LIED DER UNBESIEGTEN
Schwarze Milch des Elends
Wir trinken dich
Auf dem Weg ins Schlachthaus
Milch der Finsternis
Man gibt uns Brot
Weh! Es ist aus Staub
Unser Schrei steigt rot
Aus dem Schlachthof auf
In unsrem Höllenwein
Aus der Reben Glut
Aus Schädeln und Bein
Gärt Luzifers Blut
Aus den Augen wächst Klee
Den Mord zu beweinen
Und der Ahnen Armee
Wacht unter den Steinen
Uhu der Dunkelheit
Wird den Racheruf schrein
Wölfe werden die Söhne sein
Reißende Grausamkeit
Schwarze Milch des Elends
Wir trinken dich
Auf dem Gang ins Schlachthaus
Milch der Finsternis
(1942)
Deutsche Fassung von Iwan Goll
ein Gegner des Krieges, ein Mitstreiter verschiedener Kunst-Avantgarden, ein Jude aus dem Elsaß, der deutsch und französisch schrieb, voll Sehnsucht nach menschlicher Gemeinschaft und verzweifelt in der Einsamkeit. Er hielt fest an frühen Grundbildern von einem menschengemäßen Dasein, sah sie in der Realität zurückgewiesen, aber nicht widerlegt: das provozierte die schroffen Wendungen und Wandlungen in seiner Dichtungsart, nicht aber in seiner Suche nach Verteidigung des Humanen.
Silvia Schlenstedt, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1982
In den aufrüttelnden Schrei der expressionistischen Dichter stimmte der junge Iwan Goll ein. Er teilte ihre Sehnsucht nach menschheitserlösender Gemeinschaft, aber auch ihre Erfahrung der Zerrissenheit. Seinen rhythmisch geballten Versen verlieh er visionäre Kraft, bannte die Fülle des Geschauten in transparenten Metaphern und sinnfälligen Motiven. Er rang zeitlebens um eine humanistische Botschaft seiner Dichtung. War sie zunächst als Requiem für die Gefallenen Europas und als Widerhall der pulsierenden Großstädte aufgestiegen, ließ er sie nun aus dem Landohneleid herüberklingen und, trotz bitterer Erfahrungen während des zweiten Weltkrieges, als Echo von Seherstimmen aus den Höhle der Brust tönen.
Ankündigung in Hanns Cibulka: Poesiealbum 181, Verlag Neues Leben, 1982
Da ist immer etwas
für die Abendunterhaltung:
wenn du vor deiner Jagd
durch die nächtlichen Straßen
Claire die Füße warmriebst –
Sie hatte ein scharfes Gedächtnis,
bewahrte Namen und Einzelheiten
sorgfältig wie seltene Andenken auf.
Eine Unmöglichkeit,
sich mit ihr
durch die Zeiten zu lächeln,
wenn sie zu Rilke fuhr,
in seiner Sprache ertrank
und dich dennoch
mit großer Zähigkeit
durch ihre Briefe festhielt.
Da ist immer etwas
für die Abendunterhaltung –
niemand braucht zwischen den Zeilen
das Geheimnis
wie die Stecknadel im Heuhaufen
zu suchen.
Sie hat die Nadel,
für jedermann sichtbar
zum Wurfspeer verwandelt,
herausgeschleudert aus Paris,
daß er landete als Ausrufezeichen
in den Klatschspalten der großen Zeitungen.
Als die selbstmörderische Zeit
ihrer Arsenikphantasien kam,
ihr Abschiedsbrief eintraf,
der das Unvermögen der Trennung
hinter den Schreien ahnen ließ,
denn „es weinte die alte Liebe
sich die Seele aus“,
kehrtest du zurück in das Chaos,
hoffend, du könntest mit ihr zusammen
noch einmal friedlich
„auf einem Platz von Waffen“ leben.
Charlotte Grasnick
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