DAS GELD DER ABGESTORBENEN
1
Geld oder Geduld? Nominell. Es wächst
auf den Lichtungen. Wilde Münzen mit gezackten
aaaaaRändern,
Kletten an einem Hosenbein. Das grüne Flaschenglas
in Scherben auf den Wegen zum Heiligen Sand
2
in ihren Gräbern liegen die Gelder und arbeiten.
Sie nehmen es sich von den Abgestorbenen, bemalen
kostbares Papier.
3
Die Zahl ist ein runder, rasender Gedanke.
Eine Flüssigkeit zwischen fernen Ufern. Wo die
langhalsigen Leichtkräne ihren Durst stillen.
Wo die Tage kalt sind und dunkel.
4
Was sind das für Wasserflächen in den Gedanken
der kleinen Leute? Die Nachbarn haben seit Jahren
keine Landschaft geschmeckt, sie kennen
sich selbst schon zu gut (Bo).
5
Kleine Entfernungen, gemessen mit einem lächerlichen
Schuh. Das Geld ist kurz, seine Zeit rascher
als ein Schmerz.
6
Die Namen der Abgestorbenen, binäre Konstrukte
aus viel Fisch und wenig Honig. Algorithmen auf einen
allgemeinen Durst. Musik für ferne Lüfte usw. Fischart,
genannt Menzer. Das Wort erschrickt, wird
Schrift
7
Wer zu viel über den Knöpfen sitzt und sich prüft, hat bald
Risse im Haus und Wasser auf dem Acker. Mein Feld
ist die Welt (Wichner). Ich hacke und schneide
die Hecke in Sibiu, ich esse Bananen aus
dem Banat.
8
Ich trinke das Wasser der Unterwelt, ich fahre mit der
Geschwndigkeit eines Regentropfens in mein
Haus.
Hans Thill, der Dichter, Übersetzer und Herausgeber, hat in den letzten zwanzig Jahren unermüdlich fremde Stimmen und Bildreiche in den hiesigen Sprachraum eingespeist: Gedichte aus Polen, Slowenien, Schweden, England, Ukraine, Belgien und der Türkei. Soeben ist mit Ratgeber für Zeugleute sein neuer Gedicht-Band erschienen. Einen Eintrag „Zeugleute“ gibt es nicht im Grimmschen Wörterbuch, dafür findet man das Wort in den Fantasie(vogel)welten eines August Klett, dessen Manuskripte sich in der Prinzhorn-Sammlung befinden.
Verse sind Übersetzungen – in Worte und Klänge übersetzte Erlebnisse, Einfälle und Erinnerungen („Ich sage das Wort, das seine Flügel faltet“), die Thill wieder und wieder dreht und wendet („Surensammler, Sammelsurium“), kollagiert und miteinander kollidierend ins Glühen bringt. Dabei entstehen beflügelte Zeilen
Von den Wäldern haben wir noch
Die Buchstaben. Der ruhige Schritt einer Eiche,
Reisig, das sich öffnet und schließt wie ein Herz,
eine Glastür am Flughafen
Jedes Gedicht trägt eine Schönheit mit sich, die es nicht gleich vorweist, sagt Ulf Stolterfoht, Hans Thills Verleger, und tatsächlich speist sich die Schönheit nicht zuletzt aus dem Eindruck des Nicht-Verstehens. Denn Schreiben kann Welten imaginieren, die „nichts sind als Luft“ (Paavo Haavikko).
Liest man die neuen Gedichte des Heidelberger Lyrikers und Übersetzers Hans Thill, versammelt im Band Ratgeber für Zeugleute, hat man das Gefühl, eine rätselhafte Landschaft zu betreten. Surreal konfrontieren sie uns mit dem scheinbar Unerklärlichen:
Sprich nicht in diesem Ton
zu Fischen. Sei flüssigen Fußes
an Land und in Stürmen ein fester Schuh.
Fass dich gestikuliere. Nimm die Hände
vom Brot iss den Essig schluck das Wunder
in dein Kleid auf Beinen (…).
Szenen wie diese im Gedicht „Fischpredigt“ weisen auf die Flüchtigkeit fester Gefüge von Körper und Sprache hin.
Der erste der sieben Zyklen, „Aus dem Babylonischen“, ist noch der Ästhetik eines Hans Arps und Hugo Balls verpflichtet. Die Bilder kommen auf den Leser zu wie Ausschnitte, entrissen aus einem größeren Zusammenhang menschlicher Urmythen. Spielerisch erkundet er zudem die Baupläne der Wörter, mit denen er seine Possen treibt:
… wir quirlten das Wolkenmaterial
quakten Küstenschwäbisch und ein
Gemisch aus
Kopfschütteln und Suaheli (…)
Neue Möglichkeiten
In den folgenden Zyklen, die „Die Beamten des Himmels“, „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“ sowie „Von den Wäldern“ heißen und denen Zitate von Edmond Jabès, Tristan Tzara oder Henri Michaux vorangestellt sind, hebt er allmählich die selbst auferlegten Regeln auf und klopft die poetische Sprache nach neuen Möglichkeiten ab. Immer mehr dient sie ihm zur Reflexion über die Vergänglichkeit und das eigene Ich:
Ich liege neben meinem Körper,
der sich übt in Schlaflosigkeit.
Er ist ein leuchtendes Boot, seine Organe
verschwinden, indem sie die Form
des Lichts annehmen.
Bildstark evoziert er Streifzüge durch Mannheim und Ludwigshafen und die hereinbrechende Dämmerung beim Überqueren des Rheins, dunkel die Vision im titelgebenden Gedicht „Ratgeber für Zeugleute“. Die Wortfügung „Zeugleute“ stammt vom schizophrenen Künstler Heinrich Klett aus der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung. Auch die aktuelle Lyrik Hans Thills, Jahrgang 1954, bezieht ihre Schönheit aus dem Diffusen, Prekären, die viel Raum lassen, eigene Welten zu imaginieren.
Michael Braun: Das heiße Fleisch der Wörter
signaturen-magazin.de
Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.
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