendes Verlangen,
so sage: komm. Sag nie, daß du mich liebst.
aaaaaUnd vergiß nicht über deinem Gestampf,
aaaaawas Lenin und Liebknecht uns lehrten.
aaaaaWir stehen noch immer im Klassenkampf.
aaaaaVorwärts, Genossen, Gefährten!
Erforscher du des Materialismus,
falls dich der Rücken schmerzt, wenn du mich küßt,
ich heile dich von deinem Rheumatismus,
und du wirst trommeln wie ein Rotgardist.
aaaaaDoch vergiß nicht über deinem Gestampf,
aaaaawas Lenin und Liebknecht uns lehrten.
aaaaaWir stehen noch immer im Klassenkampf.
aaaaaVorwärts, Genossen, Gefährten!
Manfred Bieler
Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.
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