Zu Tisch bei meinen Eltern; es ist für sechs Personen gedeckt, wir sind zu dritt, meine Schwester, die mit Mann und Tochter ebenfalls eingeladen war, hat kurzfristig absagen müssen. Die Vorspeise ist serviert, in der Tischmitte dampfen die Schüsseln für den zweiten Gang, schweigend schenkt Vater den Wein aus.
Die unbenutzten Gedecke sind mit frischen Blumen geschmückt, man spricht des langen und breiten über die Grippeerkrankung meiner Schwester, als handelte es sich um eine tödliche Infektion. Ich selber bin, was die Eltern nicht wissen können, zur Zeit auf Diät, trinke heute keinen Wein, esse weder Fleisch noch Kartoffeln, begnüge mich mit dem gemischten Salat.
Die Stimmung ist ungut; man redet und redet über die Abwesenden, die Grippewelle, das Älterwerden und allgemein über den Niedergang der westlichen Zivilisation.
Plötzlich wird meine Mutter aggressiv, sie verstehe überhaupt nicht, sagt sie etwas zu laut, weshalb ich mein Lieblingsgericht nicht anrühre, sie frage sich, warum ich denn überhaupt hergefahren sei, wenn ich doch absolut nichts essen wolle, und überhaupt habe auch meine Schwester noch gestern am Telephon bestätigt, daß sie kommen würde etc.; und … aber jetzt sei alles anders, und auf wen man sich denn überhaupt noch verlassen könne etc.; sie werde, fügt sie trocken hinzu, nie wieder für mich kochen, und überhaupt sei es an der Zeit, daß sie gehe, sie komme sich nachgerade lächerlich vor als Mutter eines Sohns, »der schon über fünfzig ist«.
»Bitte«, sage ich: »Gib mir trotzdem ein kleines bißchen von allem.« »Da«, sagt sie triumphierend; und lädt mir den Teller voll.
Gehen heißt bei uns zu Hause »sterben«, und nie wieder ist die erste Drohung, die ich als Kind von meiner Mutter zu hören bekam.
aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder
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