Eine Mauer die nicht vermauert. Schrieb
Mit nächtiger Schrift: Verzweifle
Und später: Selig,
Eine Hand.
Wer warst du?
Das Licht erschien, in einem schwarzen Gewand
daß er den Eindruck vermittelt, ein Verwunderter zu sein. Ebenso wie jene, bin ich versucht hinzuzufügen, denen die Gabe der Illusion verweigert wurde.
Fürchten Sie sich nicht, ihm zu begegnen. Von allen Wesen sind noch jene am erträglichsten, die die Menschen verachten. Man soll nie einem Misanthropen aus dem Wege gehen.
Emile Cioran
von jenem im Verlauf unserer Arbeit sein dichterisches Gesamtwerk selbst ediert in einer Taschenbuch-Volksausgabe in Italien erschienen ist, einen großen alten Mann der italienischen Dichtung. Demgemäß trafen wir eine Auswahl, die einen Fremden, Vollendeten vorstellen will. Damit diese Präsentation nicht allein unserer Vorstellung entspringt, verzichteten wir auf die jedem dichterischen Werk eigenen Wiederholungen, die Vertiefungen des Dichters durch kreisendes Insistieren, die absteigenden Spiralen und ihre Variationen der Themen und suchten vielmehr die Vielzahl der sprachlichen und perspektivischen Facetten aufzuzeigen. Des weiteren legten wir unser Hauptaugenmerk auf Liebesgedichte, da unserer Auffassung nach in diesen am klarsten die Haltung zum Nächsten, Fremden, seiner anwesenden Abwesenheit oder der unseren zu schauen ist – und wir haben in diesen Band Guidos sämtliche Gedichte dieses Feldes aufgenommen, staunt und wundert! – wie jene ausdrücklich historischer Perspektive, des Dichters Betrachtung von Kontinuität und Bruch aufleuchten zu lassen.
Oliver Mertins
− Gedichte von Guido Ceronetti. −
Vor kurzem erregte Guido Ceronetti wieder einmal den Unmut des Vatikans mit einer seiner scharfzüngigen Glossen, der „Roten Laterne“, in der Tageszeitung „La Stampa“. Ceronetti ist ein polemisch antiklerikaler Misanthrop, der seine Marionetten wahrscheinlich mehr schätzt als die plappernden und fleischessenden Artgenossen. Man weiss nicht recht, ob dieser melancholische Exzentriker nicht einfach ein wütender Reaktionär ist, zumal er direkt aus einem vorchristlichen Italien in unsere Gegenwart geworfen zu sein scheint. Er übersetzte Catull und Texte des Alten Testaments, auch seine Notizen zu Pharmakologie und Medizin in dem älteren Essayband „Das Schweigen des Körpers“ sind eher der spätantiken Humoralpathologie verwandt. So wie im Schmerz – in dem sich der Körper artikuliert – die Heilung zu suchen sei, so sucht Ceronetti sie in der Sprache, die er als „Fernheilung“ verseht. Mit dieser Wortbildung überschreibt er einen Zyklus in „Mitleidenschaften und Verzweiflung“, einem Lyrikband, der nun, auszugsweise auf deutsch übersetzt, in der kleinen Berliner Edition Galrev erschienen ist.
Was sich der Publizist Ceronetti nicht erlaubt, das Sentiment der Verzweiflung, hier findet es seine Übersetzung in Bilder, die in vielem an Francis Bacons Visionen erinnern. „Abgehangen von feuchten Haken des Lebens“ – so beginnt zum Auftakt das erste Gedicht. Schädelstätten, zerfleischte und ausgeweidete Körper kommen als Topoi immer wieder vor. Eingebettet sind sie in antike Mythologie und jüdische Geschichte, Ceronettis persönlichen Hintergrund. Und doch beschleicht einen das Gefühl, dass Ceronetti sich auch mit masochistischer Lust in diese geschändeten Körper hinein wühlt. Formulierungen wie „der blutige Kuss“ sind selbst schon ver- und missbrauchtes Material. – An anderer Stellen scheint jedoch ein Ceronetti von grosser Zartheit und „leisem Verschweben“ hervor, wie es einmal bei Benn heisst.
Erfreulicherweise ist der italienische Text – mit Originalnumerierung – mitgegeben; der Leser erhält einen reellen Eindruck von der vorgenommenen Auswahl (häufig genug werden einem ja für die Übersetzung zusammengeschusterte Bücher zugemutet, die im Italienischen so nie existieren). Die beiden Übersetzer überzeugen, auch wenn man nicht alle Wortkomposita für gelungen bezeichnen mag, durch ihren einfühlsamen Ton.
Tomas Flitzel, Neue Zürcher Zeitung, 26.8.1999
diesem Titel gehorchen alle Gedichte, egal ob es sich zusätzlich etwa noch um Fragmente, Grabungen und Zeichen oder Einflüsterungen des Gefühls handelt. Guido Ceronetti, der Wüstensänger, Weltsichter (und siehe da war sie schlecht), Dichter und Dr. phil., wurde 1927 in Turin geboren. Seit seinem 18. Lebensjahr ist er journalistisch tätig auf den Gebieten der Geschichte, Medizin und Religion, die in seinen Gedichten die motivischen Schatzkammern sind und nicht nur als rhetorische Stichwortgeber taugen.
Seine Geschichte ist die von einem der auszog, die Welt nicht nur im Schein zu ertragen. Er sichtet sie im Schmerz. Federn lässt er dabei, und so kommen seine Gedichte daher, weder übermütig noch überdrüssig ob des ewigen Kreislaufs einer einzigen menschlichen Katastrophe, die selbst wenn sie hinter uns liegt, nicht enden kann. Doch Emile Cioran erklärt ihn noch angesichts seiner 72 Jahre in einem angefügten Autorenporträt als „Verwunderten“ und fügt hinzu: dem „die Gabe der Illusion verweigert wurde“. Die Höhe des Schwindels ist die Tiefe des Absturzes, und sein Sprachschatz erweist sich als Schmerzschatz, weder Schreien noch rufen vermag diese Kluft zu bannen, so sind die Worte seine begleitenden Wesen eben dieser Eintragungen: Ach Felsen Felsen von Körpern die leiden / welche drischt drischt ein verzweifeltes Meer.
Von den Straßen wechselte er zu den Mauern, die Öffentlichkeit macht Platz (oder schiebt sie ihn beiseite?) – nicht einmal das scheint zu helfen, auch da entsetzt sich ihm das Leben: im Riß. Die Ferne ist unüberbrückbar: Die äußerst hohen Mauern des Gynäzeums, wo die Frauen verwahrt werden, werden umkreist in unaufhörlicher Trübsal. (…) / Ihre Hände werfen uns Nagelschnipsel zu // Apfelgriebsche Groschen faulen Zähnchen / Erdnußschalen Nadeln kaputte Kämmchen // Papierstückchen darauf sie je etwas schreiben werden?
Trostloser kann die Hoffnung auf eine Begegnung nicht in Ungewissheit auslaufen. So sehr er sich auch müht, der Schatten ist nicht loszubekommen von den Fersen. Und so ist der Schatten vielleicht das einzige Gewand, dessen Berührung einer Versuchung gleichkommt, der man getrost unterliegen kann. Die Einsamkeiten sind die Mehrzahl des Ichs: Scherz anzutun ist all euer Tun: / Hast du geschaut in das Gesicht des Menschen / tu überhaupt nichts; Wohltun ist Nichttun. Selten hat sich einer so zurückgenommen und kann doch nicht dem treibenden Bedürfnis der eigenen Auffassungsgabe entgehen: soviel ich kann von Welt hinabzustürzen.
Die plaudernd kommentierenden Fußnoten Oliver Mertins’ zu einigen der Gedichte, die beispielsweise dem Leser den Skarabäus als Mistkäfer übersetzen, aber auch Quellen und Mündungen einzelner Teststellen eröffnen (so dass man sich recht bald in einem Delta wiederentdeckt), vermögen nicht über die Ernsthaftigkeit des Anliegens hinwegzutäuschen, das einen beim Lesen überfällt: der Wunsch, von der Fernheilung angesteckt, ihrer teilhaftig zu werden und: aus einem lichten Koma zu erwachen. Vielleicht reichte es ja, einer der „Edlen“ zu sein, für die Ceronetti schreibt, „um sie ein wenig von der Mühe abzulenken. Die Edlen des Schmerzes, des Denkens, der Krankheit der Zerbrechlichkeit…“ Kein Gedicht allerdings schafft es, diese Mühen des Lebens zu leugnen. Ceronetti ist noch einer, der die Welt aushält und man bemerkt, wie schwer es ihm fällt, wie körperlich nahe ihm das Leben zu Leibe rückt, so sehr, daß er sich ausschießlich pflanzlich ernährt, als ob Völlerei ihm wirklich noch als eine der sieben Todsünden gilt.
Und was am meisten ist des Kindes im Menschen / verhält das Gesicht. Gott ruft Abraham und bereitwillig gelingt diesem die Antwort: Hier bin ich. Es gibt keine Verwechslung: Immer werden sie jemand geschlachtet / Schuld die nie Schrei nie Sünde findet der Blindvollzug jeglichen Opfers, all jener Väter, die ihr Sohndasein in der Hörigkeit Gott gegenüber selbst nicht überschreiten können. Foltern sind keine Einzelerscheinungen befremdlichen Umgangs, sondern scheinen dem Menschen wesenseigen, und wo die Liebe hinfällt, da bleibt sie liegen. Gebrechlichkeit ist nicht länger das Symptom hohen Alters, dem der Körper zerfällt, und Düsternis füllt nicht nur jene, die ihr gewachsen sind. Bewunderer von der boshaften / Vollkommenheit des sich nicht Erfüllens sind wir, ohnmächtiger nie.Ceronetti, der Besessene infiltrierten Körpers kündet von der Verträglichkeit einer Krankheit, die nur in der Versehrtheit ein Überleben garantiert: Knochen bleiben vereinzelt übrig, die auch nicht halten, was sie versprechen, nicht einmal verschraubt gewöhnen sie sich aneinander. Und in der Mitte ein menschliches Gehirn, das nicht nach außen vorzudringen, geschweige denn zu wirken in der Lage ist. (So wird auch Verständlichkeit zur Vokabel unpassender Größe, eine Anmaßung, wenn die Räume erweitert sind, aber der Verstand in der Mitte festsitzt) Abgehangen von feuchten Haken das Leben – und nie ausgereift. Das unendliche Ausmaß an Schrecken ist nur in Kleinigkeiten zu relativieren: Handvoll Wasser und Schatten und Frohsinn von Hähnen. Und so verbleibt vom Gedicht eine Frau die zittert und wispert, weil die Trauersonne nicht wärmt sondern einfach nur hinzukommt, neben ihm ist, dem großen und kleinen Menschen der Schmerzen, der immer das Ich ist, denn was wissen wir schon von den anderen, wenn einzig der Schmerz als alleiniger unteilbarer Besitz zu gelten hat. Lieblichkeit sah dich nur flüchtig im Scheiden. Und eine Liebesgeschichte von 1812 etwa wird nur aufgefunden im Gedächtnis, das mit dem wirklichen Leben nicht konkurrieren kann: in den Klüften des Aufgelösten das für einen Tag / Ein Mögliches belebte: eine Hand, / Zart, von warmem Toten, / Soeben von der Seele verworfenen Fleisches, / Ruft in jenem abwesendem Rahmen auf lange einen Körper hervor // Daran der Stuhl erinnert mit dem Kleid welker Rose / Wie zum Herausfordern hingeworfen, die strenge / Schönheit welche uns richtet ruft wieder / Zu sich all jene unerreichbaren Gesten / Sie nie mehr zu trennen. Es war vielleicht Winter, / Die Stimme die äußerst schwach zu mir spricht / Ist ein im Schnee erwürgtes Rad, / Ein Hauch der kam, von Unerreichtem, zu Klang
Und die Greuel der Erkältungen setzen dem Leser (und potentiell Kranken, so er einen Leib besitzt) so anschaulich zu, daß auch er sich die Aspirine des Todes; ein letztes Niesen herbeisehnt. Aufsässig begegnet die Sprache den Schmerzen, doch es hindert diese nicht an ihrer Verbreitung. Ceronetti ist der Wortspender für den Leib, gehalten im Nistkasten der Krankheit. Was verkündet er nicht außer Heilung?
Doch sind die prophetischen Künder des Unheils zugleich immer Kinder der Unschuld, deren Stimme ein Abschuß der Artillerie stopft und so den Rausch des Erleuchteten löschte… (Er nährte sich von Pilzen: absonderlich, / daß er nicht früher verstarb.) Rückt dem lyrischen Subjekt da der Autor zu nahe oder gewöhnt sich der Autor an den Gedanken eigener Verwendung? Mit all der nötigen Kraft ironischer Befremdlichkeit formuliert er die verzweiflungsinnige Einsicht des (jüdischen) Geschichtsschreibers der Ereignisse (nach dem Sieg der Römer angestellt bei Caesar), die dann Geschichte genannt werden, wenn die Warnung vor dem Unheil dessen Vollzug nicht aufhält: Von uns hätte ihn doch keiner / verstehen können! (antwortete auf griechisch / der Schreiber): Er greinte sie uns / auf griechisch, seine Klagen! Und dem Unglück, / wer kann ihm, und wenn auch auf griechisch, Stimme geben // innerhalb unserer Mauern? Noch nicht einmal lesend erbarmt sich seiner jemand, weil Mitleid dem Weisen gegenüber unangebracht ist.
Dem abendlichen Kneipengänger (so nur verträgt sich der Weg mit dem Ziel) wird die Begegnung noch zugemutet: Was verkaufst du hier wo es alles gibt? – / Eine Leere verkauf ich, die allen fehlt, / Verkauf eine Abwesenheit, die ich hier nicht finden, (…) Niemand der etwas von mir kaufte heute, / Aber morgen werdet ihr sehen wie viele Leute, Ist das nicht der „Rufer in einer Wüste aus flüchtigen Befriedigungen“, als den ihn Fruttero und Lucentini in ihrem Nachwort beschreiben? Und obendrein als Beigabe erzählt Mertins im Anhang die Geschichte einer Berliner Entsprechung aus Zeiten, da Rosen noch etwas bedeuteten, bevor sie dem sinnlosen Tändel wichen, der heute von Tisch zu Tisch von müde wirkenden Verkäufern angeboten, blinkendes Spielzeug, kaum noch die Ablenkung des Blicks initiieren kann. Nicht diese Leere meint Ceronetti, wenn er sich die Blöße der Abwesenheit gibt. Längst ist in Italien die Handymanie, eine Krankheit der Scheinbarkeit, ausgebrochen (bald entspricht die Zahl der telephonischen Festanschlüsse derjenigen der mobilen, wird im Radio verkündet). Für Ceronetti wäre ein Kopfschütteln zu ersinnen, wenn das reichte, diese neue Plage des Gottes in der Wüste des Unverständnisses abzuwenden (wie sehr würde er die Heuschrecken vorziehen). Er, der Anachronist, der der Zeitenwende entgangen ist, Emigrant und Einsiedler, verabscheut das Moderne und ihre Mobilität, die manipuliert werden muß, die technisch verursacht wird und deren Energie außerhalb unserer Körper liegt während er noch Füße hat, die ihn weit genug tragen. Er durchstreift Italien und unterläuft nie der Gefahr, als Tourist zu gelten („Tourismus ist bezahlter Diebstahl an allem“, wettert er los), er lässt die Bedeutung bei den Dingen und die Dinge bei sich, dafür aber offenbaren sie sich ihm. Ein Haufen Pferdeäpfel auf der Straße, weit und breit weder Autos noch das Pferd zu sehen. „Der Haufen war von Engeln mitgebracht, dort hingelegt worden, zur Erinnerung an das wahre Leben?“
Sein Italien mittelalterlich-romantisierender Umrisse kippt dennoch nie in die Verklärung um, davor bewahrt ihn sein zuspitzender Sarkasmus, seine „leidenschaftlich negative Optik“. Die Leiden der Frauen im Gynäzeum, das Weinen der Rachel, die Klage des Josephus sind ihm näher und entsprechend erntet er Mißtrauen. Sein fanatischer Vegtarismus brüskiert jeden Gastwirt, seine Erscheinung verstört, doch nichts haben sie in der Hand, ihn zu schmähen, als „Dichter, Dichter“ zu rufen, wenn er vorbeigeht. Er vergilt es mit Spitzen bestechender Durchschlagskraft: „Wie kann eine Schwangere eine Tageszeitung lesen, ohne sofort eine Fehlgeburt zu haben?“ „Wie sollte man ihm nicht dankbar sein dafür, daß er samstags abends in den Telefonzellen eine mimische Aufführung von Ugolinos Kinderfressermahl entdeckt, weil die Telefonierenden aussehen, als wollten sie die Sprechmuschel verschlingen wie Totenköpfe“, erzählen Fruttero und Lucentini. Zynische Zeitschau, die allerdings in den Gedichten in eine Zeitscheu umzuschlagen scheint, aus der die Einsamkeit ihr Echo wirft ins eigene Ohr.
− So mag die Ansteckung von sich weisen, wer das Leben schon hinter sich hat.
Kristin Schulz
– Über Guido Ceronetti. –
Nur wenige Reisende kommen Ende Oktober in die auf einem Hügel gelegene Ortschaft Cetona, die heute zu den mondänsten Dörfern Umbriens zählt, da manche Größen der italienischen Gesellschaft wie der Modedesigner Valentino oder Allegra Agnelli hier ihre Sommerresidenzen haben – von Gärten umschattete Villen, in welchen der bedeutendste und verborgenste Bewohner Cetonas allerdings nicht zu Hause ist: Guido Ceronetti.
Im alten Orient wäre ein Wesen wie er als Hakim, als Weiser verehrt worden, weil er den Beruf des Arztes mit dem des Philosophen verbindet. Ceronetti selbst, nach seinem geistigen Standort befragt, würde vielleicht einen Punkt in jenem Raum nennen, der Buddha von Emile Littré trennt. Der Weg des Heils (der wahren Weisheit) besteht für ihn darin, sich zu entleeren, er habe jedoch nie etwas anderes getan, als seiner zügellosen Neugierde nachzugeben, wohl wissend, daß Gott nur in das leere, auf ihn konzentrierte, nicht von lexikalischer Gelehrsamkeit angefüllte Herz eintrete. Dem deutschen Leser, der lediglich die 1979 bei Suhrkamp erschienenen Teegedanken und Das Schweigen des Körpers zur Verfügung hat, gibt allerdings auch diese Annäherung an seine intellektuelle Position keine Antwort auf die Frage, wer Guido Ceronetti ist.
Der Versuch einer Antwort mag zunächst befremden: Ceronetti ist Essayist und Romancier, Dramaturg und Marionettenspieler. Er ist je nach der Stunde Christ, Buddhist oder Taoist. Ein Asket, Vegetarier und Chiromant. Ein Orgelspieler, Mystiker und Gnostiker. Ein homme à femmes und ein sarkastischer Chronist kultureller und politischer Ereignisse (seit 1972 ist er Mitarbeiter der Zeitung La Stampa). Er ist Teemeister, Exeget alttestamentarischer Texte und durch seine Verehrung für die Frauen verhinderter Misanthrop. Als geschworenen Feind aller Vulgarität und unermüdlichen Geißler des technokratischen Dämons hat gewiß keinen anderen Denker nach Cioran die Verlassenheit des Menschen in unserer Zeit so bekümmert und fasziniert wie ihn.
Wie Léon Bloy kann auch Ceronetti ein „Pilger des Absoluten“, wie Čechov ein Genie der Freundschaft genannt werden. Vor allem aber ist er ein Liebender, der an seinem Stehpult mit unerschöpflicher Hingabe den Pfaden morgen- und abendländischer Weisheit folgt, um nach dem göttlichen Kern im menschlichen Geist zu suchen. 1927 in Turin geboren – seine Mutter war Kassiererin in einem kleinen Kino, sein Vater führte einen handwerklichen Betrieb –, suchte er schon als Kind einen geistigen Raum außerhalb der Enge seiner „obsessiven Familie“ und fand ihn in Büchern und ab Mitte der fünfziger Jahre im Unterricht eines alten Rabbiners, dessen Frau und Kinder auf der Flucht nach Italien am Brenner von der Gestapo aus dem Zug gerissen und kurz danach in einem Konzentrationslager ermordet wurden. Dieser bärtige, vom Schicksal grausam behandelte, doch in seinem Glauben unerschütterliche Jude brachte seinem jungen Schüler Althebräisch bei, eine Sprache, die dieser zeit seines Lebens studierte, um sich mit dem „verbalen Tumult“ und der „verzweifelten Klarheit“ der „Ecclesiastes“ auseinanderzusetzen, die Ceronetti, wie auch die „Psalter“, das „Buch Hiob“, den „Jesaia“ und das „Hohelied Salomos“, ins Italienische übertrug und mit erhellenden Kommentaren versah, wofür ihm seine Leserschaft nicht genug danken kann. Kaum ein anderer Bibelexeget hat die verstörenden Texte des Alten Testaments in ihrer gebieterischen, schmerzhaften Wucht so durchdringend zur Geltung gebracht.
Auf die fünfzig Jahre lang währende Beschäftigung mit den biblischen Texten blickt Ceronetti wie auf ein „Joseph-Conrad-Duell“ zurück. Daß er es schließlich gewonnen hat, liegt an seiner besonderen Gabe: stärker als andere um die magische virtus des von seinem Klang untrennbaren poetischen Wortes zu wissen. Wie der Verfasser des „Hohenlieds“ war Ceronetti sein Leben lang auf der Suche nach jenem heilenden Klang der Sprache, ihrer geheimnisvollen Schwingung, der er in der Malerei ebenso wie in der Architektur, im Film ebenso wie in der menschlichen Seele nachspürte. All jene Phänomene, denen er sich mit Leidenschaft widmete, wie die Bilder Grünewalds oder Rembrandts, die Dichtungen Baudelaires oder Kavafis’, die Oden des Horaz oder die Erscheinungen der Liebe, tastete er nach jenem Klang des Lebens ab, der vielleicht als „Herzensklang“ bezeichnet werden kann. Nur dem „richtigen Ton“ eignet etwas Unbestechliches, nur er verbindet mit der Ader des Lebens.
Waren Dantes an der Seite Vergils durchschrittene Höllenkreise erregend wie ein indisches Zirkuszelt, so ist das von Ceronetti durchquerte Inferno eine von der Faust der Technik beherrschte, von Kohlenmonoxyd erfüllte, von Industrieabwässern durchspülte und von toten Seelen bewohnte Betonwüste, an deren Bäumen das Glöckchen des Aussätzigen hängt. Auf der nun bald neun Jahrzehnte währenden Reise durch „das Reich des Bösen“, bei der ihm die Sprache als Exorzismus gegen Feuer und Dämonen dient, ist nichts sicher vor dem klaren Blick dieses der Alraunenwelt entwachsenen, von grünem Tee und Gerstenkörnern sich nährenden Gelehrten, der früh erkannt hat, daß die gefährlichste aller Waffen der Mensch selbst ist.
In Angst vor dem Menschen leben. Nachdem die wilden Tiere verschwunden, die Schrecken des Himmels beiseite geräumt sind – vergleichsweise angenehme Ablenkungen –, bleibt als einzige Quelle der Angst nur der Mensch. In den Metropolen ist sie so stark, daß sie diese in ungeheure Festungen der Angst des Menschen vor dem Menschen, in Organisationen der Ängste verwandelt.
Sokrates hat die Mäßigung in Athen vor der Pest bewahrt. Mit diesem Vorbild hat sich auch Ceronetti durch Mäßigung vor den Übeln unserer Zeit geschützt. Sein Leitspruch lautet: „Sich wie eine Ameise nähren und wie ein Elefant entleeren“ – nicht nur aus physischen, sondern auch aus metaphysischen Gründen. Und doch will dieser italienische Hakim nichts von dem ausrotten, was es an Menschlichem-Märchenhaftem noch gibt. Und obwohl er der Ansicht ist, daß die somnambule Menschheit sich selbst den Scheiterhaufen errichtet, glaubt er an das Glück, ist er ein Sammler jener seltenen Atome des Glücks, welche die Macht haben, unser Leben zu durchfunkeln und zu erhellen.
„Trinkt Tee und verzweifelt nicht!“ Zwischen den Renetten, Birnen, Weintrauben und roten Blüten des Obstkorbs, den ich für Guido Ceronetti zusammengestellt und im Oktoberregen durch eine dunkle Gasse von Cetona in die Bibliothek seiner kleinen Wohnung getragen habe, lag eine Tüte Japan Kamairi-First Flush, als Anspielung auf einen seiner Teegedanken:
In den tiefen Regionen des Geistes, wo der Gedanke über den Weg nachsinnt, wo der Himmel sich wölbt, bis er mit seinem unsichtbaren Reigen unsere schmerzliche Anstrengung, ihn zu durchdringen, ganz umfaßt, wird das Aroma des Tees vor allem als Ankündigung vernommen, daß der Himmel nahe ist.
Zeit seines Lebens war Guido Ceronetti an den Stern des Geistes geschirrt, der noch immer aus seinen kurzsichtigen Augen leuchtet, welche das Alter in ihrer Klarheit kaum getrübt hat. Er schrieb einmal, daß dem Menschen zwei Fluchten bleiben: in den Freitod oder in den Geist.
Aus der Welt, mit Gewalt oder mit Sanftheit, kann man noch fliehen.
Wer die Bücher Ceronettis gelesen hat, weiß, daß er, welche Schmerzen und Ängste ihm Gott auch aufgebürdet haben mag, niemals den ersten Weg wählen würde, denn „das Heilige macht angst. Aber auch seine Abwesenheit, auch die entheiligte Welt ohne Regeln, ohne Verbote. Frei können wir nicht existieren. Man muß wählen, was einem mehr Trost spendet.“
Anna Katharina Fröhlich, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 2016
Schreibe einen Kommentar