XV
Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
in der mittagsheißen Luft des Brajčinotals,
aus der unterirdisch bitteren Höhle herauf,
die das Berggebüsch mit seinem Duft verdeckt.
Als Bläuling, Admiral und Trauermantel,
als Pfauenauge flattern sie umher
und gaukeln dem Toren des Universums ein Leben
vor, das nicht wie nichts stirbt.
Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert
mit Anflügen von Seelenfrieden und süßen Lügen
und Sommergesichten verschwundener Toter?
Mein Ohr antwortet mit seinem tauben Klingen:
Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen
vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.
Erstens ist sie unlesbar – jedes ihrer Bücher zieht die Grenze vom Lesbaren zum Umlesbaren neu; zweitens sieht sie in Ideologien geschliffene Perlen, die alle Lebens- und Denkformen in eine spannen wollen, die aber gerade in ihrer äußeren Gestalt ihre historische Signatur, deren Zwänge und Gewaltsamkeiten verraten; und drittens läßt sich in ihren Texten nicht genau auseinanderhalten, was uns die Wirklichkeit – aber welche Wirklichkeit? – auseinanderzuhalten gelehrt hat: Realität und Imagination, Faktum und Fiktion, Wachen und Traum, Chronik und Märchen.
Wer je Inger Christensen Sommerfugledalen oder eines ihrer anderen vielfach vertonten Gedichte hat vortragen hören, mit leiser, eindringlicher Stimme in einer Art Gesang, weiß, welche Suggestion davon ausgeht, eine unbezwingbare Gewißheit, ein Meisterwerk zu hören. Aber er sollte auch wissen, wieviel Systematik, Formstrenge und Anstrengung des Begriffs dem zugrunde liegt. Man muß das Lesbare und seine geschliffenen wie schiefen Perlen genau studieren, um das Unlesbare zu finden.
Das dänische Original von Inger Christensens Schmetterlingstal hält andere Möglichkeiten der Rhythmik, des Reims und der Assonanz bereit als das Deutsch der Übersetzung, Möglichkeiten, die sich vielleicht erst ganz erschließen, wenn die Dichterin ihren Text laut vorliest. Die schöne Homonymie im sechsten Sonett, daß sich der „Harlekin“ auf „måneskin“, dem Mondschein, reimt und so den Gaukler ins Licht seines Trugschließens setzt, geht ebenso verloren wie der Zusammenklang von „sørgekåbe“ mit „nektardråbe“, von „Trauermantel“ und „Nektartropfen“, die auf besondere Weise zusammengehören. Doch zu Recht hat Hanns Groessel in seiner Übersetzung darauf verzichtet, den Reim des Originals wiederzugeben – zugunsten der Bilderwelt und ihrer genauen Semantik, die das Reimschema des Originals verstärkt.
Sommerfugledalen, das 1991 auf dänisch erschien und hier auf dänisch und deutsch wiedergegeben wird, ist von einer strengen, historisch geprägten Form bestimmt: dem klassischen Sonettenkranz mit vierzehn Sonetten und dem abschließenden Meistersonett. Der letzte Vers eines Sonetts bildet die erste Zeile des folgenden, das Meistersonett setzt sich aus den Anfangsversen aller vierzehn Sonette zusammen.
Die Form ist lesbar, die Bilder prägen sich ein; will man aber das Thema dieses Textes, seinen Inhalt nur annähernd wiedergeben, greift man ins Leere. Der Text ist so nicht lesbar, wie wir zu lesen gewohnt sind, identifizierend, strukturierend, auf etwas eigentlich Gemeintes zielend. Dieses Requiem führt zurück in ein „Kindheitsland“, entfaltet in einem Spiel von kindlichen Verwandlungen in verschiedene Schmetterlingsarten eine „Symmetrie der Trauer“, es versucht, „die Schmetterlinge Seelen und / Sommergesichte verschwundener Toter zu nennen“.
Thomas Sparr, Aus dem Nachwort
ist ein Meisterwerk europäischer Poesie. Es enthält einen klassischen Sonettenkranz mit vierzehn Sonetten und dem abschließenden Meistersonett. Christensens Requiem führt zurück in ein „Kindheitsland“, entfaltet in einem Spiel von kindlichen Verwandlungen in verschiedenen Schmetterlingsarten eine ‚Symmetrie der Trauer‘, „die von meinem Leben überholte Trauer“, es versucht, „die Schmetterlinge Seelen und / Sommergesichte verschwundener Toter zu nennen“. Hier wie in all ihren Texten läßt sich nicht auseinanderhalten, was uns die Wirklichkeit – aber welche Wirklichkeit? – auseinanderzuhalten gelehrt hat: Realität und Imagination, Faktum und Fiktion, Wachen und Traum, Chronik und Märchen.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1998
Das Sonett, dieser meistgespielte europäische Gedichtklassiker, bleibt in seiner Zumutung einer künstlichen Ordnung eine Provokation der Moderne. Ein Sonett besteht aus 14 Zeilen, basierend auf zumeist fünffüßigen Jamben, und ist nach einem strengen Reglement zu dichten, das hier nur kurz skizziert werden kann: Zwei vierzeilige Strophen (Quartette) mit ursprünglich nur zwei Reimen (Schema abba) bilden den „Aufgesang“, zwei dreizeilige Strophen (Terzette) mit variierenden Reimschemata den „Abgesang“.
Ein Sonettenkranz ist die Zumutung in Potenz. Es handelt sich dabei um einen Zyklus aus fünfzehn Sonetten, deren letztes, das sogenannte Meistersonett, im Kompositionsvorgang das erste ist, weil es die Anfangs- und Schlußzeilen der vierzehn übrigen und somit genaue Vorschriften über ihren Bau enthält: Sonett I beginnt mit der ersten Zeile von Sonett XV und endet mit dessen zweiter. Diese ist die erste Zeile von Sonett II, das wieder mit der dritten Zeile des Meistersonetts schließt usw., bis die Form ganz auskomponiert ist. Wegen der ungewöhnlich hohen formalen Anforderungen muß der Sonettenkranz in einer Zeit, die zur Formkunst ein bestenfalls ironisches, meist aber nur dilettantisches Verhältnis pflegt, als ungefähr so schwierig zu errichten gelten wie eine mittelalterliche Kathedrale.
Inger Christensens Sonettenkranz Sommerfugledalen. et requiem, 1991 in dänischer Sprache und 1995 mit der deutschen Übersetzung Hanns Grössels im Verlag Kleinheinrich in Münster erschienen, ist jedoch weit mehr als eine perfekte Befolgung traditioneller Vorschriften. Die schwere Statik der Verskunst (Christensens Quartette bevorzugen den Kreuzreim und folgen darin dem „englischen“ oder Shakespeare-Schema abab cdcd, während die Terzette nach dem Schema efe gfg die Regeln Petrarcas variieren) trifft darin auf das wohl Leichteste unter der Sonne, die „Schmetterlinge des Planeten“. Vielleicht liegt es an der faszinierenden Balance, die Christensens Gedichte halten, indem sie das Entschwebende mit dem Erdenschweren ins Einvernehmen setzen, daß dieser wunderbare Zyklus zu den raren sprachlichen Kunstwerken zählt, die wohl jeder Lyriker am liebsten selbst geschrieben hätte.
Die ganz sinngetreue und in dieser Hinsicht sicher nicht zu übertreffende Übersetzung Hanns Grössels verzichtete in konsequenter Bescheidung auf Reim, Versmaß und jene strenge lautliche Architektonik, die aus den Zeilen des einen Meistersonetts den Bauplan der vierzehn anderen zwingend herleitet: Sie ließ mithin den Raum für eine deutschsprachige Nachdichtung auf verführerische Weise vakant. Dennoch war ich mir keiner heimlichen Absichten bewußt, als ich Inger Christensen beim Freiburger Literaturgespräch im November 1997 auf diese Vakanz ansprach. Umso schockierender traf mich die saloppe Antwort der großen Dichterin: „Dann machen Sie’s doch.“ Meine Ausflüchte bezüglich mangelnder, schlichtweg nicht vorhandener Kenntnis des Dänischen schienen sie nicht weiter zu irritieren. Als Christensen nach wieder mal grandiosem Vortrag des Zyklus dann sogar öffentlich nach einem „frechen jungen Dichter“ rief, der sich an die fehlende Nachdichtung heranmachen solle, fühlte ich mich bereits unter Druck.
Meine Nachdichtung von Sonett XV im Dezember 1997 besagte noch nichts über ein mögliches Gelingen. Im Februar 1998 beschenkte mich ein Stipendienaufenthalt in Amsterdam mit einer Wohnung in Parklage und somit mit ein wenig Natur, was nach Benn eine nötige Voraussetzung für die Entstehung von Lyrik ist, für Schmetterlinge allemal. Jedenfalls war es auf einem meiner täglichen Gänge durch den winterlichen Vondelpark, als mir die Lösung für das schwierigste Problem in Sonett I zufiel: Für die beneidenswerte Möglichkeit des Dänischen, „Vernunft“ auf „Luft“ und auf „Duft“ zu reimen, mußte ein annehmbares Äquivalent gefunden werden. Danach lief alles wie von selbst. Die ungeheure Eigendynamik der Sonettenkranzmaschine und das Klima von Amsterdam taten ihre Wirkung. Draußen hörte ich holländisch und sprach englisch, drinnen las ich dänisch und schrieb deutsch, alles Sprachen, die um die Nordsee herum einen Kreis schlagen. Der Zyklus wurde in diesen Wochen fertig.
Eine Nachdichtung ist zuerst den Gesetzen der Form und der Sprachmusik verpflichtet. Ich habe versucht, den Klang des Dänischen im Deutschen zu imitieren, so gut es ging. Die relative Länge des Deutschen brachte es mit sich, daß ich gelegentlich zwölf- und dreizehnsilbige Verse bauen mußte, wo das Dänische mit zehn und elf Silben auskommt. An einer Stelle fehlt der Reim, dort, wo ihn auch Inger Christensen ausläßt, in Sonett VII (Zeilen 10 und 13). Ich hielt diese Aussparung für bedeutungsvoll, weil sie dem Unaussprechlichen des Liebesaktes geschuldet schien, den auch Hölderlin im Hyperion als Ellipse bestimmt:
Es ist hier eine Lücke in meinem Dasein.
Alle Einsicht in Sinn und Gehalt der Gedichte Inger Christensens, von denen ich mich nie ohne Not entfernte, verdanke ich den Übersetzungen Hanns Grössels, ohne die meine Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Mein Dank gilt auch dem Verlag Kleinheinrich, der diesen Abdruck genehmigte. Meine ganze Bewunderung gehört Inger Christensen. Entschuldigen muß ich mich beim Pappelvogel, dessen Erscheinen in Sonett I aus rhythmischen Gründen nicht wiedergegeben werden konnte.
Norbert Hummelt, Schreibheft, Heft 52, Mai 1999
– Die dänische Dichterin Inger Christensen. –
Das Paradies, so heißt es im zweiten Schöpfungsbericht des Alten Testaments, ist ein äußerst fruchtbarer Garten in Eden, ein irgendwo im Osten gelegener, mythischer Ort, an dem der Mensch und die Natur noch in organischer Verbundenheit lebten. Das Wort „Paradies“ ist aber eigentlich altpersischen Ursprungs, und es bezeichnet einen eingezäunten Garten, der von einer Sandwüste umgeben ist, wo das Leben keine Chance hat. Hin und wieder, so will es der altpersische Mythos, kam es vor, daß der Mensch in diesem Teil der Welt in die Wüste hinausging, um sich ins Gebet zu versenken. Gemeinsam ist aber dem biblischen Schöpfungsbericht und dem persischen Mythos das schockhafte Wissen um die Vertreibung des Menschen. Adam und Eva, die ersten Menschen, hatten von den verbotenen Früchten des Baumes der Erkenntnis gegessen und wurden aus dem Garten Eden, wo das Sein der Menschen noch ungestört in die Natur einging, in die unwirtliche Welt, in die Wüste vertrieben.
Sich an solchen biblischen Schöpfungsberichten faszinieren zu lassen, haben wir transzendental ausgenüchterten Zeitgenossen uns schon lange abgewöhnt. So bleiben die Erzählungen vom Ursprung, die mythischen Offenbarungen des Anfangs, die Berichte vom kosmischen Werden und die Ahnungen des planetarischen Endes weiterhin den Dichtern vorbehalten – sofern sie noch Dichter sein wollen. Zum Glück gibt es noch solch originäre Dichter, die auf die magische Wirkung ihrer poetischen Fügungen vertrauen; Dichter wie die dänische Lyrikerin Inger Christensen, deren poetisches Werk von den innersten Geheimnissen und tiefsten Rätseln der Schöpfung spricht.
Lange, sehr lange hat es gedauert, bis die einzigartige Dichtung der Inger Christensen den deutschsprachigen Raum erreicht hat. Bis vor wenigen Jahren war die mittlerweile 62jährige Autorin außerhalb Dänemarks nur einem kleinen Kreis von Skaninavisten bekannt; eine Folge vielleicht auch einer Befangenheit vor dem Dänischen, dem selbst ein Hans Magnus Enzensberger schon Unübersetzbarkeit attestiert hat. Um so höher ist die Übersetzungsleistung von Hanns Grössel zu bewerten, der schon seit dreißig Jahren das Œuvre Inger Christensen begleitet und für den Münsteraner Kleinheinrich Verlag ihre Hauptwerke in absolut verläßlichen Versionen übertragen hat.
Seit 1988 erschienen im Kleinheinrich Verlag sechs zentrale Werke Inger Christensens, vom Opus magnum alphabet bis hin zum jüngsten Buch der Autorin, dem Sonettenkranz Das Schmetterlingstal. Dank der vorbildlichen Editionspraxis des Kleinheinrich Verlags, und dank einiger kundiger Essays in der Literaturzeitschrift Schreibheft hat das Werk der Autorin den Weg aus den elitären Lyrik-Zirkeln heraus ins Freie einer zunehmend begeisterten Öffentlichkeit gefunden. Im Residenz Verlag hat der österreichische Dichter Peter Waterhouse eine sehr subjektive und fragmentarische, gleichwohl überzeugend montierte Auswahl aus den Gedichten, den Essays und der lyrischen Prosa Inger Christensens zusammengestellt, die in die ästhetischen Kernzonen dieses Werks hineinführt. In einem poetischen Essay, der in der Literaturzeitschrift manuskripte nachzulesen ist, hat Waterhouse seine Christensen-Lesart in einer sehr enthusiasmierten Charakteristik ihrer Poesie preisgegeben:
Sie spricht, … damit nicht Fortschritt komme, sondern Vereinigungen; die Wörter berühren einander, die Dinge berühren einander… Sie fabuliert, das heißt, erfindet, ermöglicht, erträumt; sie fabuliert, sie stellt nicht fest, sondern unterstützt die Schöpfung, sie erfrischt, sie hilft der Welt in ihrem Dasein.
Diese von Emphase überbordenden Sätze führen zurück zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung: Sie zeigen Inger Christensen als Paradiessucherin, als Erfinderin von Schöpfungsgeschichten. Tatsächlich hat sich die Autorin in ihren Vorlesungen und Essays immer wieder explizit auf den biblischen Ursprungsmythos rückbezogen. Die Erinnerung an das verlorene Paradies ist dabei für die Autorin keine zufällige Bildungsreminiszenz, sondern offenbart sich als Urszene ihrer poetischen Sehnsucht. Diese Sehnsucht nach dem ungeschiedenen Dasein, nach der Wiederherstellung der Einheit von Körper und Welt, Sprache und Natur ist die Antriebskraft ihres Schreibens, das sich in großen epischen Gedichten und mächtigen Sprachschöpfungen entfaltet hat.
„Worum ich kreise“, heißt es in dem poetischen Essay „Unsere Erzählungen von der Welt“, „sind Zusammenhänge und Unterschiede zwischen allen Geschöpfen auf der Erde“. Es ist dies ein im buchstäblichen Sinn romantischer Impuls: Wie der Romantiker Friedrich von Hardenberg alias Novalis, der für sie zur zentralen literarischen Bezugsfigur geworden ist, begibt sich Inger Christensen in ihren Gedichten auf die unabschließbare Suche nach dem goldenen Zeitalter, nach dem verlorenen paradiesischen Raum, der uns aus dem unwirtlichen Dasein erlöst.
Es ist einzig der Dichter, so sagt Inger Christensen in einer Vorlesung über „die ordnende Kraft des Zufalls“, der eine solche Suchbewegung ausführen kann; er versucht „zum paradiesischen Zustand der Sprache vorzudringen, wo Schriftsteller und Sprache verschmelzen, obwohl er am Ende immer wieder aus dem Paradies vertrieben wird, das er – so empfindet er es – ganz aus sich selbst geschaffen hat“.
Diese romantische Verschmelzungssehnsucht grundiert schon die Anfänge von Inger Christensens Poesie. 1935 in Vejle, einer Küstenstadt im Osten Jütlands, als Tochter eines Schneiders geboren, hat Inger Christensen Anfang der sechziger Jahre ihre ersten beiden Gedichtbände unter dem Titel Lys (Licht) und Graes (Gras) veröffentlicht. Schon in diesen frühen Gedichten spürt man den starken Wunsch nach einem inständigen Benennen der elementaren Phänomene der Natur. Die gleichförmigen Ebenen und horizontalen Weiten ihrer Heimat, deren Pflanzen- und Tierwelt, der Strand und das Meer, und nicht zuletzt die schneereichen Winter bestimmen die Topographie dieser frühen Gedichte. Aber der Weg zu den mit naturwissenschaftlicher Präzision konstruierten Großgedichten ist noch weit. In Århus absolvierte Inger Christensen zunächst ein Lehrerseminar, später studierte sie Medizin, nebenbei ein bißchen Chemie und Mathematik und arbeitete einige Jahre an einer Kunsthochschule. Mitte der sechziger Jahre kommt es dann zu jenem künstlerischen Erweckungserlebnis, dem wir die epochalen Großgedichte Es und Alphabet verdanken: Zu produktiven „Stolpersteinen“ werden für Inger Christensen die Thesen ihres schwedischen Lyrikerkollegen Lars Gustafsson über „das Problem des langen Gedichts“ und die Grammatik-Theorie des Linguisten Noam Chomsky.
Chomskys Idee von einer „angeborenen Sprachfähigkeit“ und seine Annahme universaler Regeln der Satzkonstruktion und unendlich generierbarer Sätze löste in Inger Christensen eine ästhetische Revolution aus:
Diese Sprachsicht Chomskys gab mir ein phantastisches Glücksgefühl. Eine unbeweisbare Gewißheit, daß die Sprache eine direkte Verlängerung der Natur ist. Daß ich dasselbe „Recht“ hatte, zu sprechen, wie der Baum, Blätter zu treiben. Wenn ich nur ganz still beginnen, mich in die ersten Sätze einschleichen könnte, mich dort wie in Wasser verstecken, fließend, davontreiben, bis die ersten kleinen Kräuselungen sich zeigten, fast Wörter, fast Sätze, immer mehr.
Ganz still beginnen, sich den organischen Zusammenhängen der Natur wie selbstverständlich anschmiegen, poetische Mimesis der Schöpfung betreiben: Das ist das poetische Organisationsprinzip der Großgedichte Es und alphabet, die in Dänemark als exemplarische Texte für moderne „Systemdichtung“ gelesen wurden. Es ist in der Christensen-Rezeption immer wieder auch darauf hingewiesen worden, daß diese Gedichte ganz strengen Kompositionsprinzipien folgen, die mathematischen Modellen entlehnt sind. Das Schöne und gänzlich Verblüffende dabei ist, daß diese wunderbar suggestiven Gedichte an keiner Stelle Gefahr laufen, als verkrampfte sprachexperimentelle Exerzitien mißverstanden zu werden.
Auch der Glaube an das symbiotische Verhältnis von Mathematik und Dichtung ist ja ursprünglich ein romantisches Motiv, das Inger Christensen bei Novalis entlehnt hat. „Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte“, schreibt Novalis in seinem „Monolog“ aus dem Jahr 1798,
daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. – Sie machen eine Welt für sich aus – sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge.
Als eine lyrische Litanei über „das seltsame Verhältnisspiel der Dinge“ kann auch das Großgedicht alphabet gelten, jene poetische Schöpfungsgeschichte der Welt, in der noch einmal die Natur und die Menschenwelt in all ihren wundersamen Einzelheiten aufgerufen werden – und in der auch die drohende Verwüstung dieser Welt evoziert wird. Der poetische Organismus dieses Textes scheint sich in geheimnisvoller ästhetischer Eigendynamik herzustellen, ohne daß es genauerer Kenntnisse darüber bedürfte, was denn zum Beispiel eine „Fibonacci-Folge“ ist.
Auf der Suche nach einer formalen Struktur, die ihr das Inventarisieren der Welt in einem poetischen alphabet ermöglicht, stieß Inger Christensen Mitte der siebziger Jahre auf jene „Fibonacci-Folge“, eine nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci benannte Zahlenreihe, bei der sich jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet. Im alphahet bestimmt diese Fibonacci-Folge Versmaß und Strophenlänge. Was ist nun das Wunderbare, das dieses alphabet zu einem epochalen Werk zeitgenössischer Dichtung und außerdem zu einem großen Hörerlebnis macht? Es ist der leise, zarte eigentümlich singende Tonfall der Autorin, der uns in zuerst knappen, dann immer weiter ausgreifenden Sequenzen die Natur und die Dinge der Menschenwelt heraufruft. Der erste, sich in einer Art Beschwörung wiederholende Vers im alphabet – „die Aprikosenbäume gibt es / die Aprikosenbäume gibt es“ – zieht immer mehr welthaltige Wörter aus dem Ungesagten ins Gedicht, das eine immer stärkere Sogwirkung entfaltet:
1
Die Aprikosenbäume gibt es, die Aprikosenbäume gibt es
2
Die Farne gibt es; und Brombeeren, Brombeeren
und Brom gibt es; und den Wasserstoff, den Wasserstoff
3
Die Zikaden gibt es; Wegwarte, Chrom
und Zitronenbäume gibt es; die Zikaden gibt es;
die Zikaden, Zeder, Zypresse, Cerebellum
4
Die Tauben gibt es; die Träumer, die Puppen
die Töter gibt es; die Tauben, die Tauben;
Dunst, Dioxin und die Tage; die Tage
gibt es; die Tage den Tod; und die Gedichte
gibt es; die Gedichte, die Tage, den Tod
So wächst allmählich das Gedicht, entfaltet sich nach Maßgabe des Alphabets und der Fibonacci-Folge in immer größeren Sequenzen; jeder Gedichtteil wiederholt das poetische Gewicht der beiden vorangegangenen Teile und gibt ihnen Dauer über sich hinaus. Die Fibonacci-Strukturierung bliebe rein abstrakt und willkürlich, wäre da nicht die Entdeckung, daß die Zahlen dieser Folge exakt bestimmten Wachstumsprozessen bei einigen Pflanzenarten entsprechen.
Fibonacci – Prozesse finden sich auch in Kristallbildungen, im Geäst der Bäume oder in Blumen. Sprache als direkte Verlängerung der Natur: diese Erfahrung teilt sich im alphabet der Inger Christensen unmittelbar mit. Die sprachmagische und pantheistische Weltsicht, die sich hier artikuliert, kehrt wieder in den Essays „Die Sieben des Würfels“ und „Unsere Erzählung von der Welt.“ Auch hier kreist der Diskurs um die autopoetische Selbsterzeugung von Welt und Dichtung, um die strukturgleichen Bewegungsgesetze von Natur und Kunst:
Ich muß mir vorstellen, daß die Erde die Macht besitzt. Ich muß mir vorstellen, daß sie ihre physische chemische Grundlage ins Gleichgewicht gebracht hat, ehe sie sich daran gemacht hat, das zu schaffen, was sie nach wie vor erschafft, nämlich Produkte, die das produzierende Prinzip reproduzieren, z.B. Kastanienbäume oder Menschen.
Ich muß mir vorstellen, daß die Menschheit auf eine gemeinsame Bildersprache zu tendiert, die diese Macht und ihre natürlichen Gleichgewichtszustände ausdrücken kann. Daß der einzelne Mensch, ungestört, ein Spiegel des irdischen Zustands ist und daß Menschen in Gemeinschaft ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde und ihrer Sonne sind.
Auch hier wird also das Loblied auf die Schöpfung gesungen, die Hymne auf das Biologische, das Lied auf „die Macht der Erde“. Gleichzeitig weiß die Dichterin um die massive Bedrohung aller biologischen Lebensgrundlagen, und daß „Menschen in Gemeinschaft“ nur idealiter „ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde“ darstellen, in der Praxis unserer Lebenswelten aber meist als gedankenlose Ressourcenvernichter und willige Gewalt-Vollstrecker auftreten.
So begegnen wir bei Inger Christensen auch unvermeidlich jener negativen Chiffre für unsere menschliche Existenz, die als Schlüsselwort unseres Zeitalters gelten kann: Wir lesen, z.B. in den Notaten des Essays „Reden, sehen, tun“, von der Angst, die alle Bereiche des Daseins durchdrungen hat. Inger Christensen beruft sich in ihrer Beschwörung der Angst auf den schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf; sie hätte auch den großen englischen Dichter Wystan Hugh Auden zitieren können, der vom 20. Jahrhundert als dem „Zeitalter der Angst“ gesprochen hat.
Natürlich ist eine Poetik der Angst auch nicht zu denken ohne den Rekurs auf den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, der mit seiner Schrift „Der Begriff Angst“ am Anfang der europäischen Existenzphilosophie steht.
Als poetische Leitvokabel ist die Angst im „Epilogos“ des Gedichts Es allgegenwärtig; es ist eine Angst, die alles in ihren Bannkreis zieht, die alle Gefühle und Lebensregungen lähmt und auch die menschlichen Beziehungen zu torpedieren droht. Es gibt nur ein Gegenmittel, mit dem man sich dem eisernen Klammergriff der Angst zumindest für einige Augenblicke entwinden kann: Es ist die Poesie, die aus den Zwangszusammenhängen der Angst herausführt, die „Antistoffe“ zur „Heilung“ bereitstellt.
Inger Christensen findet hier in lyrischem Predigtton zum Begriff der „Gnade“:
Worte könnten es sein
die der Welt
Gnade brächten
die Angst formulierten
so daß jeder einzelne
in seiner Angst
wüßte daß er zwar
allein in der Welt ist
zwar allein ist
mit seiner Angst
aber nie allein
mit seinem eignen Bewußtsein
von der Angst
von der Welt
Worte könnten es sein
der Stoff den wir ohnehin
miteinander teilen
der Stoff der das Gemüt
und die Sinne
erweitern kann
könnten Worte sein.
In Anknüpfung an solche markanten Motive von Schöpfungsinnigkeit und Daseinsangst, von Gnade und Heil hat Peter Waterhouse im Nachwort zu seiner Auswahl auf die religiösen Wurzeln dieser Poesie hingewiesen: „Das ist eine Religion, eine Re-membrierung.“ Religion wäre hier im Sinn des lateinischen Wortes „religio“ zu verstehen: eine Bindung des Menschen, des Denkens und der Sprache an etwas, das größer ist als der Mensch: eine Bindung an die Kräfte der Erde, in denen das Göttliche anwesend ist. Die „Re-membrierung“ wiederum, von der Waterhouse in einem poetischen Neologismus spricht, meint die Rückerinnerung oder „Wiedererinnerung“ dieser Poesie an die ursprüngliche Einheit und Integrität der Natur, an das Ungeschiedensein.
Es macht die große Kunst von Inger Christensens Poesie aus, daß sie immer wieder das einfache und starke Pathos des Staunens vor den Phänomenen der Natur aufzurufen vermag: Das also gibt es! Die Aprikosenbäume gibt es, und wir haben es noch nie richtig bemerkt! Und erst der Vers über die Aprikosenbäume öffnet uns den Blick, und es gelingt uns – im Idealfall –, die Dinge anzuschauen, als wäre es das erste Mal. Und das Staunen darüber, daß es die Aprikosenbäume gibt, wird zum Sprechen über ein Wunder.
Auch Inger Christensens jüngstes Werk, der streng-klassische Sonettenkranz Das Schmetterlingstal, ist eine von Staunen und auratischer Erfahrung beseelte Schöpfungsgeschichte. Die Regel des Sonettenkranzes will es, daß die ersten vierzehn Sonette die Schlußzeile des vorangehenden Sonetts als Anfangszeile aufnehmen – so daß eine Ringkomposition entsteht. Das 15. und letzte Sonett, das sogenannte „Meistersonett“, zieht die lyrische Summa des ganzen Zyklus – und resümiert im vorliegenden Fall das Werden und Vergehen kreatürlichen Lebens.
In einem südlichen Tal, dem Brajcinotal, erscheinen die einzelnen Schmetterlingsarten, und werden in elegischer Beschwörung als Verkörperungen von Leben und Tod angerufen. Das Gedicht selbst wird zum Abwehrzauber gegen den Tod. Im poetischen Schmetterlingstal kommen die Phänomene der Natur und die Sprache noch einmal zusammen – in einem Requiem, einem Abschied.
Die Tore zum Paradies scheinen wieder offen – und die Sehnsucht, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen, scheint sich zu erfüllen. Aber das poetisch heraufgerufene Paradies ähnelt am Ende nicht mehr dem Garten Eden, sondern dem Garten eines Friedhofs:
Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
wie Farbenstaub vom warmen Körper der Erde,
Zinnober, Ocker, Gold und Phosphorgelb,
ein Schwarm von chemischem Grundstoff hochgehoben.
Dieses Flügelflimmern – ist es nur eine Schar
von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung?
Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit,
zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?
Nein, es ist der Engel des Lichts, der sich selbst
als schwarzen Apollo mnemosyne malen kann,
als Feuervogel, Pappelvogel und Schwalbenschwanz.
Mit meiner umschleierten Vernunft sehe ich sie
wie leichte Federn im Pfühl des Hitzedunstes
in der mittagsheißen Luft des Brajcinotals.
(…)
Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
in der mittagsheißen Luft des Brajcinotals,
aus der unterirdisch bitteren Höhle herauf,
die das Berggebüsch mit seinem Duft verdeckt.
Als Bläuling, Admiral und Trauermantel,
als Pfauenauge flattern sie umher
und gaukeln dem Toren des Universums ein Leben
vor, das nicht wie nichts stirbt.
Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert
mit Anflügen von Seelenfrieden und süßen Lügen
und Sommergeschichten verschwundener Toter?
Mein Ohr antwortet mit seinem tauben Klingen:
Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen
vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.
Michael Braun, die horen, Heft 189, 1. Quartal 1998
Uljana Wolf sprach im Rahmen des poesiefestival berlin 2008 mit Inger Christensen.
Jan Wagner: Weltenformeln. Vor allem über Inger Christensen. Zweiter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur
Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).
Inger Christensen spricht 2008 mit Paal-Helge Haugen.
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