Nordic Noir, Irish Noir oder Country Noir – seit einigen Jahren werden Unterscheidungen im Noir getroffen, in denen die Handlungsorte den Namen geben und die Zusammengehörigkeit von Romanen oder Autoren ausgedrĂŒckt wird. Als Konstrukte können diese Begriffe zudem helfen, Gemeinsamkeiten und Tendenzen herauszuarbeiten. Bei Country Noir handelt es um eine Sammelbezeichnung fĂŒr vornehmlich US-amerikanische Literatur, die fernab großer Metropolen im amerikanischen Hinterland spielt. (Die Stadt muss im Noir als Handlungsort nicht mehr herausgestellt werden, deshalb wird dort nicht von Urban Noir gesprochen.) Die Schöpfung des Begriffs Country Noir wird Daniel Woodrell zugeschrieben, der seinen 1996 erschienenen Roman „Give us a kiss“ („Stoff ohne Ende“) mit ‚country noir‘ untertitelt hat – eigentlich um einer Einordnung als Genre-Autor zu umgehen, heute kĂ€mpft er indes gegen diese Kategorisierung an. Nachdem seine „Im SĂŒden“-Trilogie kommerziell nicht erfolgreich war, begann er mit diesem Roman ĂŒber die Ozark Mountains in Missouri zu schreiben, jener Welt, aus der er stammt und die er kennt. Dorthin kehrt in „Stoff ohne Ende“ auch Doyle Redmond – Hauptfigur und ErzĂ€hler – zurĂŒck und schon bald muss er seinen Bruder Smoke ĂŒberzeugen, sich der Polizei zu stellen. Aber die Redmonds sind nicht „die Art Familie, die ihre Leute so ohne weiteres in den Knast wandern lĂ€sst. Es gehört zu den UnverrĂŒckbarkeiten unseres Hillbilly-SelbstverstĂ€ndnisses, zu unserer Tradition und zu unserem angeborenen Verhalten, daß wir nicht vor der Staatsmacht kuschen.“

Familie, Gewalt und Obsessionen
Die Redmonds sind eine typische Woodrell- und – so lassen es uns seine BĂŒcher glauben – Ozark-Familie. Seit Generationen dort beheimatet, verdienen diese Familien ihr Geld mit dem Anbau von Marihuana oder Kochen von Crystal Meth und bringen sich in der Regel gegenseitig um. Die Zugehörigkeit zu der Familie bestimmt, wer Du bist. Deshalb ist Ree Dollys grĂ¶ĂŸter Trumpf bei der Suche nach ihrem vermissten Vater, dass sie eine Dolly ist, „bred and buttered“. Wenn sie mit der Frau des Mannes spricht, der ihr als einziger helfen könnte, eine Spur zu ihrem Vater zu bekommen, betont sie, dass sie gemeinsames Blut haben. Ohnehin sind es die Frauen, die in dieser Welt wichtige Entscheidungen treffen. Die MĂ€nner sind fĂŒr hingegen fĂŒr die Durchsetzung der Interessen und Gewalt zustĂ€ndig.

Woodrells Figuren leben in den Ozarks einer abgeschlossenen Gesellschaft, in der seit ungeschriebene Regeln gelten, die jeder kennt, ĂŒber die aber nicht gesprochen werden muss. Ähnliches findet sich unter anderem in Knockemstiff, Ohio und im sĂŒdlichen Indiana, Handlungsorte von Donald Ray Pollocks und Frank Bills BĂŒchern. Auch bei ihnen gibt es enge Bande mit der Familie, die Herkunft, bittere Armut und nackte Gewalt bestimmen das Leben. Sie erzĂ€hlen wie Bonnie Jo Campbell, Denis Johnson oder Larry Brown von den ruralen Leben in den rauen und armen Regionen der USA, in der es keine Hoffnung oder TrĂ€ume mehr gibt. Diese Landstriche wurden vergessen von der neoliberalen Wirtschaftspolitik, dem Niedergang von Industrie und Landwirtschaft wurde nichts entgegengesetzt. Stattdessen grenzen sie sich durch Gewalt, Religion oder Obsessionen ab. Es ist Parallelgesellschaften voller Unmittelbarkeit – in der Gewalt, der Natur und der Aussichtslosigkeit. Das Leben wird von Arbeitslosigkeit und Gleichförmigkeit bestimmt, Ablenkung bringen Drogen und HundekĂ€mpfe. Hier werden die Menschen nicht von raffinierten TĂ€tern ausgefeilt zu Tode gefoltert, sondern gehen mit Schrotflinten und FĂ€usten aufeinander los und der Überlebende versenkt die Leiche in einem nahegelegenen GewĂ€sser.

VorlÀufer und Nachkommen
Die Protagonisten im Country Noir werden durch ihre soziale Klasse definiert und leben in einem untergehenden, engen Milieu. Manche wollen das Leben dort hinter sich lassen, aber die Angst vor dem Unbekannten hĂ€lt sie oftmals zurĂŒck. Deshalb bleibt der Herumtreiber Sammy in Woodrells „Tomato Red“ in der fiktiven Stadt West Table in Missouri – und auch der nette Hank weiß in Pollocks in Kurzgeschichtensammlung „Knockemstiff“, dass er diese Stadt niemals verlassen wird. Andere Figuren denken ĂŒberhaupt nicht daran, dass an einem Ort ein anderes Leben warten könnte. Sie haben keine große Fallhöhe, nicht viel zu verlieren. Deshalb ist ihr Scheitern oftmals noch brutaler.

In den Romane des Country Noirs finden sich Spuren der Werke des Southern Gothic, von Flannery O’Connor, Mark Twain, William Faulkner und dem frĂŒhen Cormac McCarthy, aber auch Jim Thompson, der bereits in „Der Mörder in mir“ von Gewalt, Religion und Besessenheit in der amerikanischen Provinz erzĂ€hlte. Vor allem aber widersprechen die dĂŒsteren Geschichten des Country Noir dem amerikanischen Credo des Strebens nach Selbstverwirklichung und sozialem Aufstieg. Deshalb haftet ihnen etwas Existenzialistisches an. Dabei erweist sich Country Noir als flexibler, durchlĂ€ssiger Begriff, so können die Romane Joe R. Lansdales als Country Noir oder Backwood gesehen werden, und ist Urban Waites „WĂŒste der Toten“ ebenso Western wie Country Noir.

Exkurs: Country Noir im Film
Die Konzentration auf lĂ€ndliche, verarmte Gegenden lĂ€sst sich seit den 2000er Jahren auch im US-amerikanischen Independentfilmen wiederfinden, in denen die Filmemacher verstĂ€rkt an bisher wenig bekannten Orten drehen und damit neue Landschaften im Kino etablieren. Dazu gehören u.a. Debra Garniks Verfilmung von Woodrells „Winters Knochen“, Kelly Reichardts „Wendy und Lucy“ und Filme wie „Passenger Pigeons“, „Frozen River“, „Mud“ und Joe“. Sie widmen sich den VerhĂ€ltnissen von Zivilisation und Wildnis, von Mensch und Natur, dabei werden die Figuren oft von ökonomischen ZwĂ€ngen vorangetrieben, ohne dass mit dem Film ein didaktisches BemĂŒhen verbunden ist. In der Bildsprache orientieren sich diese Filme an der Tradition des neorealistischen europĂ€ischen Kinos und schaffen damit ein Bild dieser Lebensweise, das eng in der RealitĂ€t bleiben will und dadurch AuthentizitĂ€t suggeriert.

Die Jagd nach Eichhörnchen, die Betonung landschaftlicher Naturgewalten und leicht ĂŒberbelichtete Aufnahmen von verlassenen FarmhĂ€usern, brachliegenden Feldern und heruntergekommenen Trailerparks werden immer mehr zu Topoi und Motiven in Filmen, die von einem Leben in Armut erzĂ€hlen. Hinzu kommen die ErzĂ€hlmuster des Country Noir, die in Filmen und Serien wie bspw. „Justified“ aufgegriffen und gefestigt werden. Aus den Bildern und narrativen Elementen entsteht auf diese Weise eine Ă€sthetische ReprĂ€sentation des armen Lebens im Hinterland. (Die Durchsetzung des hinterwĂ€ldlerischen Crystal-Meth-Kochers mit schlechten ZĂ€hnen als stereotype Figur wird allenfalls noch von „Breaking Bad’s“ Walter White behindert.)

Romantik und RealitÀt
Die Hinwendung zu entlegenen Handlungsorten bedient immer auch eine romantisch-verklĂ€rte Sehnsucht nach einem vermeintlich einfachen Leben in der Natur. Die Autoren des Country Noir bewahren sich eine Distanz zu der Gesellschaft und fĂŒhren ihre Leser zu den dunklen Orten der Vereinigten Staaten, an denen ihre Protagonisten ohne besondere FĂ€higkeiten oder Ausbildung mit Gewalt und Verbrechen konfrontiert werden. Auf diese Weise deuten sie auf die moralischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme einer ganzen Gesellschaft – und zeigen zudem ein bemerkenswertes VerstĂ€ndnis fĂŒr die Menschheit, fĂŒr ihre Fehler, ihre BetrĂŒgereien, zerstörten TrĂ€ume und verlorenen Hoffnungen.

Sonja Hartl (c) 04/2015

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