– Zu Johannes R. Bechers Gedicht „Walt Disney“ aus Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Band 5. –
JOHANNES R. BECHER
Walt Disney
Die Dinge auferstehn aus ihrem Schweigen,
Als wären sie zu lange schon verdingt.
Und das geringste Ding auch schwingt und singt,
Tanzt mit in einem wunderreichen Reigen.
Ein sprechendes Getier. Beredte Pflanzen,
Die eines Dichters Wink zum Tanzen bringt,
Und die vertrauten alten Märchen tanzen,
Vom Staunen eines dunklen Saals umringt…
Nur eine Frage. Wo so allbelebt
Die Welt sich zeigt, muß nicht gering erscheinen
Der Mensch in solchem Reich? Will ihn verneinen
Dies bunte, allbelebende Gedicht?
Es ist der Mensch, der dazu uns erhebt,
Die Fabeln blühn in seinem Zauberlicht.
Wenn lesen Entdeckungen machen heißt, darf man selbst in abseitigen Werken mit merkwürdigen Fundstücken rechnen. Wer hätte dem Dichter der DDR-Nationalhymne und späteren Kulturminister ein Sonett auf den Vater von Mickey Mouse zugetraut? Neben feierlichen Versen auf Michelangelo, Leonardo da Vinci, Grünewald, Hieronymus Bosch, Riemenschneider und Rembrandt erscheint ein millionenschwerer Konzernchef als Gegenstand der hymnischen Verehrung durch einen Kommunisten. Gebar der Schlaf ideologischer Vernunft hier etwas, das der Selbstzensur wie dem beamteten Zensor entgangen ist? Ein Rätsel. Versuchen wir es zu lösen.
Vor allen Dingen Zeit und Ort des Entstehens liefern uns den Schlüssel. Das Sonett steht in der Ausgabe Becherscher Gedichte 1936 bis 1941, muß also im Exil verfaßt worden sein. Der Anhang des Bandes nennt kein Datum, sondern notiert knapp und kryptisch:
Nach dem Nachdruck.
Wo und wann aber ist der Erstdruck erschienen? In der Sowjetunion, wo Walt Disney wohl kaum zu den Lieblingen Stalins zählte? Und um welchen Trickfilm handelte es sich eigentlich? Hat Becher den Streifen in einem Moskauer Kino gesehen? In einer Sondervorführung vor privilegierten „Kulturschaffenden“? Und was bewog Becher, dem Produkt, vermutlich Dutzendware, einen derart hohen Rang zuzugestehen?
Unter den beiläufig, fast leicht hingeworfenen Zeilen rührt sich ein Schicksal, das nur der zu ahnen vermag, dem Bechers zwiespältige Existenz bekannt ist. Das Gedicht ist ein verhohlenes Bekenntnis. Schon die beiden ersten Zeilen signalisieren, worum es geht:
Die Dinge auferstehn aus ihrem Schweigen,
Als wären sie zu lange schon verdingt.
So was schreibt man nur in einem Lande, wo das Maulhalten als Staatsräson gilt.
Aber wes das Herz voll ist, dem läuft der Mund über. Und was der Dichter nicht wagt, delegiert er an seine Figuren: sprechendes Getier, beredte Pflanzen. Eine Wiederbelebung, ja, eine Wiederauferstehung ereignet sich. Die vertrauten alten Märchen, Relikte einer bourgeoisen Welt, erscheinen, vom Staunen umringt, als hätten sie nie ihre allegorische Kraft und Herrlichkeit verloren.
Mit vorgetäuschter Bescheidenheit stellt Becher „Nur eine Frage“, doch diese enthält schon das Urteil über den Menschen. Becher war alles andere als ein Menschenfreund, im Grunde hat er seine Zeitgenossen verachtet und sie als Spielmarken in seinem unübersehbaren Werk verwendet. Welt und Gedicht, zu dem hier der Trickfilm überhöht wird, erscheinen, obschon wieder in vorsichtige Frageform gekleidet, als Negation des Menschen. Eindeutig: Er mochte Menschen nicht, und wenn man bedenkt, mit welchen üblen Gestalten er es während seiner politischen Karriere zu tun hatte, ist sein Widerwille verständlich. Scheinbar korrigiert er am Schluß sein Urteil, da es heißt:
Es ist der Mensch, der uns dazu erhebt,
Die Fabeln blühn in seinem Zauberlicht.
Freilich wird der bis zu diesem Moment verneinte Mensch „als solcher“ keineswegs rehabilitiert. Die Kursivsetzung in der letzten Zeile bezieht sich ja nur auf einen Menschen, nämlich den, dem die Hommage gewidmet ist: Walt Disney. Bechers kritiklose Hingabe, der euphorische Zustand angesichts eines Zeichentrickfilms und der Verzicht auf jegliche Reflexion der angeschauten Banalität, läßt im Grunde bloß eine Erklärung zu: Unter der Last kaum erträglicher Verhältnisse, in einer maßlosen seelischen Not, täglich mit dem Schlimmsten rechnend, aus der Parteihierarchie ausgestoßen, zumindest degradiert zu werden, betäubt sich die gepeinigte Psyche durch das hemmungslose Eintauchen in die durch den Film aktualisierte, als glückhaft empfundene Kindheit – zumindest für neunzig Minuten eine kurzfristige Erlösung von den eigenen Sorgen und Leiden. Die Mickey Mouse hat ihre Schuldigkeit getan und darf von der Leinwand abtreten.
Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999
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