Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wenn ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? –
Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt –
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Diese Auswahl aus Rilkes Gedichten versucht, was erst Ernst Zinn, der die neue Insel-Ausgabe der Sämtlichen Werke betreut, durch seine präzise und so gut wie vollständige Datierung des lyrischen Werks zu versuchen möglich gemacht hat: nämlich den Werdegang des Dichters an Beispielen seiner Kunst zu zeigen, die mit einiger chronologischer Genauigkeit geordnet wurden. Mit nur einiger Genauigkeit; denn fällt es auch nicht schwer, manche der Kompositionsgefüge, zu welchen Rilke seine Dichtungen versammelt hat – das Stunden-Buch etwa, oder die Neuen Gedichte – wieder aufzulösen (zumal eine Anthologie sie ja doch nicht unversehrt lassen kann), so widersetzen sich die hier als Ganzes aufgenommenen Duineser Elegien und Sonette an Orpheus der Absicht, die Zeitenfolge zu bewahren. Bei den Sonetten macht das wenig aus; obgleich der Dichter bei ihrer Numerierung nicht ganz dem Kalender ihres Entstehens folgte, so sind die Pausen zwischen den einzelnen Sonetten ja doch fast nach Stunden zu bemessen: sie entstanden alle innerhalb der durch ihre Kürze so berühmten Zeitspannen, der Erste Teil in vier Tagen zu Anfang Februar 1922, der Zweite Teil während kaum einer Woche in der Mitte des Monats.
Anders ist es bei den Elegien. Zwar sind auch sie in hohem Maß das Ergebnis jener berühmten Februar-Produktivität auf Château de Muzot; jedoch führen sie nicht ganz zu Unrecht den Namen des Schlosses Duino: dort entstanden zehn Jahre vorher die ersten zwei Elegien sowie auch Teile der dritten, neunten und zehnten. Bei der Zusammenstellung dieses Bandes aber war nicht im geringsten daran zu denken, diesem „klassischen“ Gebilde, das Rilke selbst – und nicht nur er – für sein größtes Werk hielt, mit chronologischem Eifer zu Leibe zu rücken. Gewiß, die einzelnen Teile dieses Werkes stammen aus verschiedenen Lebensepochen des Dichters; trotzdem sind sie eins dank einer inneren Einheit, die ihn im Januar 1912 schon ahnen ließ, was erst im Februar 1922 an den Tag kam.
Das aber, worauf es bei Rilke schon 1912 hinaus wollte, hat Rudolf Kassner, der kritisch-verständnisvolle Freund, dem die achte Elegie gewidmet ist, als die Überwindung der Dichtung selbst bezeichnet: dies, so schrieb er, war es, was Rilke mit seinem Dichten im Grunde vorhatte. Meint man, das sei eine Diagnose, die so überspitzt ist, daß sie kaum noch stimmen kann, so bedenke man, daß schon Hegel der neueren Kunst genau dieses Ende prophezeite: in dieser Geschichtsepoche sei „der Geist“ nun einmal „über die Kunst hinaus“. Und bedeutet es nicht dasselbe, wenn T.S. Eliot im East Coker-Teil seiner Vier Quartette verkündet, daß es auf die Poesie nicht ankomme:
The poetry does not matter?
Es ist gewiß keine frohe Botschaft für die Kunst, wenn es gleich zu Beginn der Duineser Elegien heißt, daß das Schöne nichts sei als des Schrecklichen Anfang, der Anfang nämlich jenes Engelterrors, der, wie sich zuletzt erweist, nur in der reinsten Innerlichkeit zu bestehen ist. „Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze“: die Grenze der Ding-Welt nämlich, welche mit der „Wendung“ erreicht ist, dem Gedicht, welches Rilke zur Zeit der Sommersonnenwende des Jahres 1914 schrieb. Damals rüstete sich Europa zum ersten Akt der Selbstzerstörung, von der Erdteil und Welt seither kaum abgelassen haben.
„Mehr als je fallen die Dinge dahin…“: zu behaupten, Rilke habe, als er diese Worte im Februar 1922 schrieb, den Krieg gemeint, der damals gerade erst war, oder diejenigen, die kommen sollten, wäre ebenso falsch wie die wohlgemute Überzeugung, daß Zeitgeschehen und Gedicht nichts miteinander zu tun haben und die Geschicke der Welt das „Wesen“ der Dichtung unangefochten lassen. Solches zu glauben, hieße zudem, die „Fühlung“ unterschätzen, die gerade Rilke wie kaum einem andern Dichter seiner Epoche eignete. Ob es nun statthaft ist oder unerlaubt, bei Elegien-Versen von diesem und ähnlichem Sinn sich unserer Kriege und unseres feindselig gesinnten Friedens zu erinnern, das Denken von Rilkes Dichtung ging offenbar dahin, daß die Welt des Tuns und des Angetanen, der äußeren Bezüge und Konfigurationen, sich anschickte, dem Geist des Gedichts sein Existenzminimum zu verweigern, es sei denn, es gelänge dem Dichter, diese Welt „im unsichtbarn Herzen zu verwandeln“:
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Und der neunten Elegie „Erde, du liebe, ich will“, das immer wieder als ein bedingungsloses Bekenntnis zum „Hiersein“ mißverstanden wird, ist in Wahrheit die freudige Hinnahme des „Auftrags“ der Erde, sie in reine Innerlichkeit umzusetzen und unsichtbar erstehen zu lassen. Wenn aber nirgends Welt ist „als innen“, ist mit allen andern Künsten auch die Dichtung an ihrer Grenze angelangt. Denn jegliche Kunst, wie tief sie auch im Innern wurzeln mag, bedarf zu ihrem Dasein der äußeren Figur und sinnlichen Wirklichkeit.
Daß er an seiner eigenen Grenze, die auch die Grenze des Dichtens war, stehe und, sich dagegen stemmend, versuche, „Unkenntliches“ hereinzureißen (wann vor ihm hätte ein Dichter die Aufgabe seines Dichtens so bestimmen mögen?), wußte Rilke bereits, als er im Winter 1913–1914 das Gedicht „O Leben, Leben, wunderliche Zeit“ entwarf. Obgleich es Entwurf geblieben ist, wurde es doch in diese Sammlung aufgenommen, weil es nicht nur von der „Grenzsituation“ spricht, sondern auch von dem „großgewagten“ Vorhaben, diese zu überwinden; von eben jenem Programm also, dem Rudolf Kassner nachsagte, es sei auf die Überwindung der Dichtung selbst aus.
Waren der Umwege auch viele, so zielte doch alles von Anfang an auf diese Erfüllung ab; und der auf sie gerichtete Blick war es, der diese Auswahl mitbestimmte. Freilich hat sich der Autor dieser Anthologie Mühe gegeben, keine Phase Rilkes (mit Ausnahme der allerfrühesten, der noch ganz und gar ungeübten und unselbständigen) unberücksichtigt zu lassen. Auch vertraute, ja allzu vertraute „Monumente“ wurden aufgenommen. Denn es wissen viel zu viele Leser, was sie finden wollen, wenn sie Rilke aufsuchen, als daß eine Anthologie es sich leisten dürfte, auf exzentrische Weise originell zu sein. Eine Rilke-Anthologie ohne den „Nachbar Gott“ ( der allerdings schon dem Freunde Kassner eine Peinlichkeit war), oder ohne den „Panther“, oder ohne den „Weltinnenraum“ (den eines der schönsten Gedichte Rilkes leider der Besiedelung durch allerlei Seelenschmöcke und Schmöckinnen erschloß), wäre wie ein Bilderbuch von Pisa, das so täte, als gäbe es dortselbst keinen schiefen Turm.
Nicht auf Eigenwilligkeit also kam es dieser Auswahl an, sondern eben auf die Darstellung des erstaunlichen Weges, auf welchem dieser Dichter zu einem erstaunlichen Ziel gelangte. Von der einfühlsamen böhmischen Volksliedschwermut des Anfangs führt dieser Weg über die Angelus Pragensis-Religiosität des Stunden-Buches zu den „Ding-Gedichten“; und fragte man den Autor dieser Anthologie, warum er von den Requiem-Dichtungen Rilkes gerade diejenige für den jungen Grafen Kalckreuth ausgewählt habe, so wäre die Antwort: Weil sie im nachhinein, im November 1908, die bündigste Formel für die „Ästhetik“ dieser „Ding-Gedichte“ gibt, nach deren Gebot es des Dichters Aufgabe sei, sich dermaßen in die Dinge zu versenken, daß durch ihn die Dinge selbst zu der ihnen gemäßen Sprache zu kommen scheinen; denn es obliege dem Dichter
… hart sich in die Worte zu verwandeln,
wie sich der Steinmetz einer Kathedrale
verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut.
Aber schon zwei Jahre später argwöhnte er – im Brief, den er am 30. August 1910 an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis schrieb –, daß dieses Bestehen auf den „Dingen“ „ein Eigensinn“ war, „auch ein Hochmuth“, „und eine ungeheure Habgierigkeit“. Und vier Jahre darauf hieß es denn auch im Gedicht „Wendung“:
Werk des Gesichts ist getan,
tue nun Herz-Werk
an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du
überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht.
Und das Arbeitsziel dieses Herz-Werks war eben nichts geringeres als die Verwandlung der sichtbaren, der „angeschauten“ Welt in jene Unsichtbarkeit der pursten Subjektivität, der die verderbliche Maschinerie der Zeit nichts mehr anhaben kann; die Übersiedlung des Geistes in jene Sphäre also, in welcher Rilkes Engel beheimatet sind, und in welche die wundersamen Figuren, Würfe, und Bezüge der späten Gedichte „hinüberspielen“, die einen so beträchtlichen Teil dieser Anthologie ausmachen. Sie sind wohl das Äußerste, was eine Dichtung zu leisten vermag, die sich selbst überwindet; sind die gerade noch mögliche Niederlassung der Worte auf dem Unsagbaren; und sind das „geflügelte Entzücken“, angestiftet von den lebhaftesten, noch nie geschauten Bildern, die dort einen verzauberten Augenblick lang sichtbar werden, wo die anschauliche Welt ins Unsichtbare übergeht.
Erich Heller, Nachwort
– Pasternak, Zwetajewa, Rilke: Wie sich 1926 drei Dichter auf Entfernung austauschten und Kontakt ohne Körper suchten. –
Es war das Jahr, als der Berliner Funkturm eröffnet wurde, ein Jahr, in dem man schon Radio hören konnte, es aber noch nicht oft tat, ein Jahr brodelnder Großstädte, ein Jahr, in dem in Deutschland mit einem Service der Reichsbahn die Geschichte des mobilen Telefons begann. Die Züge fuhren und die Telegraphendrähte surrten. 1926 war ein Jahr der Kommunikation.
Während die mediale Verständigung rasant wuchs, erprobten damals drei Dichter Kommunikation ohne Berührung, ohne Sichtkontakt, ohne körperliche Nähe. Sie wollten sich die wichtigsten, die intimsten, die für sie lebensnotwendigen Dinge anvertrauen. Sie waren mehrere hundert oder tausend Kilometer weit voneinander entfernt, ohne Internet, Social Media, Fernsehen oder Telefon. Sie hatten die Distanz nicht freiwillig gewählt, sie wollten sich sehen und berühren. Aber es ging nicht, es gab kein Virus, aber es gab staatliche Maßnahmen, die den Kontakt zwischen Russland, Frankreich und der Schweiz sehr schwierig machten. Es war eine Ausnahmesituation, in der sich die Grundlagen der Kommunikation zeigten.
Auch wir sind, mit einem Schlag, in eine ganz neue kommunikative Situation versetzt. Wir sind in einer Situation, in der sich das Gebot der Distanz und das Bedürfnis nach Nähe widersprechen. Wir ahnen, nicht nur das Medium ist die Message (wie wir uns seit Jahrzehnten vorgebetet haben), es gibt auch eine Botschaft, die wir selbst haben und die ankommen will und muss. Und so denken wir, da sich alles verändert, wieder über Kommunikation nach.
Wann die gemeinsame Geschichte der drei Dichter begann, ist schwer zu sagen. Marina Zwetajewa schrieb 1923 ein Liebesgedicht, das sie „Gedicht vom Ende“ nannte. Dieses Gedicht las Boris Pasternak zufällig und war davon wie benommen. Die beiden hatten sich flüchtig kennen gelernt, in Berlin hatten sie erfolglos versucht sich zu treffen. Aber jetzt schrieben sie sich Briefe, und kamen sich dabei näher. Sie Emigrantin in Frankreich, er Familienvater in Moskau. 1926 kam Rainer Maria Rilke in der Schweiz dazu. Es entstand eine Dreier-Kommunikation, wie sie eigenartiger wohl kaum je stattgefunden hat.
Zwetajewa, die Frau, verbrachte den einzigen Urlaub ihres Lebens. Es war Anfang Mai, sie war am Atlantikstrand in der Vendée, südlich von Nantes. Wobei das Urlaubsleben am Meer war wie ihr Leben eigentlich immer, Brei für den Kleinen, An- und Ausziehen, Spazierengehen, Kartoffelsuppe. Marina war vernarrt in ihren kleinen Sohn Murr. Frühmorgens, bevor die Kinder aufwachten, Briefe und Gedichte schreiben.
Aber beginnen wir mit Pasternak und Rilke. Pasternak jubelte, als er erfuhr, dass Rilke seine Gedichte gelesen und gelobt hatte. Er bewunderte Rilke seit Jahrzehnten. Nun wollte er mit ihm in Kontakt treten, im April 1926 fasste er sich ein Herz und schrieb ihm einen Brief.
Großer, geliebtester Dichter, begann er.
Ich bin Ihnen mit dem Grundzuge des Charakters, mit der Art meines Geistesdaseins verpflichtet.
Pasternak schrieb den Brief auf Deutsch, ein etwas steifes, aber geschliffenes Deutsch.
Der Zauberzufall, dass ich Ihnen unter Augen fiel, wirkte auf mich erschütternd. Die Nachricht darüber war für mich wie ein elektrischer Seelenkurzschluss.
Er schrieb sogar von Liebe.
Ich liebe Sie, wie die Dichtung geliebt werden will und soll, wie die Kultur im Gange ihre eigenen Höhen feiert, bewundert und erlebt.
Rilke antworte freundlich aber kurz und distanziert. Er wusste nicht, wie er auf Pasternaks Überschwang reagieren sollte. Pasternak erreichte Rilke nicht. Die kurze Antwort Rilkes aber las Pasternak, als sei sie ein intimes, verbindendes Schreiben.
Ich bin so erschüttert durch die Fülle und Stärke seiner Zuwendung, dass ich mehr heute nicht sagen kann.
Schon hier begann etwas gehörig durcheinander zu geraten, zwei redeten aneinander vorbei.
Pasternak rang in dieser Zeit um Fassung. Seit acht Jahren konnte er nicht mehr so schreiben, wie er wollte. Acht Jahre waren seit der Revolution vergangen, und er wusste nicht, was seine Rolle in der neuen Sowjetunion sein sollte.
Von der fernen Marina Zwetajewa dagegen träumte er.
Ich träumte den Sommerbeginn… Man sagte mir, jemand wolle mich sprechen. Mit dem Gefühl, du seiest es, lief ich beschwingt durch das helle Licht der Gänge die Treppe hinab.
Er schwärmte von ihr, als wäre sie kein Mensch, sondern der Himmel:
Es war ein durch Dich hervorgerufener Zustand des Friedens. Schwer zu erklären, aber es verlieh dem Traum einen Zug von Glück und Endlosigkeit. Mich erfüllte zum ersten mal im Leben Harmonie mit solcher Intensität, wie ich sonst nur den Schmerz durchlebte. … Du warst absolut schön.
Aber so überschwänglich Pasternak auch war, so sehr er träumte: Es half nicht, er wollte, er musste sie sehen. „Soll ich sofort zu Dir reisen oder erst im nächsten Jahr?“ fragte er und war nah dran, ohne Visum loszufahren.
Antworte mir sofort.
Zwetajewa schrieb eine ebenso freundliche wie klare Absage. Er solle im nächsten Jahr kommen.
Du bist ein großes Glück, das sich langsam nähert.
Sie mühte sich, verbindlich zu sein. Er überspielte seine Enttäuschung.
Ich ging unschlüssig herum, hin und her. Zwanzigmal fuhr ich ab und zwanzigmal hielt mich eine Stimme zurück.
Er tat, als sei es eine Liebestat von ihr ihn zurückzuweisen.
Man muss Dich als Kostbarkeit behandeln. Einen mit Gold beladenen Gegenstand, liebend und vorsichtig.
Wieder also ging alles durcheinander, wieder kein Verstehen. Pasternak konnte die Gegebenheit der Distanz nicht akzeptieren. Dadurch zerstörte er Nähe.
Vier Tage später brach er zusammen. Sie solle nicht enttäuscht sein von ihm, sich nicht abwenden, bettelte er. Er meinte damit nicht nur den Briefschreiber, den Dichter, auch den Menschen, den ganzen Boris Leonidowitsch Pasternak. Aber auch das war nicht die ganze Wahrheit: Denn Pasternak hatte eine Ahnung, er spürte, etwas Erschreckendes ging vor sich. „Du selbst flößtest mir diese Sorge ein“, schrieb er Zwetajewa.
Es hängt irgendwie mit Rilke zusammen.
Rilke war in einem Sanatorium bei Lausanne. Er war krank, sehr krank. Obwohl er in der Dreierrunde noch gar nicht dabei war, hatte er den Grundton der Kommunikation vorgegeben. Es waren seine Gedichte. In einem seiner berühmtesten, der ersten Duineser Elegie, hatte er etwa geschrieben:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Engelhafte Kommunikation ist traumhaft, damit berührt die Elegie die Briefe, wie sie Pasternak und Zwetajewa schreiben wollten, engelhafte Kommunikation ist unmittelbar und wahr. Und sie ist transzendent, spielt in einem dem Radioäther verwandten Raum. Rilke hatte mit den Engeln nicht nur Figuren aus der Vorzeit wiederbelebt, er hatte auch Figuren für die Kommunikation der Moderne gefunden, unmittelbare Kommunikation in Echtzeit in einem neuen medialen Raum. Das war es, was Zwetajewa und Pasternak wollten.
Kann man mit Worten unmittelbar sein? Kann man auf die Entfernung anders als mit Worten Kontakt haben? Was können wir heute speziell mit Worten tun? Auch in den sozialen Medien spielt das Wort die Hauptrolle. Jeder denkt im Moment neu über Kommunikation nach, ob es ihm bewusst ist oder nicht. Wir haben viele technische Möglichkeiten, die drei Dichter wollten nicht die neuen Möglichkeiten nutzen, die sich damals boten, sie wollten Unmittelbarkeit. Sie wollten das, was die grundlegendste Forderung jeder Kommunikation erfüllt: Unmittelbarkeit. Das Gefühl von Unmittelbarkeit stellt Nähe auch über Distanz her.
Was geschah beim dritten Paar, Zwetajewa und Rilke? Sie kamen zusammen, weil Pasternak eine abenteuerliche Idee hatte: Sie solle seine Briefe an Rilke und Rilkes Briefe an ihn weiterleiten. Daraus wurde nichts, aber der Kontakt zwischen Zwetajewa und Rilke wurde sofort ein poetischer Flirt. Sie begann ihren ersten Brief an Rilke, wie es für sie typisch war, sie ging aufs Ganze.
Rainer Maria Rilke!
Das war nicht nur Anrede und Ausruf, das war Gedichtanfang.
Darf ich Sie so anrufen? Sie, die verkörperte Dichtung, müssen doch wissen, daß Ihr Name allein, ein Gedicht ist. Rainer Maria, das klingt kirchlich – und kindlich – und ritterlich.
Die bloße Länge war, für einen ersten Brief, eine Zumutung. Rilke aber schickte an sie, nicht an Pasternak, die Elegien und schrieb eine Widmung hinein.
Für Marina Zwetajewa
Wir rühren uns. Womit? Mit Flügelschlägen,
mit fernen selber rühren wir uns an.
Ein Dichter einzig lebt, und dann und wann
Kommt der ihn trägt, dem, der ihn trug, entgegen.
Rainer Maria Rilke.
Er wollte und konnte Nähe. Im nächsten Brief zitierte sie ihn:
Ich glaube an Nächte.
Sie legte sich zu ihm, verneigte sich, zeigte darin eigene Großartigkeit, nichts und alles wollend.
Ich las Deinen Brief am Ocean, der Ocean las mit, wir lasen beide. Ob Dich so ein Mitleser nicht stört? Andere wird es nicht geben, – ich bin viel zu eifersüchtig (in Dir – eifrig).
Auch sie sprach von Liebe, sprach davon, dass er allein, Rilke, Gott etwas Neues gesagt habe. Sie schrieb, besessen von ihrer ursprünglichen Angst, ihm als Mensch zu nah zu kommen, gleichzeitig in der neuen Angst, unbeseelt zu erschienen:
Mit dem Rilke-Mensch meinte ich den, der lebt, druckt, den man liebt, der schon so vielen gehört, der schon müde sein muss von der vielen Liebe.
Rilke war nicht überfordert, er antwortete ausführlich. Er schrieb ihr, wie er lebte, wo er herkam, wer er war. Er schrieb ganz unprätentiös, ganz einfach, als ein normaler Mensch, nicht als Dichter-Rilke. Es ist einer der schönsten und umfassendsten Briefe, die er geschrieben hat. Er schrieb einer Frau, die er noch nie gesehen hatte und die er kaum kannte, über seine Tochter, die er nur in der Zeit kennengelernt habe, als sie noch nicht sprach. Er schrieb, dass er etwas unfreiwillig Ehemann und Vater geworden sei. Er schrieb von seinem „natürlichen Einzeldasein“, von seiner „zum Letzten und Äußersten hingerissenen Einsamkeit“. Er schrieb von Paris, Rom, Venedig, der Provence, Spanien, Algier, Tunis, Ägypten, Orte, an denen er auch allein gewohnt habe. Aber, er wisse, er müsse ihr darüber nichts sagen, da sie ja die Elegien an ihrem „mitwissend anschlagenden Herzen“ habe. Von seinem Gesundheitszustand aber schrieb er nicht. Da begannen auch hier die Missverständnisse. Sie wollte ihn sehen, davor scheute der Kranke zurück.
Das ist der Anfang einer komplizierten Kommunikationsgeschichte aus Rücksichtnahme, Begehren, Liebe, Verletzlichkeit, Mitgefühl, Scham. Das Gespräch zwischen den drei Poeten ging noch eine ganze Zeit weiter. Es war alles andere als unmittelbar. Am Ende vergrübelte Pasternak sich diesen Sommer in der Hitze Moskaus. Zwetajewa schrieb an einem neuen Gedicht, „Gruß vom Meer“. Dieses Gedicht begann im Gedenken an Pasternak, dann geriet es unter den Einfluss von Rilke. Sie saß mit ihrem Notizbuch am Strand und fand immer neue Bilder für das Meer, für seine Gewalt, seine Unnahbarkeit. Es war ein großes Begegnen, Sprechen, Austauschen in ihr, Boris, das Meer, die Liebe, Rilke. Sie schrieb, auch wenn der kleine Murr auf ihr herumkrabbelte. Sie hatte die Kommunikation in sich hineinverlegt, da gelang sie.
Wir würden zu Rilke fahren.
Das hatte Pasternak ihr geschrieben. Sie antwortete:
Ich aber sage Dir, Rilke ist überlastet, er braucht nichts und niemanden, vor allem keine Kraft, die immer lockt: ablenkt. Rilke ist ein Einsiedler.
Das war wahr und wirkte doch taktisch, wie wenn sie Rilke für sich behalten wollte.
Er braucht mich nicht und Dich auch nicht.
Und doch wollte sie zu ihm, und doch erreichte auch sie Rilke am Ende nicht.
Das Gespräch ging über die große Entfernung hin und her, wie das Meer, mit Annäherungen und Distanzierungen. Am Ende sprach niemand mehr miteinander. Rilke starb Ende 1926 an Leukämie, Pasternak und Zwetajewa waren entzweit. Er versuchte zur Besinnung zu kommen, sie kämpfte, zurückgekehrt in Paris, den aussichtslosen Kampf ihres Lebens weiter. 1941 wird sie sich, dann in der Sowjetunion, dieses Leben nehmen. Pasternak, der letzte Überlebende des Dreiecks, wird 1958 einen Roman veröffentlichen, der ein Welterfolg wird und für den er den Nobelpreis bekommt, den er nicht annehmen darf. Zwei Jahre später wird auch er sterben.
Bleibt die Frage: Können wir von den drei Dichtern lernen? Am besten funktionierte die Kommunikation, wenn sie von sich erzählten. Sprachen sie über den anderen, schlich sich Misstrauen ein und sie redeten bald nur noch über die Missverständnisse, die sie selbst erzeugt hatten.
Es funktionierte, gerade durch die Entfernung, nur in Offenheit. Es ging nicht, wenn man nur einen Teil sagte. Wenn man etwas nicht sagte, merkten es die anderen. Sie mussten dabei die Entfernung mit einkalkulieren, die Dauer der Nachricht, die Umstände des anderen. Aber auch alles zu sagen war schwierig.
Liebe, eingebildet oder echt, machte die Kommunikation nicht einfacher. Begehren auch nicht. Rücksichtnahme und Scham ebenfalls nicht.
Es waren die Grundlagen der Kommunikation, die sie erlebten. Auch für uns geht es nun darum, die neuen Möglichkeiten zu erproben und mit Leben, unserem Leben, zu füllen. Es gilt den Moment zu nutzen: Was bedeutet es, was geschieht, wenn Menschen, wenn wir in Kontakt treten? Die drei Dichter wurden von widerstrebenden Bedürfnissen angetrieben: Sie wollten Einsamkeit, Ganz-sie-selbst-sein, als sie selbst wahrgenommen werden – und sie wollen intensive Vereinigung, absolute Kommunikation, vollständigen Austausch. Dieser Widerspruch ist, wenn wir Pasternak, Zwetajewa und Rilke folgen, die elementare Regel der Kommunikation.
Pasternak wusste nicht, wer er als Dichter war. Zwetajewa wusste genau, wer sie als Dichterin war, aber wusste nicht, wo sie hingehörte. Sie war aufgehoben im Gedicht, aber verloren in der Welt. Rilke, der beides ganz gut hinbekommen hatte, starb. Pasternak wollte Zwetajewa sehen und verhinderte es zugleich. Rilke wollte er auch sehen und schaffte es nicht, Kontakt zu ihm herzustellen. Mit Zwetajewa hätte er sich getraut, aber das wollte sie nicht. Sie wollte Rilke alleine sehen, aber darauf reagierte Rilke nicht, weil sie Pasternak ausschloss.
Das war das Schwerste: Nicht zu viel erwarten. Es ging um so besser, je weniger man vom anderen erwartete. Es war eine zehrende Erfahrung. Es war nicht das, was wir uns von Kultur wünschen, es spendete keinen Trost. Es war frustrierend. Trotzdem bleibt wahr: Ein intensiverer Austausch als zwischen den dreien ist letztendlich kaum denkbar, auch nicht mit Körpern und Kontakt.
Rainer Maria Rilke… dieser teure Name, der bisher einen Klang von Freude hatte, von süßer Hoffnung auf Begegnungen und köstlichen Gedankentausch, dieser für mich so reiche Name, das magische Wort, das engste Verbundenheit im Geiste und vollste Erfüllung bedeutete, Rainer Maria Rilke… dieser liebe Name, ist jäh und plötzlich durchdringender Schmerz, ein herzzerreißendes Gefühl geworden.
Teurer Rilke!… Ich sah in ihm, ich liebte in ihm den zartesten und geisterfülltesten Menschen dieser Welt, den Menschen, der am meisten heimgesucht war von all den wunderbaren Aengsten und allen Geheimnissen des Geistes. Dieses hier ist meine letzte Erinnerung an diesen Freund: Ich sah ihn zum letztenmal im Monat September an den rein gezeichneten Rändern des Genfer Sees. Er hatte mich in einem Park in Thonon aufgesucht. Niemals hatte ich ihn bei anscheinend so gutem Befinden gesehen, so fröhlich, so befriedigt von seiner Arbeit. Er sagte mir, er sei mit der Uebersetzung meines Narziß gerade fertig geworden, sei mit ihr zufrieden und hätte sie mit großer Freude einigen Freunden vorgelesen, die in einem Schlößchen in der Umgegend von Lausanne zusammengekommen seien, sie zu hören. Er faßte mich unter und führte mich sacht zu den großen Bäumen des Parks von Anthy. Er wollte mich über die Fortsetzung meines Narziß befragen, über den besonderen Sinn, den ich diesem Mythus gäbe… Ich sprach, und er nahm teil an meinen Worten, an meinem Unterfangen, für ihn allein existieren zu lassen, was noch nicht existierte und vielleicht niemals existieren wird, nahm teil, wie ein Dichter teilnimmt an sich selbst, wie jemand, der innen steht und selbst ringsum umdrängt ist von den Einfällen, Verführungen, Hemmungen, Erleuchtungen, Willensregungen, Entschließungen und Verzichten, von all dem, was das wahre innere Leben eines Gedichtes ausmacht.
Welch köstlicher Tag! Es wurde Zeit sich zu trennen. Schon von weitem kündigte das weiße Schiffchen sein Kommen an durch das Geräusch der Radschaufeln im großen Schweigen der Stille, es lief das Ufer an, nahm den Freund, entzog ihn uns, trennte ihn auf immer von unseren Händen, die ihn grüßten, unseren Augen, die ihm lächelten, unserem Geiste, der noch zwischen Frage und Antwort schwang, und es war nichts mehr da als ein wenig Schaum und ein verschwebender Rauch…
Aber all dies ist nur mein Verlust und meine persönliche Trauer. (Und es ist beinahe unnötig, von meiner Dankbarkeit für denjenigen zu sprechen, der jene bewunderungswürdige Uebersetzung meiner Werke unternommen hatte.) Ich muß etwas mehr sagen, Erheblicheres, Umfassenderes.
In der gedankenvollen Klausur seines Einsiedlerturmes von Muzot, wohin er sich nach vielfachem Schweifen aus Gründen der Gesundheit und aus Liebe zur Meditation eingeschlossen hatte, war Rilke allmählich unmerklich zum Bürger des intellektuellen Europas geworden. Diesen großen Poeten, einen der im edelsten Sinne ruhmreichsten Dichter der germanischen Welt, verband eine starke Wahlverwandtschaft mit der slawischen Rasse, er war ein tiefer Kenner Skandinaviens, und gegen den Westen hin stand er der französischen Kultur so nahe, daß ich ihn leicht verlocken konnte, Gedichte in unserer Sprache zu schreiben und zu veröffentlichen.
Ihn verloren zu haben, heißt: einen verloren haben, der in sich vereinte nicht nur die Fassungskraft, für alles Schönste, was Europa hervorgebracht hat, und die vertiefte Kenntnis der Reichtümer, die aus unserer Verschiedenheit kommen, sondern der auch die nahe, schon schöpferische Sensibilität besaß: Die Seele einer künftigen Zeit…
DER BINDFADEN
Rainer Maria Rilke gewidmet
Du bist der Zage, bist der Blasse,
Du bist der Nervigte und Krasse,
Du bist, der ohne Unterlasse
Dem Dienst der Völker sich geweiht.
Du bist der Hehre und Fürbasse,
Du bist der Ritter im Kürasse,
Du bist die feuchte Kaffeetasse
In dieser fingerwunden Zeit.
Du bist der Fluß und bist die Gasse,
Du bist der Blitzstrahl allem Hasse,
Der Sturm bist du, du bist die Masse,
Schwer schallt dein Bett, dein Fuß tritt breit.
Du bist die Klasse mit dem Basse,
Du bist das Walten und die Rasse,
Du bist Diogenes im Fasse
Von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Jakob van Hoddis und Erwin Loewenson
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