Cees Nooteboom: Bittersüß

 

 

Eiszeit, Sternzeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Cees Nooteboom: Bittersüß

Nooteboom-Bittersüss

Eiszeit, Sternzeit,
meine Vergangenheit lebt in verriegelten Bildern,
mit Feuer und Wasser beschworen,
Grundbuch aus Sand und Harz
.
Cees Nooteboom, „Kartografie“

Ein Kopf wie ein Globus: Kräftige Linien ziehen die Stirne entlang, kreuzen die Wege der Meridiane und verschwinden schließlich im Dickicht der Haare. Längen- und Breitengrade im Gesicht eines Mannes, der auf allen Kontinenten zu Hause scheint, und auch wieder nicht. „Ich hatte wohl tausend Leben“, hört man Cees Nooteboom sagen, „und ich nahm nur eines.“ Doch in diesem einen, möchte man meinen, finden viele andere Platz.
1933 in Den Haag geboren, kommt Cees Nooteboom schon als Kind viel herum: Die Familie – der Vater stirbt 1945 nach einem Bombenangriff – wechselt innerhalb weniger Jahre zehnmal die Adresse. Im Mai 1953 bricht Nooteboom zu seiner ersten wirklichen Reise auf. Da ist er 19, hat die Schule abgebrochen und sich als Banklehrling und Bote versucht. Nun will er sehen, wie es sich anders und anderswo lebt. „Eines Tages“, erinnert er sich, „habe ich einen Rucksack gepackt, Abschied von meiner Mutter und den Zug nach Breda genommen und mich eine Stunde später an der belgischen Grenze an den Straßenrand gestellt und den Daumen hochgestreckt. Und ich bin eigentlich nie mehr zurückgekehrt. Ich habe nicht mehr aufgehört, mich zu bewegen, und nach und nach habe ich angefangen, dabei zu denken.“ Zu denken und zu schreiben.
Der Erfolg seines ersten Romans, Das Paradies ist nebenan (1955), verwundert ihn. Ist er nun ein Dichter? Er macht nichts anderes als zuvor – reisen, schauen, schreiben: Romane, Erzählungen, Gedichte, Reisereportagen, Feuilletons, Essays, Chansons. Im Laufe der Jahre entsteht ein eindrucksvolles Werk, beachtlich an Umfang und Gewicht.
Wo beginnen? Bei den Reiseessays, die mehr vermitteln als die andernorts verbreiteten, frivolen Versuche, Länder und Menschen zu taxieren, das Fremde zu domestizieren, das Pittoreske zu verklären. Cees Nooteboom denkt mit den Augen, er schaut genau hin, lässt sich von Vorlieben und Zufallen leiten, misstraut sich und hinterfragt das, was er gesehen und notiert hat. Was auf diese Weise entsteht, ist schwer zu beschreiben. Eine Mischung aus Tagebuch, impressionistischen Reisebildern, kritischer Reflexion, philosophischer Betrachtung: klug, unprätentiös, sinnlich.
Isfahan, Persepolis, Surinam, Macau: Orte, die nach Koriander, Kreuzkümmel und Kurkuma riechen und Nootebooms Phantasie beflügeln. Und doch behält er den durchdringenden, distanzierten Blick. Selbst die literarischen Ansichten aus den Städten und Landschaften Europas, die man selbst zu kennen meint, wirken wohltuend fremd. Eine Prosa mit Widerhaken, versammelt in Bänden wie Im Frühling der Tau, der Dame mit dem Einhorn, dem Umweg nach Santiago und Nootebooms Hotel. Ihr Autor, in den Biblio-, Disko- und Pinakotheken der Welt zu Hause und zudem ein gewitzter Zwischen-den-Zeilen-Leser, ist ein origineller Denker, einer, der jahrelang herbeigerufen wurde, wenn es galt, die Utopien von einem neuen Europa darzulegen. Er hat Reden gehalten, Essays publiziert, mit Politikern konferiert. Und sich dann wieder davongemacht. „Ich könnte nicht leben“, hört man, „wenn ich mich nicht von Zeit zu Zeit irgendwo völlig aus dem verschwinden lassen könnte, zu dem ich angeblich gehöre.“ Was das sein soll, dieses angebliche Zuhause? Das Kloster des einsamen Zimmers, in dem das Ich in den Landstrichen seiner Seele herumreist.
Kontemplation, Geduld, ein langer Atem. Nach den Erfolgen seiner ersten beiden Romane – dem Debüt folgte 1963 Der Ritter ist gestorben – hat der Romancier Nooteboom 17 Jahre lang geschwiegen, ehe er sich 1980 mit einem Buch zurückmeldete, das auch seinen internationalen Durchbruch bedeutete, Rituale. Nun geht es Schlag auf Schlag, als wäre der Bann wundersam gebrochen: Ein Lied von Schein und Sein, Mokusei! Eine Liebesgeschichte, In den niederländischen Bergen und Die folgende Geschichte. Auch Allerseelen, sein bislang letzter, vielleicht auch brillantester Roman, nimmt wieder jene Themen auf, die ihn seit Jahrzehnten bedrängen, in Prosa wie Lyrik: das Ringen mit Zeit und Vergänglichkeit, das Verschwinden von Erinnerung und Erfahrung, das Entstehen von Geschichte, diesem merkwürdigen Konglomerat aus Schicksal, Zufall und menschlichem Vorsatz. Cees Nooteboom geht weiter als andere. Seine Bücher überlisten die Wirklichkeit und beschwören jene Welt, die sich irgendwo zwischen Sein und Schein, Realität und Traum auftut. Ein Vexierbild, ein Spiegel, der verzerrt und verschlüsselt. Wer hineinblickt, sieht vieles klarer.
Cees Nooteboom ist für sein Œuvre mit hymnischen Rezensionen bedacht worden, mit wichtigen Preisen, Orden, Ehrentiteln. In wie viele Sprachen seine Bücher inzwischen übersetzt sind? Zwanzig, vielleicht auch einundzwanzig, meint Cees Nooteboom, so genau muss er es längst nicht mehr wissen.
Was übersetzen heißt, das aber weiß er. Cees Nooteboom hat immer wieder Lyrik ins Niederländische übertragen, Eugenio Montale, Cesare Pavese oder César Vallejo. Daneben begleitet ihn seine eigene Poesie seit über 45 Jahren. Wie sie ihn gefunden hat, woher sie kommt? Vielleicht aus der Leere, in die sich Wörter und Sätze hineindrängen, plötzlich und unvermutet. „Gedichte schwärmen aus, spähend nach ihren Dichtern“, heißt es in „Aas“. Und in „Lukrez“: „Das Gedicht ist ein Kosmos, / Die Welt ein Wort.“ Oder, prosaischer gesagt: „Lyrik ist überall und in allem, aber sie läßt sich nicht erzwingen. Ein Gedicht zu schreiben ist erst Arbeit, nachdem es, wie auch immer, angeklopft hat.“
Bei Cees Nooteboom hat es oft geklopft. Seine Gedichtbände, von Ard Posthuma ins Deutsche übersetzt, sind kaum mehr zu zählen. Ihre Titel lesen sich wie Programme – und lassen all jene Sujets erahnen, die leitmotivisch wiederkehren: Die Toten suchen ein Haus (1956), Kalte Gedichte (1959), Das schwarze Gedicht (1960), Geschlossene Gedichte (1964), Anwesend, abwesend (1970), Offen wie eine Muschel, geschlossen wie ein Stein (1978), Paesaggi narrati (1982) oder Das Gesicht des Auges (1989). Aas (1982) nicht zu vergessen. Das Titelgedicht daraus mag immer noch als Nootebooms poetologisches Credo durchgehen. „Poesie handelt niemals von mir, / und ich handle niemals von ihr. / Ich bin allein, das Gedicht ist allein, / und der Rest gehört Würmern.“
„So könnte es sein“ – und so heißt auch Nootebooms jüngster Band mit Poesie (2001). Ein Titel mit Hintersinn, einmal mehr. Nootebooms Gedichte sind fragile Gebilde, die Rätsel aufgeben – „soviel mehr ist Fragen als Wissen, / daß meine Erkenntnis mich schmerzt“ („Xenophanes“). „Ohne Antwort verkümmert die Suche, / ohne Frage vertrocknet die Antwort“ („Thales’ Freunde“). Noch deutlicher ausgesprochen in „Cauda“:

Jemand macht Licht, jemand
glaubt nicht an Dämmerung.
Die Frage ohne Antwort irrt
am Fenster vorbei

Nootebooms Gedichte fragen nach Tod und Endlichkeit, dem Verrinnen der Zeit, dem Verfall. „Formlos alles“, liest man in „Niemand“. „Die Zeitungen schmelzen, / die Fotos vergehen. Der Stein ist aus Wachs, / die Schrift aus Asche, die Zeit erlischt / und wiederholt die Erscheinung.“ Aus der Felsenwand spricht der Stein: „Dein Jahrhundert ist meine Sekunde […] Wir sind beide in Worten verborgen, / doch wir benennen dasselbe. / Nur weil du so kurz währst, währe ich lange, / doch es ist einerlei.“
Stehenbleiben, innehalten, den Blick wenden. Und hinter den Vorhang schauen. Nootebooms Gedichte sind Einladungen zur Meditation. „Wer nicht das Anschauen bricht, / sieht nichts“ („Der Betrug des Sehen“). „So färbt die Seele // die Augen nach neuen Bildern“ („Das innere Auge“). Oder, wie es „Silesius träumt“:

Die Seele hat zwei Augen, das träumt er.
Das eine sieht auf die Stunden, das andere
schaut hindurch,
bis dort, wo die Dauer nie aufhört,
das Sehen im Schauen vergeht.

 

 

Und das Gedicht selbst? Ein Findling, Treibgut, eine Flaschenpost aus einer anderen Welt, ob es die nun gibt oder nicht. „Der Anfang, die eine Zeile, die paar Worte, das Fragment, an dem man hängenbleibt, das Bild – es bleibt immer ein Mysterium“, hat Nooteboom erfahren. In seiner Lyrik sind es Fundstücke aus der Natur – Steine, Disteln, Schlick –, Momentaufnahmen von Reisen, die Begegnungen mit Zeichnungen und Gemälden, mit Dichtern und Philosophen, mit Briefträgern und Geographen, mit Grillen, Schafen und Eremiten. Vor allem aber ist es die Poesie selbst, die Nooteboom herausfordert: die wundersamen Verbindungen zwischen Autor und Poesie, zwischen Dichter und Leser, über alle Zeiten hinweg. So etwa in „Fujiwara-no Sadanobu“. Das Gedicht verdankt sich der Lyrik des japanischen Dichters Fujiwara-no Sadanobu, der im frühen 12. Jahrhundert gelebt hat.

Das ist das All, das nun
zu mir sendet, Geflüster
auf Seide gemalt,
unterwegs durch den Tunnel der Jahre,
ein Sausen früherer Worte,
eine Stimme.

Zwiegespräche zwischen Dichter und Poesie, Kunst und Leben, Körper und Seele. So auch in „Zweiheit“, einer Replik auf Lukrez und dessen Selbstmord:

So zerbrachst du den Krug, der du warst
Mit der Hand, die dein Buch schrieb, und
Deine Seele floß weg
Bis ich sie hier lesen kann.

Oder anders gesagt, in einem der vier Gedichte über den japanischen Haiku-Dichter Bashō (das eine Zeile von Jan Jacob Slauerhoff aufnimmt):

Nur in seinen Gedichten konnte er wohnen (Bashō III).

 

 

Und noch radikaler in „Aas“:

Es zogen Gedichte an mir vorbei
und erkannten sich selbst als ein Ding.
Indem ich es sah, sah ich mich.

Diese Sucht findet niemals ein Ende.

Der Dichter, gefangen von und in seiner Poesie? Fast wie eine Antwort: „Small bang“.

Das Gedicht hörte, wie es geschrieben wurde,
es sah die riesige Hand,
aus der es anscheinend entstand, Wort für Wort,
es hielt mit sich selbst kaum Schritt.

Schritt, sah es stehen, und sagte,
sich echoend Schritt, Schritt, aber schon
war die Hand wieder weiter, gejagt
von der Peitsche des Schreibens,
dem Heimweh nach Form.

Es schmerzt, nicht fertig zu sein,
wenn man nirgendwoher kommt.
Atemlos liegen die Wörter auf dem Tisch,
die Hand verschwindet, kommt wieder, verschwindet,
das Gedicht erinnert sich an nichts.

Nootebooms Anspielungen sind weise und listig, voll zündender Ironie. Daraus beziehen die Gedichte ihre Vitalität und Spannung: Gegensätzliches prallt hart aufeinander, Dualitäten und Widersprüche werden nicht weggeredet, Ambivalenzen sichtbar gemacht. Das poetische Ich versteckt sich – und gibt sich mehr preis als in der Prosa. Gerade auch im „Selbstbildnis eines Anderen“, einer Folge lyrischer Szenen, die zu Bildern von Max Neumann entstanden sind: Die 33 knappen, oft nur wenige Sätze langen Stücke, die zwischen Prosa und Lyrik dahindriften, erinnern an ein mittelalterliches Stationendrama: ein Kreuzweg, eine unheimliche, beklemmende Pilgerreise durch das Niemandsland von Traum und Alb. Ein „verwahrloster Körper“, ohne Namen, ohne Geschichte, stürzt in sein Inneres ab und verliert sich. „Er lehnt sich an die fehlende Reling und sieht sich zwischen dem verschwinden, was bleiben muß, zwischen allem, was bereits war.“ Eine erste Lektion in Abwesenheit, wie Nooteboom lakonisch konstatiert.
„Eiszeit, Sternzeit / meine Vergangenheit lebt in verriegelten Bildern“ („Kartografie“): Viele der Nooteboom’schen Gedichte wirken dunkel, verschlossen. Die mitunter unzugänglichen, expressiv-überhöhten Bilder seiner frühen Lyrik scheinen verschwunden, doch die Gedichte sind deshalb nicht gefälliger geworden. Auch darin liegt der Zauber dieser Poesie: dass sie ihr Geheimnis bewahrt. Kaum ein Gedicht, das sich nach mehrmaliger Lektüre nicht wieder neu erschließen ließe. Und doch ist an dieser Lyrik nichts zufällig, beliebig oder versponnen. Die Reflexion vertreibt die Geister, die Schemen bleiben.
Wer den Autor dann noch auf Niederländisch lesen hört, verfängt sich noch mehr in den zart gewobenen Gespinsten von Rhythmus und Klang. So feingliedrig und luzid diese Gedichte auch sind: Sie fallen nicht zusammen, wenn man sie dreht und wendet, um ihr Innenleben zu betrachten und ihr Räderwerk zu prüfen. Eine Lyrik, die stimmig ist, trotz der vielen Klänge und Tonarten, die sie anschlägt.
„Dichtung, das kann eine Atemwende bedeuten“, heißt es in Paul Celans berühmter Meridian-Rede. Cees Nootebooms Gedichte bringen den Atem ins Stocken. Momente des plötzlichen Erschreckens, des Staunens, der Erkenntnis. Danach scheint manches anders. Oder, um es mit Nooteboom zu sagen: „Seelenwanderung findet nicht nach, sondern während des Lebens statt.“

Susanne Schaber, Nachwort, Dezember 2001

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Tobias Wenzel: Zum 85. Geburtstag von Cees Nooteboom
NDR, 30.7.2018

Karsten Jauch: Von der Anschauung der Welt: Autor Cees Nooteboom feiert 85. Geburtstag
Thüringer Allegmeine Zeitung, 31.7.2018

Sabine Peschel: Cees Nooteboom – Meister der Erinnerung
Deutsche Welle, 31.7.2018

Tobias Wenzel: Cees Nooteboom wir 85
SWR2, 31.7.2018

Cornelia Zetsche: Cees Nooteboom zum 85. Geburtstag
Inforadio, 31.7.2018

Der Augenmensch ein Hör-Porträt

Fakten und Vermutungen zum Autor
Portärtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett
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Cees Nooteboom liest einige Gedichte auf Niederländisch und Spanisch in Mexico City im April 2012.

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