Steinzeit

Die Steine zu erweichen, sie zum Sprechen zu bringen … das ist wohl die älteste Metapher für den utopischen Wunsch, die Sehnsucht der Dichter, durch Schönheit die Welt zu verändern; ein Vorhaben, dessen faszinierende Vergeblichkeit der Poesie jedoch keinen Abbruch tut, sondern sie zu immer neuen Phantasielösungen im Umgang mit der sogenannten Wirklichkeit herausfordert. Und eben jene … also diese, unsre … Wirklichkeit ist der Stein des Anstoßes, zugleich aber auch der Prüfstein aller »schönen Literatur«.
Ein solches, recht eigentlich lapidares Weltverständnis mag Hugo von Hofmannsthal dazu veranlaßt haben, jüngeren Autoren mit Nachdruck das Studium des »stummen Lebens der Gesteine und Erze« zu empfehlen. Roger Caillois, man weiß es, hat der Beschreibung und Deutung von Steinen zahlreiche Essays gewidmet; vor allem ging es ihm darum, »die treibenden Kräfte eines Faszinosums spürbar zu machen«, deren Ursprung letztlich mit dem Ursprung der Poesie identisch wäre; mit dem Ursprung einer höhern Ordnung. »Der Oxidian ist schwarz, durchsichtig und matt. Man macht Spiegel aus ihm. Sie geben eher den Schatten der Wesen und Dinge wieder als ihr Bild.«
So auch die Poesie, wenn sie sich vom Buch der Natur erst einmal abgelöst hat und Sprache geworden ist. Gerade deshalb, weil Steine nichts bedeuten, nichts anderes, als was sie sind, bleibt ihr »Schriftbild« offen für jede auch nur denkbare Lektüre. Indem Caillois die unterschiedlichsten Mineralien … Chalcedon, Beryll, Achat, Hämatit, Amethyst, aber auch namenlose Kiesel, Quarze … aufgrund des reinen Augenscheins beschreibt und sie gleichzeitig den Projektionen seiner dichterischen Einbildungskraft aussetzt, verleiht er ihnen einen Schliff … einen Sinn, der auf keinerlei Bedeutung angewiesen ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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