TRÄUME
Kennst du die Wechselstuben in den Wolken?
Dort werden Träume getauscht.
Müde,
verschlissene,
gegen die Farbe des neugeborenen Lichts.
Heute nahm ich dein Lächeln mit.
Ich tausche nicht mehr.
Es gibt Gedichte, die auch noch in Situationen, in denen andere gleichsam in sich zerfielen, ihre Kraft bewahren, Gedichte, die sich nicht aufgeben, weil sie eine Stärke in sich tragen, die sie nicht nur aufrecht erhält, sondern sie weitertragen, Gedichte, die auf die Suche gehen, auf die Menschen- und Bildsuche. Sie resignieren nicht, auch wenn sie von Tod und Betrübnis sprechen. Aber sie brauchen eins: ein Gegenüber, einen Menschen, eine Landschaft, eine Liebe, eine bestimmte Erregungshöhe, um dann umso leidenschaftlicher zu antworten. Ich spreche von den neuen Gedichten Olly Komenda-Soentgeraths, deren Gedichte „Das schläft mir nachts unter den Lidern“ von der beschriebenen Eigenart und Qualität sind.
Sie haben diese sensitive Stärke, die sich selber und den anderen Mut macht. Sie haben – möchte ich sagen – eine bestimmte Art von Glück als unsichtbare Konterbande bei sich. Sie kommen durch diese empfindliche und ständige Partnerschaft mit dem angeborenen Glück nicht nur zurecht, sondern ziehen den anderen, den Partner, die Landschaft, den Leser mit in solch ein Glück hinein, machen ihn zum Komplizen einer leidenschaftlich fühlenden Natur, eines Naturells, das zuweilen heftig ist, das „direkt“ anspricht, sich mitteilt. Die impulsiven Gedichte von Olly Komenda-Soentgerath benötigen aus diesem Grunde wohl auch nicht die Umwege, die manche Verse zurücklegen müssen. Sie sind in ihrer unmittelbaren Emotion und Mitteilungskraft nicht in Gefahr, in die Falle von Verstrickungen verschiedener Art zu gehen, artifizieller, thematischer Verstrickungen.
Es ist nicht zufällig, wenn im neuen Band wieder das Liebesgedicht, so impulsiv, so glückhaft wie denkbar, zu Wort kommt. Es ist schon so: hier hat jemand Glück mit den Worten, die sich nicht entziehen, nicht verweigern. Gleich anfangs nennt sich ein Text „Glück“, und es heißt in ihm: „Hinter dem Glück / kein Atemzug mehr.“ Die beiden Zeilen haben nahezu leitmotivische Bedeutung, wenn auch in späteren Partien des Bandes andere Elemente einzudringen versuchen und dieses Element „Glück“ verdrängen möchten. Noch Tod und Sterblichkeit, jede Widerfahrung also, wird schließlich „angenommen“ und damit einbezogen in einen schwer beschreibbaren, euphorischen Schreibzustand, von dem es im selben Gedicht heißt:
Ginge mir nur
ein Hauch verloren,
ich könnte mich
an den geschrumpften Innenraum
nicht mehr gewöhnen.
Genau dies ist es: das Einatmen von Glück erzeugt diesen sensitiven Zustand, der derartige Kraft weitergibt, die sich im Grunde durch nichts und niemanden abweisen läßt. Es ist jenes direkte:
Frisch vom Baum
will ich den Apfel haben,
ungeschält,
mit Kern.
Das hat etwas Unwiderstehliches, etwas Gewisses, seines Gefühls Gewisses. Für das Filigran gebrochener Gefühle ist gewiß bei anderer Gelegenheit, in anderen Gedichten Platz. Doch dieses Glücks- und Gewißheits-„Aroma“ von Leidenschaft, von intensivem Sprechen verflüchtigt sich nicht, auch wenn es in einem knappen Gedicht heißt:
Du bist für mich Luft.
Erst wenn du fort bist,
weiß ich von dir
in Todesangst.
Intensität auch dann noch: bei der Überwältigung von Beklemmung, ja, von Todesangst, die ausgestanden (und durchgestanden) wird. Zuweilen freilich kommt etwas dem Ausruhen (zwischen Emotion und Emotion) Ähnliches auf. Doch noch in der Ruhe ist die Unruhe des Gefühls erkennbar und wird eingestanden. Das Gedicht schließt mit derartiger Unruhe, wenn es diesmal auch die Unruhe der Ungewißheit ist, die sich meldet. Ich meine das Gedicht
Bevor es anfing
Es war die Ruhe,
die sich an die Ruhe lehnte,
es war die Stille,
die der Stille lauschte,
es war die Nacht,
die sich mit Nacht bedeckte.
Und nichts hielt Ausschau,
ob es etwas gäbe
außer ihm.
Diese angespannte Ruhe ist ohne Erschlaffung, vielmehr mit allen Sinnen der Aufmerksamkeit beteiligt. Es könnte vermutlich sonst die Ruhe gar nicht aushalten. Was sich wieder und wieder durchsetzt, ist doch: „Komm, spül mir die Angst / aus den Augen, / ich zahle mit Freude.“ Die letzte Zeile ist – nach dem Glück – ein weiteres Wort von leitmotivischer Bedeutung in diesen Gedichten. Und man spürt: die Freude ist so wenig umzubringen wie solches Glück. Daß sie ihre Anfechtungen, Beklemmungen, Ängste hat, ist etwas anderes und ist jedenfalls keine Widerlegung, auch wenn es da und dort „um einige Schatten dunkler“ zugeht, wie es in einem der Gedichte später heißt. Die Schatten streifen nur das, was hier inkarniert bleibt: impulsives Am-Leben-Sein und die direkte, das heißt dichterische, bildhaft-unmittelbare „Übermittlung“ dieser Impulsivität, die sich – so scheint es – aus den eigenen Kraftquellen des Gefühls speist, noch dort, wo Gefühligkeit, Sensiblerie „aufgeben“ und verkommen müßte.
Trennung, Schmerz: dies alles ist da. Es gehört zum Gegenüber, zur geheimen, unablässigen, fast ununterbrechbaren „Partnerschaft“, die die Gedichte Olly Komenda-Soentgeraths brauchen, die sie anfordern, wenn es sein muß. Man hat nicht nur von den starken Gefühlen, sondern auch von einer „versteckten Tapferkeit“ und einem „Sich-Gedulden“ gesprochen (Heinz Piontek). Sogar Entsagen ist diesen Gedichten gewiß nicht fremd. Aber wie dies aufgenommen wird, wie hier Bewältigung überwiegt, wie Lebenshoffnung, unvermutet oder ihrer gewiß, sich durchsetzt, ist das Entscheidende bei diesen zweifellos „entschiedenen“ Gedichten des Daseins-Verlangens, des Glücks- und Freude-Verlangens. Selbst wenn Mutlosigkeit aufzukommen scheint, meine ich, bleibt es beim Anschein und hat nicht die Wirkung von Entmutigung. „Ein randvolles Leben“ – mit dieser knappen Zeile wird ein Gedicht („Der Pfeil im Schwarzen“) zusammengefaßt. Es ist wie ein Fazitziehen. Und bei Olly Komenda-Soentgerath ist die Zusammenfassung mehr als eine schöne Metapher, ein treffendes Bild. Es ist das pulsende Leben, das weiter nach Leben verlangt.
Karl Krolow, Nachwort
enthält kleine poetische Reflexionen, die sich bisweilen an Naturbildern erfrischen, imaginativ aufladen: „Kennst du die Wechselstuben in den Wolken? / Dort werden Träume getauscht…“ An solche in der Schwebe belassenen Bilder knüpft die Autorin Überlegungen, die mehr von seismographischen Ausschlägen als existentiellen Deutungen haben:
… Einen Sommer
durchzusingen
als Zikade,
in das Licht verliebt,
schön und unnütz,
und in der ersten Herbstnacht
zu erfrieren
mit dem Lied
zwischen den Flügeln.
In diesen Texten meldet sich etwas Zartes, Stimmungshaftes zu Wort. Olly Komenda-Soentgerath, die 1982 einen von ihr übersetzten Band mit Versen des letzten Literatur-Preisträgers Jaroslav Seifert ediert hat (ebenfalls im Horst Heiderhoff Verlag, der eine stattliche Reihe internationaler und deutscher Lyriker in exquisiten Bänden vorlegte), wurde 1923 in Prag geboren. Die Lyrikerin, die das Leben „Auf dem Trittbrett des Windes“ zu durchreisen versucht, ist zugleich unzeitgemäß und heutig. Ihr neuer Gedichtband, dem Karl Krolow ein Nachwort beigegeben hat, ist schon ihr vierter. Ein kleines Buch, das die Worte Glück und Liebe buchstabiert, ebenso wie die Worte Angst und Tod.
Hans-Jürgen Heise, Die Zeit, 26.4.1985
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