Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten

Opalka-Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten

UNTERHALTUNG MIT EINER MASCHINE

Ich habe mich mit einer maschine unterhalten

So wunderbar zu lesen wenn sich die maschine vorstellt
von ihrem alter
spricht
von ihrer schulung
den herzinfarkten
und dem leberschwund

Sie hat gewisse schwierigkeiten mit dem überschuß an zeit
ist schnellebiger als ich
antwortet mir auf einem
weißen zettel
zwinkert verständnisvoll:
stellen sie bitte
fragen

Kaum habe ich den letzten ton der frage
gebildet hämmert sie
mir die
komplette antwort
dann wartet sie
ich habe nachzudenken
sie stört mich nicht dabei
sie summt
ein lied
macht einen leichten witz
und wartet wartet
unablässig

Also was machen wir jetzt mit der zeit das
muß doch veränderungen zeugen auch
der raum wird weiter sein

Oder
man kann ersticken
ist der fall konträr
kommt ihre antwort

Wir tauschen diese oder jene ansicht aus
über technologisches
über den tod
mit dem ich sie bedrohe

Das kennt sie schon
und gibt mir nicht
die hand

Marian Grześczak
Übersetzung Heinz Kahlau

 

 

 

Nachwort

1

Das zwanzigste Jahrhundert hatte Mühe, zur Welt zu kommen. Noch vierzehn Jahre nach seiner Taufe blieb es ein Embryo im Leib seines Vorgängers…, ohne eigenes Antlitz, ausgestattet lediglich mit der Nummer: zwanzig. Mit dem Krieg erst betrat der Mensch Wege, auf denen ihm der Geist des Jahrhunderts begegnete, dem er fortan folgte.

Mit dieser Feststellung leitete der Theoretiker und Dichter der polnischen Avantgarde Tadeusz Peiper 1922 seine Analyse der Gegenwart ein.
Die Überzeugung, der erste Weltkrieg habe das neunzehnte Jahrhundert erst endgültig verabschiedet, war in Europa verbreitet. In Polen wurde sie vor allem durch drei Ereignisse bestärkt, die den historischen Einschnitt der Jahre 1917 und 1918 ausmachen: die Beendigung des Krieges, die Wiederrichtung eines polnischen Staates und der Einfluß der russischen Oktoberrevolution. Zweifellos gehorcht die Literaturentwicklung dem historischen Kalender nicht bedingungslos, aber die geschichtlichen Wandlungen, die sich um das Jahr 1918 vollzogen, haben sich der polnischen Lyrik nachhaltig eingeprägt.
Mit der Wiedergewinnung der nationalen Unabhängigkeit sah sich die Literatur in einer gründlich veränderten Situation. Lange einhundertdreiundzwanzig Jahre der Teilung und Unfreiheit hindurch waren ihre vielfältigen Wirkungen vornehmlich an einer Aufgabe gemessen worden, nämlich wie eine freie Zukunft der Nation zu erringen sei. Dieser nationale Auftrag sicherte der polnischen Literatur eine wichtige Stellung im öffentlichen Leben des Landes; er erlegte ihr eine strenge Pflicht auf, doch ließ sie sich von ihm auch zu den freizügigsten Träumen entzünden. Künstlerisch am vollkommensten wurde die Aufgabe von der Romantik bewältigt. In ihren Versen führten „König Geist“ und der Geist als „ewiger Revolutionär“ das Zepter. Der ungebeugte Nationalstolz, die patriotische Hoffnung bezogen aus dieser Poesie Bilder eines freien Vaterlandes des Glücks und der Gerechtigkeit für jeden Bürger. Die polnische Gesellschaft, die über keine eigenen staatlichen Einrichtungen verfügte, erwartete und akzeptierte im Poeten ihren nationalen Repräsentanten. So sah sich der romantische Dichter zu einem prophetischen Amt, zur „Seelenregentschaft“ berufen. Dieses Selbstverständnis ließ ihn Wort und praktische Tat als fraglose Einheit betrachten.
Mit der Ausrufung der Polnischen Republik am 11. November 1918 war die Literatur ihres nationalen Auftrags enthoben. Von Begeisterung erfüllt, erblickten die Vertreter verschiedener Generationen und literarischer Richtungen – unbeschadet ihrer Differenzen – im eigenen Nationalstaat eine geschichtliche Wende, die Eröffnung einer neuen Zukunft. Das Feiern der Unabhängigkeit dauerte aber nicht an. Kaum war der Druck fremder Macht beseitigt, wurde auch der Boden schal, der bisher einen nationalen Zusammenhalt um jeden Preis genährt hatte. Es stand jetzt kein entlastendes Argument mehr zur Verfügung, die dringlich gewordene Analyse der tatsächlichen Zustände im eigenen bürgerlichen Staat zu vertagen. Die soziale Zerklüftung der Gesellschaft, zivilisatorische Rückständigkeit und selbstgefälliger Traditionalismus rückten deutlicher denn je in den Blickpunkt. Die allgemeine Überzeugung, die neue Zeit bedürfe auch einer neuen Poesie, setzte in großer Breite eine Suche nach Neuerungen in Gang. Ähnlich jener Gärung, die in Deutschland um 1910 unter anderem den Expressionismus hervorbrachte, schossen auch in Polen Dichtergruppen aus dem Boden, schnellte die Zahl der Programme und Eintagsdrucke in die Höhe. Diese Lyrik strebte nicht nach dem Übergeschichtlichen, Ewigen. Dem Absoluten vermochte sie kaum Geschmack abzugewinnen, der „O Mensch“-Gestus fand weder Anklang, noch erreichte er jene schwindelerregende Allgemeinheit wie in einem Teil des deutschen Expressionismus. Die lange Zeit hindurch und unter Zwang geübte Praxis der polnischen Literatur, den tatsächlichen Zustand der Nation nicht aus den Augen zu lassen, hatte einen praktischen Geschichtssinn ausgebildet, der noch jetzt den unterschiedlichsten Initiativen als gemeinsamer Nenner diente. Er äußerte sich in der kritischen Einstellung nahezu aller Richtungen, die nach 1918 wirkten, zu ihrem unmittelbaren Vorgänger, zur Lyrik der gelegentlich auch als Neoromantik bezeichneten Młoda Polska (junges Polen), die zwischen 1890 und 1914 das Feld beherrschte.
Die Generation des Jungen Polen, in der Lyrik repräsentiert durch Namen wie Jan Kasprowicz, Kazimierz Przerwa-Tetmajer, Tadeusz Miciński, Wacław Rolicz-Lieder, war als letzte von den Forderungen des nationalen Befreiungskampfes geprägt worden und erfuhr in der Revolution von 1905 als erste die Schärfe der sozialen Auseinandersetzungen im zwanzigsten Jahrhundert. Sie befand sich in einer paradoxen Konfliktsituation; zum einen hatte sie mit der sich anbahnenden sozialen Bindungslosigkeit des Künstlers im Kapitalismus fertig zu werden, zum anderen strebte sie danach, die im europäischen Maßstab bereits historisch überfällige national-utilitaristische Bindung abzustreifen, wenngleich sie für Polen immer noch notwendig war. Diese äußerst heterogene Periode trug Merkmale der modernen Kunstkrise, brachte aber auch Entwürfe hervor, die in vielerlei Hinsicht die Problematik des zwanzigsten Jahrhunderts einleiteten.
Erst nach 1918 konnte sich die polnische Lyrik, nunmehr ohne national-utilitaristische Verpflichtungen, frei entfalten, ähnlich wie es die westeuropäische Lyrik bereits seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts tat.
Im Jungen Polen, in seiner Vorstellung von einem Zwiespalt, der zwischen Künstler und Wirklichkeit, Vernunft und Phantasie, Individuum und Gemeinschaft bestehe, wurzelt das Werk der beiden Dichter des Übergangs, Leopold Staff und Bolesław Leśmian, und reicht weit in die neue Phase hinein. Staff gelang es, sich der pessimistischen Zeitstimmung des Fin de siècle zu entziehen, dabei wandte er sich aber zugleich. von dem Dramatischen seiner Zeit ab. Ihm fügte sich alles zur klassischen Harmonie. Bestrebt, den Alltag mit der Kunst zu versöhnen, setzte er alltägliche Dinge in kostbare Wortrahmen, poetisierte ihre Einfachheit, indem er ihnen das Gewöhnliche nahm. Leśmians magische Naturdichtung, das symbolische Ausdeuten von Elementen des Volksmärchens, seine tiefenpsychologisch beeinflußten, kühnen Liebesgedichte und seine wortschöpferischen Anstrengungen umreißen seine bedeutende Leistung und zeigen seine literarische Herkunft.
Die Nachfolger verhielten sich entschiedener zur Dichtung des Jungen Polen. Seit 1920 scharte sich um die Zeitschrift Skamander, so benannt nach einem Fluß im klassischen Griechenland, die erklärtermaßen programmlose Gruppe von Talenten (Julian Tuwim, Kazimierz Wierzyński, Jan Lechoń, Antoni Słonimski, Jarosław Iwaszkiewicz), die vor allem das salbungsvolle Gebaren ihrer Vorgänger kritisierte. Sie holte den jungpolnischen Dichter vom Parnaß herab und verbürgerlichte konsequent das lyrische Subjekt. Hatte man um die Jahrhundertwende das Dorf und den Bauern als Hort der Bodenständigkeit und der nationalen Kraft mythisiert, so zog nach dem Krieg die Stadt als poetischer und bald auch als mythisierter Gegenstand in die Lyrik ein. Dem Stadtleben, den Kleinbürgern, dem Mann von der Straße widmete sich vorzugsweise der Lyrik der Skamandriten.
Etwas anderes kritisierten die Opponenten der Skamandriten am Jungen Polen: Die Krakauer Avantgarde, wie sich die Lyriker Tadeusz Peiper, Julian Przyboś, Jan Brzękowski, seit 1922 um die Zeitschrift Zwrotnica (Die Weiche) gruppiert, selber nannten und auch bald genannt wurden, stieß sich insbesondere an der passiven Innerlichkeit des jungpolnischen Subjekts, am redseligen Zur-Schau-Stellen seiner Seelenzustände und seinem Hang zur Metaphysik.
Mit dem Augenblick, da die staatliche Unabhängigkeit die Literatur aus ihrer nationalen Anwaltschaft entließ, erhob sich die Frage, welche neue gesellschaftliche Motivation für die Lyrik fortan gelten sollte. Keine Einhelligkeit gab es darüber, welche Art Lyrik, mit welchen Formen und Traditionen, der neuen Lage der Nation am besten Rechnung trage. Die Skamandriten lehnten ausdrücklich die romantischen Symbole nationalen Freiheitsstrebens ab und fühlten sich damit von jedem genauer bestimmten Auftrag entbunden, Ihr Glaubensbekenntnis lautete:

Wir lieben den heutigen Tag mit der ersten, unerschütterlichen Liebe.

In dieser Liebe waren alle Gegensätze vereint: Resedaduft im Mondlicht und wilder Lärm der Großstadt, Sinnlichkeit und Geist, Liebe und Tod. Ihre Gedichte fügten Höhen und Tiefen des Alltags so zueinander, daß sich sowohl Metropole als auch tiefste Provinz darin sentimental verklärten. Es war ein Spiel aus Abenteuerlust und biologischer Daseinsfreude:

Hoch, was verrückt ist, Porno und Zoten!
Leben muß man! Wozu braucht man Kunst?

(Kazimierz Wierzyński, „Verrücktes Manifest“)

Bei aller erklärten Abkehr von bestimmten Vorstellungen der Romantik hielten die Skamandriten doch an der romantischen Poetik fest, allerdings in neuromantischer Vermittlung; regulärer syllabotonischer, gereimter Vers, Lockerung des kompositorischen Zusammenhangs von emotionaler Selbstaussage und Abbild. Ihre Lyrik bleibt auch im Grunde von der Hoffnung erfüllt, hinter den Dingen ein jenseitiges Antlitz der Welt zu entdecken.
Zum weiteren Kreis der Skamandriten, der populärsten Dichtergruppe jener Zeit, gehörten noch Maria Pawlikowska-Jasnorzewska, Kazimiera Iłłakowiczówna und Jerzy Liebert. Sie alle pflegten das philosophisch gefärbte Naturgedicht. Während in Lieberts schwermütigen Landschaftsbildern die ihn bedrängende Frage nach Sinn und Dauer des Daseins angesichts des Todes aufklingt, verknüpft Kazimiera Iłłakowiczówna die Naturbetrachtung mit sozialen oder patriotischen Motiven. Eine gewichtige Stellung kommt Maria Pawlikowska-Jasnorzewska zu, der gelegentlich als „polnische Sappho“ bezeichneten, herausragenden Dichterin im zwanzigsten Jahrhundert. Mit epigrammatischer Kürze, Genauigkeit und Eleganz gestaltete sie vor allem in der Liebeslyrik die vielschichtige weibliche Empfindungswelt. Für tändelndes Spiel, aber auch für Tragisches und für ihre herzliche Verbundenheit mit dem Vaterland fand sie in ihren Gedichten bezwingenden Ausdruck.
Bei den Futuristen (Tytus Czyżewski, Bruno Jasieński, Anatol Stern u.a.) ist ein Einfluß des russischen und italienischen Futurismus nicht zu übersehen. Sie trugen ihre anarchische Auflehnung gegen alle weltlichen und geistigen Autoritäten mit dem spektakulären Gebaren und auch mit dem sprachlichen Stil der Boheme vor: halb Zirkus, halb Revolution. Aller Destruktion alter Kunst- und Denkgewohnheiten freudig zugetan, machten sie auch vor der mit neuen Losungen verbrämten alten bürgerlichen Ordnung nicht halt. Die konsequentesten unter ihnen, wie Jasieński, fanden von der antibürgerlichen Revolte zur Bejahung der sozialen Revolution. Sein lyrisches Poem, das „Jakub-Szela-Lied“, gehört zu den größten Leistungen dieses Genres in der polnischen Lyrik zwischen den beiden Weltkriegen.
Jeder Spielart einer Poesie des spontanen Einfalls hielt die avantgardistische Gruppe um die Zeitschrift Die Weiche ihr ebenfalls traditionskritisches, gegenwartsbezogenes, aber konstruktives Programm entgegen. Aus den Grundzügen des modernen Zeitalters entwickelte sie eine kreative Poetik. Diese begnügte sich nicht damit, die sichtbare Beschleunigung gesellschaftlicher und technischer Vorgänge thematisch abzubilden, sondern machte die Merkmale der modernen Zivilisation – Funktionalität, Ökonomie, Organisiertheit und Produktivität – zu ihren eigenen Grundlagen. Die vielschichtigen Bindungen des Individuums in der arbeitsteiligen Gesellschaft dienen als Modell für den spannungsreichen Zusammenhang der einzelnen Elemente im Gedicht. Der erfinderische Mensch, Konstrukteur seiner Welt, steht im Mittelpunkt dieser Lyrik, deren rationalistisch-materialistische Weltanschauung mit sozialistischen Vorstellungen korrespondierte:

Kohle wird Gold durch unsere Hand,
Gold, das uns zaubert ein Märchenland.

(Tadeusz Peiper, „Oberschlesien“)

Als ergiebigstes Mittel einer funktionalen; gegen ein plattes Mimesis-Verständnis gerichteten Lyrik bauten die Avantgardisten in Theorie und Praxis die Metapher aus. „Die Metapher ist die willkürliche Vermählung von Begriffen, sie bringt begriffliche Zusammenhänge hervor, die in der wirklichen Welt keine Entsprechung haben“, formulierte zugespitzt Peiper. Die hierauf gegründete Poesie sei folgerichtig die Sprache ewiger Erneuerung, und die Arbeit an ihr sei gesellschaftliche Arbeit. Przyboś, Peiper und Brzękowski durchbrachen in ihren Gedichten zum ersten Mal bewußt die Allmacht des Reims und des rhythmischen Gleichmaßes in der polnischen Verstradition. Die heftigen, oft pauschalen Attacken der Krakauer Avantgarde und der Futuristen auf Romantik und Neoromantik erwecken den Eindruck, hier sei die Tradition verworfen worden. Das Beispiel der Skamandriten indes zeigt, daß nicht der die Tradition am gültigsten fortsetzt, der sie am auffälligsten nachahmt. Eine zeitgemäße Umformung konnte nicht kritiklos erfolgen. Dennoch – aus den besten Quellen der polnischen Romantik und ihres nationalen Engagements leitete sich der avantgardistische Anspruch her, Poesie und zeitgenössische Wirklichkeit in Einklang zu bringen, ja Anweisung für eine neue Lebensordnung zu sein.

2
Um die Mitte der zwanziger Jahre flaute die nationale Begeisterung merklich ab, anfängliches Aufbaupathos machte der Ernüchterung Platz. Die hochgespannten Erwartungen gerieren in Konflikt mit der instabilen, spießig-beengenden Wirklichkeit des eigenen Staates, dessen bürgerlicher Charakter sich im rigorosen Vorgehen gegen Streiks und revolutionäre Erhebungen der Arbeiter offenbarte. 1925, ein Jahr vor dem Staatsstreich Piłsudskis, der den Parlamentarismus durch ein autokratisches Regime ersetzte, erschien das erste Manifest proletarisch-revolutionärer Lyrik in Polen, der Band Drei Salven. Seine Autoren – Władysław Broniewski, Witold Wandurski und Stanisław Ryszard Stande – setzten zum Teil mit anderen Mitteln fort, was mit der revolutionär-utopischen Rhetorik der Futuristen und den Debatten in linken Kulturblättern begonnen hatte: die Einführung des Proletariats in die Lyrik.
Die proletarische oder revolutionäre Poesie wurde bald mit einem Namen gleichgesetzt, der ihrem Anliegen zu größter Popularität verhalf: Władysław Broniewski. Im Streit zwischen den traditionsbewahrenden Skamandriten und den Avantgardisten um die Zeitschrift Die Weiche oder den Futuristen stand er der ersten Gruppe am nächsten. Broniewski versuchte, die romantische Auffassung von Dichtung als der Einheit von Wort und Tat in seine Lyrik – unter Umgehung neuer gesellschaftlicher, sprachlicher und literarischer Differenzierungen – gewissermaßen herüberzuretten. Dies konnte nicht ohne Schwierigkeiten geschehen. Zwar führte Broniewski einen unaufhörlichen weltanschaulichen Disput mit dem Erbe, aber die Faszination überlieferten Mustern gegenüber ließ ihn wenig kritisch sein. So wucherte in seinen Gedichten die Vision oft zum Nachteil der lyrischen Analyse, und was ihnen beim Publikum großen Anklang sicherte, bedeutete zugleich epigonale Gefährdung ihrer künstlerischen Eigenart. Broniewski blieben diese Schwierigkeiten nicht verborgen. Das Ringen um einen fruchtbaren Ausgleich zwischen der Haltung eines romantischen Barden und dem Selbstverständnis eines „Arbeiters des Wortes“ macht die Dynamik seines Werkes aus.
Die Lyrik der frühen zwanziger Jahre hatte weitgehend einen optimistischen Tonfall bevorzugt, der sich vielfältig darbot: als Pathos des nationalen Aufbaus, als urbane Begeisterung und Glaube an ein Reich des schöpferischen Menschen, als Zuversicht in die nahe und siegreiche Revolution, ungebundene Lebensfreude oder als Spaß an der frechen Demontage nationaler und bourgeoiser Heiligtümer. Die politischen Ränke im Lande, die in Piłsudskis Militärputsch von 1926 gipfelten, und die sich ankündigende Weltwirtschaftskrise zwangen nun andere Töne herbei. Tiefgreifende Wandlungen vollzogen sich in allen Dichtergruppierungen.
Wie weggeblasen ist die übermütige Champagnerstimmung von einst, als Wierzyński 1927 das „Lied vom Verderben“ anstimmt. Die im Gedicht wahrgenommenen sozialen Spannungen treiben einem schrecklichen Ausbruch zu. Wierzyński kann dem nicht beikommen, so bleibt ihm nur die Klage:

Doch ändert sich nichts, denn die Herzen sind leer.

Die poetisch-politische Rhetorik anderer Skamandriten, Tuwims und Słonimskis, bringt am Übergang zu den dreißiger Jahren ihre demokratische Überzeugung entschiedener zur Geltung. Der Citoyen meldet sich zu Wort und nimmt die Ideale der Französischen Revolution gegen ihren Verschleiß in der bourgeoisen Gegenwart in Schutz. Seine Enttäuschung und Wut trägt Tuwim satirisch vor: Die Anspruch auf die politische Führung des Landes erheben, erscheinen als „in schrecklichen Häusern erschreckend hausende schreckliche Spießer“, als erbärmliche, geistig verödete Figuren, einzig auf „das hochwürdig, heilig erworbne Besitztum“ bedacht („Bewohner“). Die Gefahr, die Europas Geist und Humanität im deutschen Nationalsozialismus heranwächst, beschreibt Slonimski warnend mit der Parabel von Archimedes und leitet daraus den Aufruf zur Verteidigung der Humanität ab („Den Deutschen“). Dieselbe Gefahr hat Broniewski im Auge, wenn er sich in dem Gedicht „Leichtathletik“ an die heutigen Olympioniken und Rekruten von morgen wendet:

Ihr habt euren Mut bewiesen
drum flicht auch um euch ein Netz
das alte Europa der Krisen,
der Not, mit dem Wolfsgesetz.

1927 entstand um die Zeitschrift Kwadryga (Quadriga) eine neue, linksorientierte Dichtergruppe – Stanisław Ryszard Dobrowolski, Władysław Sebyła, Konstanty Ildefons Gałczyński –, deren Sozialkritik immer deutlicher wurde. Leon Pasternak und Andrzej Wolica griffen mit zupackenden Versen in den revolutionären Kampf ein. Angesichts dieser Entwicklung geriet der Fortschrittsglaube der Krakauer Avantgarde in Schwierigkeiten. Während Przyboś seine poetologischen Grundsätze einem radikalen sozialen Engagement offenhielt, verkraftete Peipers Poetik diesen Wandel der Situation nicht. Peiper stellte sich zwar den neuen Ereignissen, aber seine Lyrik nahm Züge an, die er bisher heftig bekämpft hatte: sie wurde plakativ und episch. So verstummte er bald als Dichter.

3
Jene Generation, die in den dreißiger Jahren die literarische Bühne betrat, betrachtete Leistungen, Programme und Oppositionen des voraufgegangenen Jahrzehnts bereits als Erbe. Während in den zwanziger Jahren eine relative Identifikation der Literatur mit der Wirklichkeit vorherrschte, setzte sich im nächsten Jahrzehnt deutlich die Haltung des Nicht-Einverständnisses durch. Das betraf nahezu alle Dichtergruppen, zeitigte aber unterschiedliche Folgen.
Die Dichter um die Wilnoer Zeitschrift Żagary (Feuersbrunst) – Jerzy Zagórski, Aleksander Rymkiewicz und Mieczysław Jastrun, der bereits früher debütiert hatte –, aber auch die Lubliner Poeten Józef Czechowicz und Stanislaw Piętak – sie alle waren in poetologischer Hinsicht gelehrige, wenn auch kritische Schüler der Avantgarde, sie wurden selber häufig als „Zweite Avantgarde“ bezeichnet. Sie mieden jedoch die grellen Kontraste, den gewaltsam angestrengten Satzbau ihrer Vorgänger, bevorzugten dagegen fließende Konturen in Versbau und Syntax, die gedämpfte Tonart philosophischer Besinnung. Von den lautmalerischen Finessen eines Tuwim und von Przyboś’ betont antimelodischer Phrase bleibt zum Beispiel bei Czechowicz eine nicht sangbare Musikalität, die das sentimentale Pleinair der polnischen Provinz trägt und bestimmt:

heu riecht nach schlaf.

Gruppenprogramme galten jetzt wenig, eher individuelle Bekenntnisse. An die Stelle des Argumentierens trat die anmutige Gewalt einer betörend verdichteten Sprache, die sich selber rechtfertigt.
Niemand war mehr auf einen urbanen Mythos festzulegen. Den verlockenden Glanz, den er für die Vorgänger besaß, hatte die Weltwirtschaftskrise entzaubert (Stefan Flukowski, „Klage eines Händlers, dem man den Bankrott erklärte“). Die wachsende Unsicherheit der Intelligenz angesichts der sozialen Spannungen im eigenen Land und der um sich greifenden Faschisierung in Europa strafte den aus dem technischen Fortschritt gespeisten Geschichtsoptimismus Lügen. Schien zuvor noch die Geschichte in rationale Konstruktionen auflösbar, so verdunkelte jetzt die existentielle Reflexion die Logik geschichtlichen Handelns. Dem Ruf von Bios und Erde schenkten die Dichter Gehör. Eine neue, diesmal negative Geschichtsauffassung wurde geboren; sie besagte, Geschichte sei eine dunkle, menschenfeindliche Macht, die unaufhaltsam auf eine Katastrophe zutreibe. Sie drückt sich aus in Bildern der Sintflut (Lucjan Szenwald, „Lied von der Springflut“) und in der Absage selbst an die heilsgeschichtliche Hoffnung auf ein Reich der Zukunft (Władysław Sebyła, „Vater unser“); auch Broniewskis Gedichtband Allerletzter Schrei trägt apokalyptische Züge. Die Lyrik der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vermochte keinerlei Aussicht auf einen Wandel zum Guten aufzuspüren. Also lautete die Parole: Abkehr von der Geschichte. Diese erscheint nämlich als das Rad „ewiger Wiederkehr“, dirigiert einzig durch den, der „des Rades schwarze Achse“ überprüft – durch den Tod. Zeit gerinnt zum Muster, so daß der jetzige Augenblick so gut wie der vor hundert Jahren „in feste Konturen“ tritt (Mieczysław Jastrun, „Das Rad“). Rettung vor dem fatalen Zwang der Wiederholung sah jene Lyrik allein in der unschuldigen Einfalt des Kindes, in der Landschaft – Urwald und Idylle gleichermaßen –, in der Natur. Ihre Furcht nährte sich allerdings nicht nur aus der geschichtsphilosophischen Skepsis, sie entsprang auch der Wahrnehmung wirklichen Elends, des „lebendigen hungers, der umgeht“ in der Metropole:

aaaaaaaaaaaaaaaaa… doch ich
sag euch da hilft kein bedauern
durch sie werden stürzen
jerichos starke mauern

(Józef Czechowicz, „am hauptbahnhof in warschau“)

Stimmungsmäßig entgegengesetzt ist die Lyrik von Gałczyński, die eine Ausnahmeerscheinung darstellt; sich an keinerlei Gattungsregeln haltend, baute Gałczyński aus trivialem Sprachmaterial poetische Harlekinaden auf: bunt, grotesk, verspielt und mit der Sicherheit, die sich auf ungetrübte, einfache Gefühle gründet. Seine Heiterkeit war aber nicht die Einfalt des Ahnungslosen; die Gedichte zeigen vielmehr, daß er weiß, worüber er lacht und warum.

4
Der Überfall des faschistischen Deutschlands auf Polen im September 1939 stellte jede weitere Entwicklung unter ein neues Vorzeichen. Woraus sich die polnische Literatur seit 1918 endgültig entlassen glaubte, nämlich aus der nationalen Anwaltschaft, dazu wurde sie durch den zweiten Weltkrieg erneut berufen. Sie versagte sich diesem Ruf nicht. Jede Generation folgte ihm auf eigene Weise.
Die linke, revolutionäre Poesie hatte bisher mit dem eigenen bürgerlichen Staat, vor allem mit seiner Ideologie des nationalen Zusammenhalts, in Fehde gelegen. Die geschichtlichen Rechtfertigungsversuche des reaktionären diktatorischen Sanacja-Regimes polemisch aufgreifend, hatte sie die Gegenwart an den einst von Mickiewicz und Słowacki entworfenen Visionen eines freien Vaterlandes sozialer Gerechtigkeit gemessen (Stanisław Ryszard Dobrowolski, „Auf das Vaterland der Romantiker“). Nun galt es, eine Haltung zu finden, die nichts von der sozialen Kritik aufgab und doch das Eintreten für die bedrohte Nation nicht behinderte. Broniewskis „Bajonett aufgesetzt!“, geschrieben im April 1939, wurde zum Programmgedicht aller linken Kräfte. Die Kampfentschlossenheit des Patrioten verband sich darin mit der Überzeugung, daß durch die äußere Bedrohung die unbeglichenen „Rechnungen des Unrechts“ nicht einfach gestrichen sind. Der Einsatz für die Befreiung des Vaterlandes war fortan auch ein Kampf um seine Erneuerung.
Der Überfall auf Polen unterbrach zunächst das gesamte öffentliche kulturelle Leben. Obwohl es zum System der faschistischen Unterdrückung gehörte, die polnische Intelligenz zu vernichten, und also jede kulturelle Betätigung den Einsatz des Lebens forderte, gelang es den Machthabern nicht, die geistige Aktivität im Untergrund zu unterbinden. Während der Okkupation erschienen in Polen etwa 1.400 illegale periodische Publikationen, davon mindestens sieben anspruchsvolle literarische Zeitschriften. Mancher Dichter wurde aus der sich selbst genügenden Imagination in die wirkliche Geschichte zurückgeholt. Der faschistische Krieg forderte Entscheidungen und förderte sie auch. Mit dem Wort als Waffe kämpften Tuwim und Wazyk, Słonimski und Broniewski, Gałczyński und Przyboś, Unterschiede der Generation, des poetischen Profils, der ideologischen Orientierung traten zurück vor dem gemeinsamen Auftrag, den Lebens- und Kampfeswillen des Volkes zu stärken und den Nachgeborenen Zeugnis zu geben von dieser Zeit.
Der zweite Weltkrieg schuf eine geschichtliche Lage, in der die Lebensinteressen der polnischen Nation zwangsläufig einen universalen Stellenwert erhielten. Indem sie dem Ruf zu nationalem Engagement folgte, brauchte die Poesie nicht zu fürchten, sich ins Partikulare lediglich „polnischer Problematik“ zu verstricken, wie es noch während des ersten Weltkriegs der Fall war. Die besondere polnische Erfahrung, das, was dem einzelnen und dem Volk in jenen Jahren zwischen Auschwitz und Stutthof geschah, in Worte zu fassen, bedeutete Teilhabe am globalen Konflikt zwischen dem Humanismus und seiner faschistischen Verneinung. Dabei machten es die blutigen Erlebnisse, der verletzte Nationalstolz, die vielfältigen angestauten Emotionen nicht leicht, einen Blickpunkt zu finden, der Einsicht in das Wesen faschistischer Gewaltherrschaft gewährte und die Gegnerschaft zum Faschismus nicht auf nationale Feindschaft reduzierte. Die Lyrik nahm, insbesondere im Werk jener Dichter, die im Krieg und durch ihn zur Reife gelangten, diese Herausforderung an. Die Stimmen von Krzysztof Kamil Baczyński, Tadeusz Borowski, Tadeusz Różewicz zählen zu den ergreifendsten Zeugnissen menschlicher Würde aus einer Zeit entmenschlichten Daseins und entwürdigten Todes.
Was die Originalität gerade dieser Lyrik ausmacht, ist nicht allein die Tatsache daß sie sich einem Gegenstand ohnegleichen stellte, sondern wie sie es tat. Ihr lag die Überzeugung zugrunde, daß das faschistische Inferno nicht nur alle düsteren Ahnungen der Katastrophisten überbot

So erfüllt sich an uns die Legende, der Alp und die Mär,
verachten werden es künftige Generationen – doch glauben nicht.

(Tadeusz Borowski, „An die Verlobte“),

sondern auch jeglichen überlieferten poetischen Kanon in Frage stellte. Der nach dem Krieg vielerorts geäußerte Zweifel, ob die Vorgänge in Auschwitz, Buchenwald oder im Warschauer Ghetto literarisch darstellbar seien und ob insbesondere die lyrische Phantasie hier nicht der Sprachlosigkeit ausgeliefert sei, war polnischen Autoren nicht fremd. Was unmöglich schien, nämlich daß „ein Mensch dem anderen an die Gurgel springt“, war eingetreten, und die Lyrik hatte sich diesen Tatsachen zu stellen. Angetrieben von dem Dilemma, aussagen zu müssen, was über menschliches Begreifen ging, entwickelten Borowski und Różewicz ihre von überkommenen Mustern radikal verschiedene Poetik, die das Unerhörte nicht verharmlost, sondern ihm einen genauen wie erschütternden Ausdruck gibt.
Die herausragende Gestalt des Warschauer Kreises, junger Dichter, die nahezu alle Opfer des faschistischen Terrors wurden beziehungsweise im Warschauer Aufstand 1944 fielen, war Baczyński. In seinem Werk, das romantische Geschichtsvisionen, wie sie bei Słowacki oder Norwid zu finden sind, mit sprachlichen Verfahren der Avantgarde souverän vereint, ist ausgeprägt, was bis zu einem gewissen Grade allen diesen jungen Dichtern gemeinsam war. Dennoch unterschied vieles diese zur frühen Reife Gezwungenen, die – oft irrend – nach weltanschaulichen oder politischen Positionen suchten. Ihre Lyrik ist gegen die Aktionen des Okkupanten geschrieben, dessen Ziel es war, die polnische Kultur zu vernichten oder sich zu unterwerfen. Sie verstanden ihr Werk als bewußten Akt kultureller Selbstbehauptung und wollten darum zweierlei Gefahren umgehen: Mit strenger Verantwortung kultivierten sie eine reiche Form, um die lyrische Reflexion nicht durch patriotischen Verbalismus oder wehleidiges Selbstbeklagen zu verflachen. Außerdem suchten sie durch eine reiche Symbolik, die den Katastrophisten verpflichtet war, die unablässige tödliche Bedrohung zu verfremden, um ihrem lähmenden Sog nicht zu erliegen. Ohnmächtige Räsoneure der Unterdrückung wollten sie nicht sein. Es kam ihnen darauf an, ihre Zeit geistig zu bewältigen. So entspringt die „Dunkelheit“ ihrer Gedichte dem Bestreben, die moralische Unbestechlichkeit und kulturelle Integrität humaner Geistigkeit gegen die hämische Übermacht kruder Gewalt zu behaupten.
Besessen von dem Auftrag, das Vermächtnis der toten Kameraden zu bewahren und zu vermitteln, ist die Lyrik von Różewicz. Der von der Schlachtbank Entkommene schuldet den Gemordeten und Gefallenen Solidarität. Wie aber mußte das Wort gesetzt sein daß es ohne heroische oder sentimentale Beschönigung deren wahre Gesichter zeigte? An dieser Aufgabe schärfte Różewicz seinen Sinn für das genaue Wort. Er versicherte sich der sinnlich wahrnehmbaren Realien des Unansehnlichen, Alltäglichen, um der Abstraktheit und der moralisch begriffenen Vieldeutigkeit zu entgehen. Daher rührt auch seine Kritik an Przyboś und an den Postulaten metiphorischer Vieldeudigkit der Krakauer Avantgarde. Die wortwörtlich aus den Fugen geratene Welt war durch keine noch so kühn deformierenden Metaphern einzufangen, deren flirrendes Bedeutungsspiel leicht zu semantischer Inflation führte. In Sorge darüber, ob nach der Vernichtung so vieler Werte die Dinge noch ihren rechten Namen haben, ob das Gesagte auch das Gemeinte abdeckt, strebte Różewicz, aller poetischen Gewohnheit zuwider, nach der anti-lyrischen Eindeutigkeit des Wortes, das allen Zierat ablegt, dafür aber die wirklichkeitsstiftende Macht wiedergewinnt. Dieses poetologische Prinzip ist in erster Linie als ein moralischer Auftrag zu begreifen, nicht etwa als ein Votum für den einleuchtenden Slogan, der keinerlei Deutung bedarf, weil er sich zur Vielschichtigkeit gar nicht aufschwingt.

5
Blutige Lücken riß der zweite Weltkrieg in die polnische Literatur, also auch in die polnische Lyrik. Als man nach der Befreiung daranging, eine Ordnung im Lande zu errichten, die die alten „Rechnungen des Unrechts“ endlich begleichen sollte, stand die Poesie keinen Augenblick abseits. Anfangs beherrschten, von Różewicz abgesehen, die aus der Vorkriegszeit bekannten Namen das Feld. Viele kehrten von dort, wohin der Krieg sie verschlagen hatte, nach Polen zurück – Tuwim aus Brasilien, Broniewski aus Palästina, Słonimski aus London, Gałczyński aus deutschen Gefangenenlagern, Ważyk, Peiper und andere aus der Sowjetunion. Sie alle brachten Gedichte mit: Kampflieder und Elegien, Strophen der Sehnsucht, der wehmütigen Erinnerung und der zornigen Anklage und immer wieder Verse entschlossener oder zager Hoffnung auf einen neuen Anfang.
Woran konnte angeknüpft werden? Welche poetischen Entwürfe hatten den verheerenden Krieg überdauert? Der polnische Futurismus war mit Ausnahme seiner revolutionären Spielart in Jasieński, der bereits 1938 starb, versandet. Die vorhandene Alternative war die Poetik der Skamandriten oder der Konstruktivismus der Krakauer Avantgarde. Die ehemaligen Skamandriten standen zwar der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 aufgeschlossen gegenüber, fanden aber zu keinem neuen poetischen Ausdruck. Das Programm der Krakauer Avantgarde, das den geschichtlichen Fortschritt auf die fortwährende Entfaltung technischer Mittel reduzierte und daraus seinen Optimismus bezog, hatte schon in den dreißiger Jahren Widerspruch herausgefordert und mußte nach dem Krieg erst recht der historischen Kritik verfallen. Auf seine Weise Erfahrungen des Krieges aussprechend, polemisierte Różewicz mit Przyboś und mit dem Katastrophisten Czechowicz, vermittelte aber auch zwischen beiden und machte sich zugleich Impulse beider zu eigen. Unbeschadet der Kritik von Różewicz und anderen an der Krakauer Avantgarde mußte sich jedoch bald zeigen, daß ein poetisches Konzept, dessen Grundlage konstruktive Arbeit war, die dem Dichter künstlerische Originalität zur gesellschaftlichen Pflicht machte und seine Tätigkeit jenseits thematischer Zwänge und pathetischen Sendungsbewußtseins als gesellschaftlich wichtig beschrieb, nicht überlebt sein konnte; es schien vielmehr geeignet, die Dynamik sozialistischer Kreativität angemessen zu gestalten. Przyboś sprach nach dem Kriege am deutlichsten den Zusammenhang von poetischer und revolutionärer Arbeit aus:

Revolution ist unaufhörliches Schaffen, verlangt also auch unaufhörlich nach schöpferischer Arbeit, nach ständiger Änderung der Begriffe, nach ununterbrochener Entwicklung der einen und Überwindung anderer.

Hierin komme ihr die Lyrik entgegen, deren Pflicht es sei, mit kritischem Blick jeglichem Anzeichen des Rückschritts zu begegnen. Przyboś sagt weiter:

Nicht Panegyriker, Satiriker braucht die Revolution. Nicht wortschwellende Hymnen und lärmend getrommelte Märsche tun not, sondern eine erfinderische Sprache, die die Einbildungskraft neu organisiert, eine Lyrik, die altmodische Herzen durchbohrt. Die Revolution braucht eine Poesie, die das Hartnäckigste besiegt: die alte Natur des Menschen.

Nach wie vor hat für Pryboś das Dichten mit dem Pflügen oder Stahlgießen ein „ungleichartiges aber brüderliches“ Ziel („Abwechselnd“). Was Dichter und Arbeiter verbindet ist: beide „produzieren die Erfindung“.
Die Wirklichkeit Volkspolens, gekennzeichnet durch revolutionäre Umgestaltung, umfassenden Aufbau, beharrliche Anstrengungen zur Erhaltung des Friedens und somit auch durch nicht geringe Widersprüche, verlangte nach eigenem Ausdruck. Anfangs reflektierten vor allem die Gedichte älterer Autoren verschiedene Seiten der gewandelten Wirklichkeit Polens. Dabei veränderten Staff, Iwaszkiewicz, Tuwim oder Jastrun den bisherigen Blickwinkel und manchmal auch die Tonart ihrer poetischen Betrachtung. In Przyboś’ erneuerter Lyrik kamen wesentliche Züge der neuen Realität prägnanter zur Sprache als beispielsweise bei Broniewski. Im persönlichen, philosophisch gefärbten Rückblick und in der Landschaftsbetrachtung blieb Broniewskis Gedicht beweglich; anders erging es ihm, wenn er sich Sujets aus dem gesellschaftlichen Bereich zuwandte. Seine von romantischer Zweiteilung geprägte Poetik unterschied nur die Zeit dunklen Kampfe von der Zeit siegreichen Lichts. Damit war sie zwar in der Lage, die sozialistische Wende in Polen enthusiastisch zu begrüßen, versagte aber beim Versuch, Widersprüche des neuen Lebens in ihrer Härte und Lösbarkeit zu gestalten.
Die Ergiebigkeit der avantgardistischen Poetik unter neuen Bedingungen blieb im großen und ganzen bis Mitte der fünfziger Jahre versiegelt: teils deren puristischer Strenge wegen, teils weil eine engherzige Betrachtung sie mit dem Etikett „Formalismus“ bedacht hatte. In den fünfziger Jahren vollzog sich eine sichtbare Umgruppierung in der Lyrik. Zwischen 1953 und 1957 starben Tuwim, Gałczyński, Lechoń, Staff und 1962 Broniewski. Eine neue Generation trat in die Literatur ein. Sie wandte sich unbefangener dem gesamten Lyrikfeld der Vorkriegszeit zu, knüpfte vielfältige Traditionsbeziehungen, die jede Vorstellung eines Traditionskanons sprengten. Anregungen aller Art, wurden daraufhin geprüft, was ihnen zur Bewältigung des aktuellen Auftrages abzugewinnen sei. Das geschah in einer Phase, in der sich der Schwerpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Polen zu verlagern begann. Nicht mehr die Frage, ob sich der Sozialismus gegen den Kapitalismus durchsetzen würde, stand jetzt im Vordergrund, sondern wie seine gesellschaftlichen und kulturellen Potenzen am besten zu entfalten seien. Jetzt war nicht mehr allein das Grundlegende der gesellschaftlichen Veränderung wichtig, sondern die individuelle Motivation, mit der sich der einzelne in die Veränderung eingliederte, die Möglichkeiten, die er aus dieser Veränderung für sich gewann, rückten stärker ins Blickfeld. Diesen Fragen trug nun die Poesie mit stärker differenzierten Strukturen Rechnung. Gleichzeitig aber setzte der früh zum „jüngsten Klassiker“ avancierte Różewicz seine Mahn- und Warngedichte fort. Sowohl die Strenge seiner moralischen Maßstäbe als auch sein leidenschaftlicher Aufruf zur praktischen Güte wurzeln nach wie vor im Erlebnis des Krieges.
Bereits 1952 und 1953 stellten sich vielversprechende neue Namen vor; Wisława Szymborska und Tadeusz Nowak. Wisława Symborska ist ohne Zweifel die originärste Dichterin Volkspolens. Der Geschichte ihres Volkes innig zugetan, kennt sie den schwierigen Auftrag, dieser Liebe beständig einen neuen, gegen jeden feierlichen Schwulst ankämpfenden, glaubwürdigen Ausdruck zu geben. Sie spricht die Irrtümer geschichtlicher Erinnerung an, die Schwierigkeiten die es in Polen bereitet hatte, den antifaschistischen Patrioten verschiedener politischer Orientierung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen („Rehabilitierung“). Ihre Einsichten sind historisch fundiert, kommen aber nie mit hochmütiger Endgültigkeit daher. Sie werden mit weiblichem Feingefühl, intellektueller Strenge und einem Schuß souveräner Selbstironie vermittelt. Der leise, keineswegs misanthropische, sondern aus dem Wissen um das Unvollkommene gespeiste Zweifel prägt auch ihre entschlossen mit tradierten Formen arbeitende Metaphorik und entkräftet jede Überschwenglichkeit, wenn es darum geht, den Platz der eigenen Poesie in der Gunst des Publikums zu erörtern („Dichterlesung“).
Das südpolnische Vorgebirge der Karpaten ist nicht nur die biographische, sondern auch die poetische Heimat von Nowak. Die Zuneigung zu dieser Region, zur Ursprünglichkeit der Landschaft und des dörflichen Lebens teilt er mit Dichtern wie Jerzy Harasymowig oder Jan Bolesław Ożóg.
Nowak bewundert „des Roggenvolkes unschuldige Mundart“ („Kindlicher Psalm“), aus ihr beziehen seine Bilder die zauberische Einfalt, die sinnliche Präzision. So schafft er eine poetische Vision der polnischen Provinz, folgt darin Czechowicz und Leśmian, aber auf ganz andere Weise. Es geht nicht mehr um Flucht in das ländliche Idyll. Dieses Land, die „Heimat des Schnees, der Blätter und Schatten“ („Vaterland“) ist von gewaltigem Aufbruch erfaßt, und Nowaks „neue Mär“ verheimlicht ihn nicht; sie gibt dem Schwindenden zärtliche Namen und sagt das Neue entschlossen an. Dagegen wendet Harasymowicz die folkloristische Inspiration ins Phantastische Skurrile. Die Heiterkeit seiner Gedichte entspringt nicht dem Stoff sondern einem surrealen Verfahren: Dorf, Wald und Tier sind hier um einen Deut künstlicher; nicht so sehr kraftvolle Ursprünglichkeit kommt in seinen Gedichten zum Vorschein, eher verspielte Exotik, der die Attitüde antiurbanen Idylls nicht völlig fremd ist.
Nichts vom Idyll lassen die Gedichte von Stanisław Grochowiak spüren. Eher ein Moralist wie Różewicz, unterscheidet er sich von diesem durch die Behauptung der üppigen Phantasie gegen die strenge Disziplin bestimmter poetologischer Regeln. Aus Abneigung gegen scheinbare Ordnung, die im Grunde elementare Kräfte lähmt oder überspielt, wendet er sich häufig der gebrechlichen und abstoßenden Seite der Dinge zu, dem provokanten Ausbruch aus der Ordnung. Nicht die schöne sprachliche Verkleidung, sondern Entkleidung ist sein Anliegen, ein Entkleiden von hochmütigen Einbildungen des Geistes, auf daß sich die wirkliche Not und Lust des Fleisches ernst oder mit frivoler Heiterkeit offenbare.
An Wortexperimente, wie sie Tuwim und die polnischen Futuristen, im Ausland vor allem die russischen Futuristen und in Westeuropa die Dadaisten betrieben hatten, knüpft bis zu einem gewissen Grade die sogenannte linguistische Lyrik an – allerdings macht sie das bewußter und kritischer, bedingt durch die Entwicklung sprachwissenschaftlicher Theorien seit den zwanziger Jahren. In der Überzeugung, daß die Übereinkunft sprachlicher Normen dem Sprecher nicht nur diene, sondern ihn auch ihren Regeln unterwerfe und ihm damit vorgefaßte Meinungen und Urteile aufzwinge, praktizieren einige Dichter – Zbigniew Bieńkowski, Miron Białoszewski, Tymoteusz Karpowicz – die Kritik an vorgeprägten Ausdrucksmöglichkeiten, um die dann enthaltene Täuschung abzubauen. Das zu diesem Zweck aus alter Haft gelöste Wort erweist sich bei Białoszewski als überraschend genaues Instrument heiterer Entdeckungen im Alltag. In besonders gelungenen Fällen scheint es, der Autor rekonstruiere Witz, Hintergründigkeit und sprachlichen Einfallsreichtum des Volksmunds.
Während der Zweifel an der Sprache bei Karpowicz zu genauen, auch satirischen Stenogrammen von Detailbeobachtungen führt, wird er bei Bieńkowski methodischer, ja philosophischer ausgebaut. Getrieben von Mißtrauen, ob Intention, Zeichen und Abbild noch übereinstimmen, durchwandert er „die Hölle der Vieldeutigkeit“ und den „Himmel des Verbalismus“ auf der Suche nach dem „heimatlichen Gefilde, wo unter den Füßen ich gesicherten Boden fühle“, den Boden des Wortwörtlichen („Ode ans Wörterbuch“).
Die Hinwendung zu Themen der Geschichte – nicht mehr nur der Nationalgeschichte, wie das vor dem Krieg bei Lechoń und Broniewski zu finden ist, auch nicht allein der jüngsten Vergangenheit der Okkupation, die Różewicz bevorzugt, sondern der allgemeinen Geschichte – ist bei einer Reihe von Dichtern, darunter bei Zbigniew Herbert, augenfällig. Ihr Anliegen ist es, weltgeschichtliche Erfahrungen zu beleben, um die eigene Gegenwart zu beschreiben. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg können Różewicz und Herbert gewissermaßen als Flügelmänner zweier verschiedener Tendenzen gelten.Nach einer Phase forcierter Behauptung eines neuen Bewußtseins gerade als Konsequenz einmaliger nationaler und sozialer Erfahrungen schien die Zeit universalerer Bestimmung gekommen. Sozialistische Lyrik baut ihr souveränes Selbstverständnis aus, indem sie ihre Fragen und Lösungen zu urbildichen Mustern der Menschheitskultur in Beziehung setzt. Bereits bei Wisława Szymborska nimmt dies einen wichtigen Platz ein, ausgeprägt erscheint es im Werk Herberts. Die moralische Sensibilität des Zeitgenossen, Stereotypen seines nationalen Bewußtseins und schließlich sein Kunstverständnis werden von Herbert in der Begegnung mit geschichtlichen Chiffren geprüft. Kulturgeschichtliche Symbole, antike und christliche Mythen, Fabelmuster alter Literatur gewinnen durch behutsame Umdeutung die Fähigkeit, unserer Gegenwart den Spiegel vorzuhalten und lehrreiche Erkenntnisse zu offenbaren. Die Wechselbeziehung von moralischem Anspruch und historischer Einsicht, das Geschichte-Machen und Geschichte-Erleiden werden bei Herbert ausgewogen; dem trägt auch seine Gestaltung Rechnung, die an die beiden gegensätzlichen Muster der Vorkriegszeit, die Krakauer Avantgarde und die Katastrophisten der dreißiger Jahre, anknüpft. Der Künstler, der die Welt im Wort neu entstehen läßt, hat nicht die Souveränität, sich selber herauszuhalten, ihr gegenüber nur Schöpfer zu sein und nicht zugleich auch Geschöpf:

so mischt sich
so mengt sich
in mir
was die ergrauten herren
für immer zergliedert haben
wovon sie behauptet haben
das sei gegenstand
und das aussage

(Zbigniew Herbert, „ich möchte beschreiben“)

Mit Ernest Bryll und Marian Grześczak schlägt die Lyrik der sechziger Jahre zwei verschiedene Wege ein. Grześczak entdeckt, nicht ohne polemischen Unterton, bisher von seinen Dichterkollegen vernachlässigte Bereiche der modernen Wirklichkeit. Stadt, Industrie, Maschine sollen nicht länger im außerlyrischen Exil bleiben zugunsten einer poetischen Vergoldung der Natur; die Städte seien heute die Landschaft unseres Alltags:

Die schreibmaschine ist nur eine maschine
Was tut sie als ob sie ein specht wär

(Marian Grześczak, „dichter flieht nicht in die wälder“)

Peipers pathetische Zivilisationsutopie der zwanziger Jahre ist hier abgelöst durch nüchternes Festhalten an unserer heute gegebenen Umwelt, die es im Wort zu meistern gilt, statt daß man versucht, sie durch Vernachlässigung wegzuzaubern. Mit ähnlicher Tendenz, aber noch intensiver wendet sich Bolesław Lubosz der Industrielandschaft und der Arbeitswelt zu.
Bryll wiederum folgt dem Weg kritischer Geschichtsreflexion. In vielem Herbert verpflichtet, teilt er mit Broniewski die nationalgeschichtliche Faszination. Brylls Lyrik greift einerseits die Wirrnisse des polnischen Schicksals auf, jedoch hat sie kaum etwas vom legendären Geist und der Noblesse der Adelskultur – es sei denn das polemische Zitat. In Brylls Gedichten ist die plebejische Opposition zu Hause. Das Selbstvertrauen, die ungebeugte, nüchterne Kraft der Schichten, die im Sozialismus ihre soziale und kulturelle Emanzipation erreichten, spricht sich darin aus. Brylls lyrisches Subjekt hat etwas von dem Habichtcharakter des Michał Toporny, des Helden aus dem Roman Der tanzende Habicht von Julian Kawalec; gleich jenem ist es vom geschichtlichen Hunger getrieben, der in jeder geringsten Gelegenheit die Chance erblickt, eine Jahrhundertrechnung zu begleichen, einen Rückstand im Sprung aufzuholen. Und weil Bryll, aller Tragik der polnischen Geschichte trotzend, sich und anderen die Aufgabe stellt, „… in diesem Witwensand etwas Besseres bauen als korynthische Säulen“, kann sein Votum nicht Ikarus’ beeindruckender, aber folgenloser Idealität gelten, sondern dem Tausendkünstler Dädalus:

aaaaaaaaaaaaa… nicht gaffen
nach dem Flieger tut not, noch seinen Sturz und Schrecken
zu beklagen…
aaaaaaaaaaaaaaSondern unseres schaffen.
Kehrte Dädalus um, Ikarus zu retten?

(„Ikarus predigen alle…“)

Geschichte heißt es betrachten, um die Gegenwart zu meistern, die ganze, schwierige, ungeschminkte, jede Anstrengung lohnende Gegenwart. Reich an Haltung, Tonlagen und Verfahren ist die polnische Lyrik von heute, und sie ist offen für Neues, das sich in den Versen der Jüngsten – Edward Stachura, Tadeusz Kijonka, Stanisław Barańczak – bereits kräftig ankündigt.

Heinrich Olschowsky, Dezember 1973, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zu Heinrich Olschowsky
Fakten und Vermutungen zu Henryk Bereska

 

Henryk Bereska Ich kam sah und ging. Eine Reportage von Magdalena Handerek.

1 Antwort : Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten”

  1. Liersch sagt:

    Ich freue mich, etliche Bücher mit Henryk Bereska gemacht zu haben.

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