Charlotte Grasnick: Poesiealbum 317

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Charlotte Grasnick: Poesiealbum 317

Grasnick/Friedemann: Poesiealbum 317

BÜCHERREGAL

Es gleiten die Blicke
über Namen und Titel:
Hufeisenfinder,
wie sah dein Glück aus –
dieser, daheim in der Fremde,
jener, ein Fremder daheim.
Die nimmt ein Blatt vor den Mund,
die spinnt noch den Faden Geduld.

Buch an Buch,
mit dem Rücken uns zugewandt,
jedes der Pfeiler des anderen.
Nehm ich eines heraus,
kippen sie leicht nach rechts
oder links.

Meine Hand hält die Seite,
die umschlagen will –
das Leben,
das liebe Leben
schreibt weiter.

 

 

 

Es sind

wirklich sehr schöne Gedichte; gerade weil sie so einfach in der Sprache gehalten sind, berühren sie.
Margarethe von Trotta

Ihre Gedichte sind sehr weiblich. Heutig weiblich. Daher sehr menschlich, zupackend, fordernd, aber ohne Forsche, humorvoll, oft pointiert, subtil, tolerant, aber nicht aus Prinzip.
Jo Schulz

Die öffentlichsten unter ihren Gedichten reflektieren das Privateste, Intimste, sind Liebesgedichte. Entschlüsselbar bis auf den Grund des Hirns, des Herzens, des Geschlechts. Verräterisch im Detail üben sie dennoch keinen Verrat, verraten sie nichts an der Liebe.
Jürgen Rennert

Ihre Gedichte sind weder hermetisch noch unbegrenzt offen; ihre Sujets sind nicht eindimensional ostdeutsch.
Ralph Grüneberger

Nichts klingt profan, aber auch nichts pathetisch. Sie ist strikt in der Selbstbefragung.
Ingeborg Ruthe

Es ist immer ganz die unmittelbare Sensibilität, die sich in der ihr eigenen Dringlichkeit ausspricht und die eine vertraute Nähe zu diesen leisen Versgebilden stiftet, die sich beim Lesen von Gedichten sonst nur selten herstellt.
Rudolf Scholz

Ihre leichte, melodische Lyrik hat Maler bezaubert.
Eva-Maria Kasimir

Hier liegen Erinnerungen geronnen, sie begegnen uns mit solch einfacher und klarer Offenheit, daß wir beim Lesen vergessen können, daß es nicht die eigenen Erinnerungen sind. So erbringt ihre lyrische Sprache Reminiszenzen wie Farben zu einer Vergangenheit, die, als sie einst unmittelbar, auch schön gewesen war.
Reinhard Jirgl

Ihre neuen Gedichte – kühner in der Bildsprache und experimenteller in der Form, sind weit abseits des Konventionellen.
Benjamin Stein

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2015

Poesiealbum 317

Die Lyrikerin, die die Grenzen der kleinen Republik in mehrfacher Hinsicht auslotete: Lebens- und Schaffensorte vom thüringischen Keilhau über das sächsische Pirna und Dresden sowie das mecklenburgische Graal-Müritz bis ins hauptstädtische Berlin, von der fleißigen Schülerin über die pedantische Arzthelferin zur kollektiven Sängerin – ihr Liebes- und Kunstverlagen gipfelte in eigener Produktivität lebensnaher Lyrik, wunderbaren Metaphern und melodischen Worten. Viel zu früh verstarb die zurückhaltende Dichterin, deren Mann diese treffliche Auswahl auch bisher unveröffentlichter Gedichte zusammenstellte.

MärkischerVerlag Wilhelmshort, Klappentext, 2015

 

Gemeinsam: Gott und Zweifel

Schön, dass die Geister sich scheiden. Dass sich wahrer Geist scheidet – von denen, die alle Bücher der Offenbarung lesen wie Do-it-yourself-Anweisungen. Sich scheidet von Geistern, die jede Heilsgeschichte vergesellschaften wollen und damit aber nur immer jene Endzeiten militarisieren, die sie für Zukunft halten. Schön, dass wahrer Geist sich scheidet – von jenen Ideenbetreibern, die den Abstieg des religiösen Stoffes in den Weltbetrieb als einen Sieg feiern, den sie Vernunft nennen. Charlotte Grasnick nennt den Ort, an dem die trüben Geister der geschäftigen Rationalisten hausen und hervorwittern einen toten Winkel, „wo Gott und die Zweifel / verschiedene Wege gehn“.
Die Dichterin (1939–2009), Frau des Dichters Ulrich Grasnick (er besorgte die Auswahl dieses Heftes), war Sängerin, an der Komischen Oper Berlin; ihre Poesie ist schöner Geist, der sich von jenen scheidet, die fürs Selbstgespräch einen Moderator brauchen. Und die nur heimkommen können, wenn sie sich im Sinn einer Entfernung kräftig getäuscht haben. Dieses Gedichte greifen sich ihre Themen aus dem Theatermilieu, sie besingen Maler und Musiker, sie denken an Brecht und Huchel, rufen Rapunzel auf und staunen über das Weiß der Kreideküste auf Rügen. Die Verse gehen entschieden gegen die Richtung, in der einem die Zeit davonläuft. In ihnen beginnt immer ein sehr heutiger Tag, der unerwartet die Fragen aufwirft, die man sich doch erst in einem nächsten Leben stellen wollte – als könne man just das aufschieben, dem man im Raum der Sterblichkeit niemals entkommt. Die Illusion als Opposition – die sich in allem erneuert, was ohnmächtig bleibt. Schau Natur und sieh, was der Mensch nur immer loben, aber offensichtlich nicht leben kann: das Wunder, die Wald- und Wiesen-Wahrheit.

Wie die satten Farben
die hungrigen stärken

Die Titelgrafik des Bändchens, von Stefan Friedemann, zeigt „Marionetten im Nachmittagslicht“. Der Kasper im roten Wams liegt ermattet. Ein Ausruhen von den Fäden, die andere ziehen. Kurze Rast, bevor das Leben wieder den Strick nimmt. Bevor der Spaßmacher wieder hinaus muss, beschossen von den Lichtspeeren der Scheinwerfer. Der Gaukler wieder Poet. Wo Geist sich scheiden will von den Gewöhnlichen, muss er sich die Haut dünn reiben, sie sich fetzen lassen von den Reiß- und Beißkräften der Zeit. Grasnick fragt selbstbezogen mit Weltbezug, sie sinnt jener (medizinischen) Durchleuchtung nach, die den (tödlichen?) Schatten im Körper offenbart, und sie fragt ins Erweiternde hinein:

Wer aber durchleuchtet
jenen Schatten,
der außerhalb meiner Haut brennt,
der draußen
vor dem Fenster vorbeigeht
und findet keinen Schlaf.

Sorge. Teilnahme. Beschwörung des Kostbaren dort, wo das Leben gewaltsam etwas zu zerbrechen sucht.

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 6.5.2015

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin
Nachruf auf Charlotte Grasnick: Berliner Zeitung

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