Einem engeren, aber aufmerksamen Publikum ist Gerhard Rühm namentlich als Verfasser von Hörspielen, »dokumentarischen Melodramen« und visueller Poesie sowie als Zeichner und, vor allem, als Interpret eigener konzeptueller Klavierstücke und »Tondichtungen« bekannt geworden; letztere sind … als Buch mit beigefügter Kassette … in einer repräsentativen Auswahl greifbar, welche den Autor in unverwechselbarer Statur vor Augen führt und ihn zugleich, kraft seiner Stimme, auf faszinierende Weise vernehmbar macht. [Gerhard Rühm, botschaft an die zukunft (gesammelte sprechtexte). Rowohlt Verlag, Reinbek 1988.]
Vernehmbar wird freilich nicht nur der Autor als Person; vernehmbar wird die Sprache selbst in der Stimme des Sprechenden, der seinerseits zum eigentlichen »Sprach-Rohr« wird. Sprache gewinnt bei Rühm unmittelbaren, von aller Begriffsfracht befreiten Ausdruck, und dies besonders dann, wenn ihre Bewegung sich nicht aus progressiv angeordneten Wort- oder Satzgefügen … als lautlicher Nachvollzug des räumlich disponierten Schrifttexts … ergibt, sondern aus der Fragmentierung und der Neuverteilung des Sprachmaterials, das sich somit, im Akt der Artikulation, zu einem zeitlich strukturierten autonomen Klangleib aufbaut, dessen sinnliche Qualität beim mündlichen oder performativen Vortrag durch das Zusammenwirken von Körper- und Lautgestalt, Tonhöhe und Tonstärke, von Sprechrhythmus und Sprechtempo bestimmt ist, wobei der gesprochene im Unterschied zum geschriebenen Text zusätzlich über den strukturbildenden Zeitfaktor der Pause sowie, bei Einsatz mehrerer Sprecher, über die Möglichkeit der simultanen lautlichen Realisierung verfügt.
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Die von Rühm und seiner Sprechpartnerin Monika Lichtenfeld mit staunenswerter Präzision und Expressivität ins Werk gesetzte auditive Poesie bleibt im wesentlichen auf zwei Textsorten beschränkt. Einerseits gehören dazu die präverbalen Lautgedichte, die sich einzig aus Phonemen und/oder Wortsilben zusammensetzen, die also, nach Jandls Definition, »Sprache imitieren, oder besser: eine Sprache erzeugen, die nur in diesem einen Gedicht existiert«; anderseits handelt es sich um vorgefundene … der Zeitung, der Dichtung, der wissenschaftlichen Literatur oder dem Liederschatz des deutschen Volks entnommene … Texte, die durch unterschiedliche Manipulationen wie Segmentierung, partielle Wiederholung, Metronomisierung, simultane Überlagerung durch andere Texte mundgerecht und damit zu Sprechtexten gemacht werden.
Als Sprechtexte können auch die Rühmschen »Zahlengedichte« und »Zähltexte« gelten, die durchweg aus den Namen von Ziffern bestehen und in der Art von Litaneien oder Abzählversen vorgetragen werden; wenn mehrere dieser Zahlen-Texte schließlich mit der I (eins) enden beziehungsweise auf diese zurückgeführt werden, so findet sich dazu eine Entsprechung bei jenen Lautgedichten, die in einem schlichten Vokal oder Konsonanten ausklingen oder die überhaupt nur aus einem einzigen Laut bestehen wie das »atemgedicht« (h) und der Text mit dem Titel »so lange wie möglich«, bei dem … so lange wie möglich, das heißt ohne Atem zu holen … der Laut a »angehalten« wird, bis er in einem kaum noch hörbaren konsonantischen Knacken erlischt. Hier wie dort scheint Rühm, der übrigens nicht selten »eins« und »mein« zu meins kontaminiert oder aus dem Laut m das Wort »Mama« entwickelt, der Sehnsucht nach der einen vorbabelschen Muttersprache nachzugeben, der Sehnsucht nach der einen Mutter »Sprache«, die als universale Ursprache auf Wörter nicht mehr angewiesen wäre und sich auf die Verwendung von einzelnen Lauten beschränken könnte, deren Bedeutung … statt durch konventionalisierte Begriffe, die der inner- und zwischensprachlichen Übersetzung bedürfen … allein durch ihre Artikulationsart, zum Beispiel durch Flüstern, Schreien, Röcheln, Schnalzen, Zischen oder … durch Singen vermittelt würde.
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Am eindrücklichsten kommt Rühms Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner sprachlicher Artikulation in seiner »botschaft an die zukunft« zum Ausdruck, einem Sprechtext, der die durchaus utilitäre Funktion hat, »zukünftigen Generationen in etwa zehntausend Jahren Lagerstätten von Atommüll [zu] signalisieren«, wobei zu berücksichtigen wäre, »daß sofern es dann überhaupt noch Menschen gibt eine völlig veränderte Sprache bestehen [würde]«. Von wissenschaftlicher Seite hat man für die Lösung dieser Aufgabe den Einsatz »langwirkender Stinkbomben« als einziges allgemeinverständliches Warnsignal vorgeschlagen, wohingegen Gerhard Rühm, in ungebrochenem Vertrauen auf die ästhetische Erfahrbarkeit und also auch auf die Allgemeinverständlichkeit einer vorbegrifflichen Universalsprache, die als sinnliches Kommunikationsmedium wiederherzustellen wäre, eine Sprechpartitur entwirft, in der ausschließlich Mitlaute, vor allem n und r, sowie rhythmisierte Klopfzeichen und präzis festgelegte Pausen eingesetzt werden, um jene fernen Nachkommen vor der tödlichen Strahlengefahr zu warnen: die Rühmsche Botschaft … sie müßte während Tausenden von Jahren permanent über Lautsprecher »ausgestrahlt« werden … vermittelt in der Tat, nämlich als sprachliche Handlung, ein Gefühl der Beklemmung und Verängstigung, wie kaum ein anderer Text … und schon gar kein »literarischer« … es zu erzeugen vermöchte.
Wenn Rühm davon ausgeht, daß jeder Sprechtext »über den mitkomponierten Sprachklang hinaus« als informative »Erlebnisfolge« rezipierbar sein sollte, so hat er diese Forderung, nicht bloß in seiner »botschaft an die zukunft«; ebenso souverän wie überzeugend erfüllt. Doch diese »Erfüllung« bleibt an die emotionale Fülle seiner Stimme … der menschlichen Stimme gebunden; nur außerhalb des Buchs kann die Sprache zu sich selber kommen … zu ihrem Ursprung, der auch ihre Zukunft ist.
aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder
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