TROPISCHE NÄCHTE ZENTRALAMERIKAS
Tropische Nächte Zentralamerikas,
mit Lagunen und Vulkanen im Mondschein
und mit den Lichtern von Präsidentenpalästen,
mit Kasernen und traurigen Hornsignalen.
„Oft habe ich bei einer Zigarette
den Tod eines Menschen beschlossen“,
sagt Ubico bei einer Zigarette. …
In seinem Palast, der wie eine rosa Torte aussieht,
sitzt Ubico, ist erkältet. Draußen wird das Volk
mit Phosphorbomben auseinandergetrieben.
San Salvador im Dunkel der Nacht und der Spionage,
mit Geflüster in den Häusern und in den Pensionen
und Schreien in den Polizeistationen.
Carías Palast vom Volk mit Steinen beworfen.
Ein Fenster seines Büros wurde zerschlagen,
und die Polizei schoß in die Menge.
Und auf Managua werden Maschinengewehre angelegt
vom Schokoladenplätzchen-Palast,
und Stahlhelme durchstreifen die Straßen.
Wache! Welche Stunde ist’s in der Nacht?
Wache! Welche Stunde ist’s in der Nacht?
muß in einem Stadium der Weißglut geschrieben werden, mit offenen Eingeweiden, geschüttelt von elektrischen Stößen; nur so werden alle Kräfte der Liebe und des Hasses, der Schönheit und der Schmach freigelegt.
Ernesto Cardenal, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1976
In einem Kloster der südamerikanischen Republik Kolumbien wartet ein Mann, der nach langem Suchen seinen Weg zu Gott fand, auf den Tag, an dem er wiederum in die Welt treten kann, aus der er sich zurückzog, nachdem er einen harten und schweren Kampf führte, um seinem armen, kleinem Lande mehr Brot und Gerechtigkeit geben zu können.
Sein Name ist Ernesto Cardenal und seine Heimat die zentralamerikanische Republik Nicaragua, wo sich die Familie Somoza seit mehr als drei Jahrzehnten an der Macht befindet.
Auch heute noch, acht Jahre nachdem der alte Diktator ermordet wurde (und zwar von einem jungen Dichter, wird das Land von dessen ehemaligen Privatsekretär regiert, und seine zwei Söhne bekleiden wichtige Posten: Der eine ist Chef der Armee, der ältere, der 1956 seinem Vater ins Amt folgte, Leiter der „Liberalen“ Regierungspartei.
Gegen diese machtvolle Clique haben Dichter und Künstler stets gekämpft, und unter ihnen stand Ernesto Cardenal in der ersten Reihe. Er wurde verfolgt und gefoltert, geschlagen und verurteilt, aber er stellte sich immer wieder in die vorderste Linie, stets dort, wo der Kampf der schwerste und gefährlichste war.
Zwischen 1952 und 1957, als der Widerstand gegen die Diktatur besonders erbittert war, gab es keinen Aufstand, keine Revolution, keinen Strassenkampf, in dem Cardenal nicht eine führende Rolle gespielt hätte. Deshalb wurde er, als man ihn gefangennahm, nicht mehr ins Gefängnis gesteckt, sondern in ein Konzentrationslager. Nach langen Monaten gelang es seinen Freunden, ihn daraus zu befreien.
Diesmal war er nicht mehr bereit, sich der Politik zu widmen, sondern er beschloss, einen schwereren, höheren Weg zu gehen: Er ging als Bruder ins trappistische Kloster von Gethsemany, Kentucky, wo er als Novize unter der Leitung des Dichters Thomas Merton sein neues Leben begann: bald erkrankte er schwer, da er das harte Klima der Vereinigten Staaten nicht ertrug, musste Gethsemany verlassen und ging nach Mexiko, wo wir ihn gegen 1960 im Benediktinischen Kloster von Cuernavaca finden, vollkommen seinen religiösen Meditationen und seiner Dichtung ergeben.
Das Experiment von Kentucky hinterliess aber im jungen Nicaraguaner (Cardenal ist Jahrgang 1925) tiefe Spuren, und so entstand sein Buch Gethsemany Ky, in dem Nicaraguas mächtige Stimme in Amerika zum zweitenmal zu Wort kommt, und zwar wiederum in der Dichtung eines Priesters: Einer der bedeutendsten Dichter des Landes war zwischen 1917 und 1954 der Pfarrer Azarias H. Pallais, einer der wichtigsten Modernistas Lateinamerikas, über dessen Figur und Dichtung Thomas Merton mir schrieb, es handle sich um „einen Fra Angelico des Urwaldes“. (Ueber Pallais’ Werk und Persönlichkeit veröffentlichte ich 1956 in Rio de Janeiro ein Essay, „Dichtung, Leben und Tod des Azarias H. Pallais“, das 1961 in Nicaragua in spanischer Uebersetzung erschien.
Unlängst erschien im Verlag der Universität von Mexiko eine Sammlung von Cardenals Epigrammen, die in seinem Vaterland jahrelang als illegale Flugzettel verbreitet wurden, in denen er seinen politischen Kampf in der Literatur fortsetzte. Er gebraucht das Epigramm in seinem klassischen Stil (dem Rezept Ezra Pounds folgend). Er vollendet auf diese Art eine politische Dichtung, die in seinem langen Gedicht „0 Uhr“ besonders ausgeprägt ist und dem Leser ein aussergewöhnlich starkes und blutiges Bild der mittelamerikanischen Diktatur gibt, mit all ihren negativen Helden, den Somoza, Ubico und Carias.
Die Universität von Antioquia, Kolumbien, hat soeben eben ein ein dünnes, äusserlich sehr bescheidenes Büchlein herausgegeben, das rasch zu einer Art Bestseller der modernsten Lyrik Lateinamerikas wurde.
Der Titel des Buches, salmos (Psalmen), sagt nicht viel, obwohl sein Autor, der nicaraguanische Dichter Ernesto Cardenal (Jahrgang 1925), einer der angesehensten und originellsten Lyriker des „Sechsten Erdteils“ ist. Als Vertreter der demokratischen Opposition in seinem Lande wohlbekannt, nahm Cardenal während mehr als einem Jahrzehnt an allen Kämpfen und Revolutionen gegen die Diktatur des Somoza-Regimes teil, wurde oft verhaftet und verbrachte lange Monate in Konzentrationslagern und Kerkern.
1957 beschloss er, die Barrikade mit dem Kloster zu vertauschen, ging ins Gethsemany-Kloster in Kentucky (USA), wo er als Novize des Dichtermönches Thomas Merton lebte, ohne dass man ihm gestattete, Gedichte zu schreiben. Seine im Kerker ruinierte Gesundheit erlaubte es ihm nicht, längere Zeit in dem Trappisterkloster zu leben, so dass er sich genötigt sah, nach Mexiko zu reisen, wo er einige Jahre im Benediktinischen Kloster von Cuernavaca weilte, und von dort nach Kolumbien ging, wo er sich darauf vorbereitet, im nächsten Jahr als Pfarrer nach Nicaragua zu gehen.
Die Psalmen Cardenals sind eine einzigartige Mischung von religiöser, politischer und kämpferischer Dichtung, in deren Inhalt sich die junge Generation Lateinamerikas wiedererkennt; deshalb auch der grosse Erfolg, dessen sich diese Gedichte in allen Ländern und allen Kreisen Lateinamerikas erfreuen: die Psalmen des E. C., von denen wir eine kleine Auswahl vorlegen, sind heute in allen Zeitschriften – von Mexiko bis Argentinien – zu finden.
Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000
Heiner Müller über Ernesto Cardenal in Berlin 1995.
Birte Männel: Aus Liebe zu seinem Volk wurde er Revolutionär
Neues Deutschland, 19.1.1985
„Uns bleibt die Hoffnung“
Berliner Zeitung, 27.1.1995
Uwe Wittstock: Ernesto Cardenal 80
Die Welt, 20.1.2005
Hermann Schulz: Wo alle sich kennen. Ernesto Cardenal feierte seinen 80. Geburtstag
nicaraguaportal.de, 10.4.2005
Roman Rhode: Der Heldenpoet Zum 80. Geburtstag von Ernesto Cardenal
Der Tagesspiegel, 20.1.2005
Klaus Blume: Ernesto Cardenal wird 80 Jahre alt
Mitteldeutsche Zeitung, 14.1.2005
Klaus Blume: Baskenmütze und Bauernhemd
nwzonline.de, 15.1.2005
epd: „Ich muss optimistisch sein“
sonntagsblatt, 24.1.2010
Erich Hackl: Lehrmeister des Gedichteschreibens
neues deutschland, 20.1.2010
Gunnar Decker: Der Traum vom Anders-Leben
neues deutschland, 20.1.2015
kna: Nonkonformist Ernesto Cardenal wird 90
Münchner Kirchenachrichten, 19.1.2015
Peter B. Schumann: Christ und Marxist
Deutschlandfunk, 20.1.2015
Andreas Drouve Interview mit Ernesto Cardenal: „Immer verbunden mit meiner Kirche“
domradio.de, 21.1.2017
Michael Jacquemain: Marxist, Rebell und Priester: Ernesto Cardenal wird 95
kirche-und-leben.de, 17.1.2020
Natalia Matter: Der nicaraguanische Theologe, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal wird 95 Jahre alt
Sonntagsblatt, 22.1.2020
Willibert Pauels über Ernesto Cardenal.
Ernesto Cardenal liest auf dem XV. International Poetry Festival von Medellín 2005.
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