Wyatt, Garry Disher und das Schreiben
von Sonja HartlWyatt ist ein Berufsverbrecher der alten Schule. FrĂŒher haben ihm zwei, drei groĂe Jobs gereicht â ĂberfĂ€lle auf Geldtransporter oder Banken â, damit er den Rest des Jahres von den Einnahmen leben konnte. Sobald das Geld knapp wurde, hat er die nĂ€chste Sache geplant, immer mit Profis zusammen, keine âSĂŒchtigen, FreigĂ€nger, Cowboysâ (Gier). Doch die Zeiten Ă€ndern sich, die SicherheitsmaĂnahmen sind immer technisierter und Wyatt muss sich auf kleinere AuftrĂ€ge einlassen. Bei einem solchen Routine-Auftragsjob lernt der Leser ihn im ersten Teil âGierâ kennen. Von Anfang an wirkt Wyatt ruhig, er erweist sich als âkalt, sorgfĂ€ltig, aufmerksam und rĂŒcksichtslos, wenn er in Gefahr ist oder hintergangen wirdâ, beschreibt ihn Garry Disher im GesprĂ€ch. Aber wie in den folgenden Romanen werden es in âGierâ seine Komplizen sein, die ihm Ărger einbringen. Hier ist es Sugarfoot Younger, der die Nerven verliert und dank seiner irrlichternden SelbstĂŒberschĂ€tzung einen Schlamassel in Gang setzt, der Wyatt bis in den vierten Teil âWillkĂŒrâ verfolgen wird.
Die Wyatt-Romane beginnen in den frĂŒheren 1990er Jahren und sind eine deutliche Hommage an Richard Starks Parker-Romane. Wie Parker hat Wyatt keinen Vornamen und ist ein routinierter Berufsverbrecher, der rational handelt und rĂ€tselhaft bleibt. Wyatt betreibt keine Introspektion und interessiert sich nicht fĂŒr Vergangenes, solange es seine Arbeit nicht betrifft. âAls Leser treffe ich gerne nuancierte Charaktere, und als Schriftsteller entwickle ich sie gerne. Wenn wir die Figuren kennenlernen können, tauchen wir tiefer in die Geschichte ein â sogar, wenn wir sie nicht mögen. Wenn ich mich nicht genug fĂŒr einen Charakter interessiere, um ihm Tiefe zu geben, warum sollte es der Leser tun? Und wenn er sich nicht fĂŒr ihn interessiert, warum sollten er dann meine BĂŒcher lesen? Und wenn ich mich nicht ausreichend interessiere, warum sollte ich dann Romane schreiben? NatĂŒrlich weiĂ ich, dass es auf Wyatts Charakterisierung nicht ganz zutrifft, aber in den Wyatt-BĂŒchern nehme ich mir Zeit, die kleineren Charaktere zu erforschen, sie lebendig werden zu lassen. Und selbst wenn Wyatt ein RĂ€tsel bleibt, ist er auf den Seiten doch sehr real.â Dabei ist es wichtig, dass die Leser nicht zu viel von Wyatt erfahren und sich zu sehr in ihn einfĂŒhlen, ansonsten wĂŒrden sie beginnen, sich mehr Gedanken um seine GefĂŒhle zu machen als um die Frage, wie er aus diesem Schlamassel herauskommt.
Es ist nicht nur die Figur Wyatt, die an Parker erinnert, die Romane stecken voller Referenzen an Starkes Romane: in den ersten vier BĂ€nden bekommt es Wyatt mit der Verbrecherorganisation âOutfitâ zu tun, in âDirty Old Townâ heiĂt seine Komplizin Lydia Starke, versteckt er sich bei den Westlake-Towers und nutzt den Namen Parker, um einen lĂ€ngeren Aufenthalt im GefĂ€ngnis zu entgehen. Dabei hat Disher niemals einen Hehl aus der NĂ€he gemacht: âIch habe alle Parker-Romane frĂŒh in meiner Schreibkarriere gelesen und wollte herausfinden, was ich mit einem cleveren Kriminellen als Hauptfigur anstellen kann. Ich wollte die Parker-Romane natĂŒrlich nicht kopieren, sondern meine eigene Herangehensweise entwickeln. Ich glaube, dass Wyatt ein reichhaltigerer Charakter als Parker ist, auĂerdem ist auch mein Plot dichter und sind die Nebencharaktere stĂ€rker entwickeltâ, erzĂ€hlt Disher. TatsĂ€chlich gibt es feine Unterschiede zwischen Wyatt und Parker (denen im Netz nachgespĂŒrt wird), so empfindet Wyatt in âPort Vila Bluesâ Gewissensbisse. AuĂerdem sind die Nebenfiguren in den Wyatt-Romanen zwar meist nur knapp charakterisiert, aber Ă€uĂerst lebendig und authentisch.
Vom Plot zum Stil
In seinen Kriminalromanen beweist Garry Disher ein GespĂŒr fĂŒr den Schauplatz. âFrĂŒh in meiner Karriere hat eine erfahrene Kollegin eine meiner Kurzgeschichten gelesen und gesagt, dass sie nicht zweifle, dass die Welt der Geschichte lebendig in meinem Kopf sei, aber auf der Seite sei sie sehr vage. Dann hat sie mir gezeigt, wie ich die Sinne des Lesers anspreche, wenn ich Menschen und Orte beschreibe. Manchmal braucht man dafĂŒr nur ein kleines, ĂŒberraschendes Detail wie beispielsweise eine kleine Eidechse, die Wyatt sieht, als er sich in âDreckâ versteckt. Bevor ich eine Szene sehen, muss ich in der Lage sein, sie zu sehen, hören, schmecken, berĂŒhren oder zu probieren. Ist es Licht klar oder neblig? Ist Rauch in der Luft? Kann man den Freeway hören? FĂŒhlt sich der Grabstein kalt, nass, moosig oder warm an?â Zudem nimmt er sich ausreichend Zeit, seine Plots zu entwickeln â sowohl die RaubĂŒberfallszenarien fĂŒr Wyatt als auch die KriminalfĂ€lle in den Romanen um die Polizisten Hal Challis und Ellen Destry. âIch bin bequem und recherchiere erst, wenn es ein wichtiges Detail ist â zum Beispiel musste ich letzte Woche wissen, ob es in Bali Moscheen gibt. Aber ich habe viele dicke Akten mit Zeitungsausschnitten und Notizen zu allen möglichen Themen: forensische Fehler, polizeiliche Korruption, Menschenhandel, Gift, Waffen und so weiter. Einen groĂen Teil werde ich davon gar nicht oder nicht in allen Einzelheiten nutzen, aber das Material hilft mir, die Welten zu bereichern, ĂŒber die ich in meinen BĂŒchern schreibe.â Erst danach beginnt Garry Disher zu planen. âManche Kollegen sagen, sie planen nicht. Aber ich bin ein Planer. Ich beginne mit den drei Hauptteilen (set-up, complication, resolution), jeder wird in mehrere Kapitel unterteilt. Um auszuarbeiten, was in ihnen geschieht, frage ich: was muss hier geschehen? Wer ist involviert? Wann? Wo? Unbewusst nutze ich einige âTricksâ der Krimiautoren: lĂŒckenhafte oder zweifelhafte Ergebnisse, Verzögerungs- oder Hinhaltetaktiken, plötzliche Wendungen, verborgene Geheimnisse, die aufgedeckt werden, und falsche FĂ€hrten, die ich auslege. Hier will ich Charles Dickens meine Ehre erweisen, der sagte âMake âem laugh, make âem cry, make âem wait.â Der Leser will Antworten, er will sie sofort, aber ich muss ihn hinhalten. SchlieĂlich hat mir ein hervorragender Lektor frĂŒh in meiner Karriere gezeigt, wie die Handlung durch bestimmte Faktoren wie das Klima, die Jahreszeiten, die Tageszeit oder physische BeeintrĂ€chtigungen beeinflusst wird. Wenn beispielsweise Inspector Challis von Melbourne am Freitag um 17 Uhr nach Hause fĂ€hrt, fĂ€hrt er zur Hauptverkehrszeit und gerĂ€t in den Wochenendverkehr, so dass er lĂ€nger braucht als sonst. Und wenn die lokale Zeitung nur einmal in der Woche erscheint, wie will sie an einer lokalen Verbrechensgeschichte bleiben? Auch ist die Sicht auf einer unbeleuchteten LandstraĂe um 18 Uhr mitten im Winter anders als zur gleichen Zeit im Sommer.â
Garry Disher verbringt Wochen mit der Planung, âbis ich die ganze Geschichte in meinem Kopf habe. Aber ich habe auch gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen, wenn sie mich beim Schreiben von dem Plan wegfĂŒhren. Es ist ein Balanceakt zwischen den Erfordernissen des Plots und der Charaktere.â Dabei versucht er, den richtigen Stil zu finden. âIn jeder Art des fiktionalen Schreibens sollte der Stil dem Thema, den Charakteren und der Stimmung in der Szene entsprechen. Wenn zwei Liebende Hand in Hand einen Strand entlanggehen, sollte man nicht kurze, abgehackte SĂ€tze schreiben, sondern lĂ€ngere, langsamere. Ebenso passen lange SĂ€tze nicht zu einer Verfolgungsjagd oder SchieĂerei. Aber ich erkenne auch meine frĂŒhe Karriere an, in der ich Kurzgeschichten geschrieben habe, die Ăkonomie, Klarheit und KĂŒrze erfordern.â Deshalb werden in der Wyatt-Reihe die Coups in klarer, prĂ€ziser Prosa geschildert, bleibt die Perspektive nahe beim Protagonisten, wĂ€hrend bspw. in den Challis-Destry-Romanen mehrere StrĂ€nge und Sichtweisen miteinander verwoben werden.
Gangstermythos
In den Wyatt-Romanen betont Disher die Freiheit, die ein Gangsterleben mit sich bringen kann. Lange Jahre genoss Wyatt seine UnabhĂ€ngigkeit, nun bedauert er, dass er gezwungen ist, viele kleine Jobs zu machen, die ihn lĂ€nger an einem Ort festhalten. Damit ist er nicht allein: Obwohl zwei Gauner in âPort Vila Bluesâ mit verlĂ€sslichen AuftrĂ€gen gutes Geld verdienen, sind sie unzufrieden â sie vermissen die Freiheit und Selbstbestimmung, die mit einem Gangsterleben einhergehen. Vielleicht ist es sogar der Freiheitsdrang, der Wyatt hierzulande eine treue Fangemeinde eingebracht hat: âEin deutscher Wissenschaftler sagte einmal zu mir, dass die Deutschen Wyatt möge, weil sie von Natur aus konservativ, traditionell und gesetzestreu sind und in einer sehr regulierten Gesellschaft leben, deshalb bewundern sie Wyatt, seine Freiheit und sein subversives Verhalten. Sie wĂ€ren gerne wie Wyatt. Ich weiĂ aber nicht, ob das stimmt …â, erzĂ€hlt Disher.
Bei aller VergnĂŒglichkeit und allem Gangster-Charme sind die Wyatt-Romane aber auch ein Kommentar auf die heutige Gesellschaft. Wenn Wyatt in âDirty Old Townâ einem Hafenmeister 75 000 Dollar abnehmen will, wĂ€hrend in London einem Bankenkurier von einer organisierten Bande Wertpapiere fĂŒr 200 Millionen Pfund gestohlen werden, werden sowohl Wyatts Anachronismus, seine Schwierigkeiten mit der Gegenwart und seine Ehrhaftigkeit als auch Gier und Verrat als Kennzeichen der modernen Gesellschaft auf den Punkt gebracht. Deshalb kann man in dem Gangster â wie bspw. Christopher Moore in Parker â den CEO erkennen, man kann in ihm aber auch ein romantisiertes Ăberbleibsel in einer regulierten Welt sehen.
Die Wyatt-Romane sind bei Pulp Master, die Reihe um Hal Challis und Ellen Destry ist bei metro im Unionsverlag erschienen.
Sonja Hartl (c) 01/2016