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Kracauer, Siegfried

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Viereck Sabine Biebl, 2004

 

 

Biographie
Veröffentlichungen
Nachlaß
Literatur
Siegfried Kracauer, 1930

Bild: Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft (1930).

 

 

Biographie

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Kindheit und Jugend in Frankfurt: 1889-1915

Siegfried Kracauer, geboren 1889 in Frankfurt am Main, entstammt einem kleinbürgerlichen jüdischen Elternhaus. Sein Vater, Adolf Kracauer (geb. 16.3.1849 in Sagan), hatte zu Gunsten seines jüngeren Bruders auf ein Studium verzichtet und einen praktischen Beruf ergriffen; er war als Handlungsreisender vornehmlich für Textilfirmen unterwegs. Um den engen Verhältnissen daheim, allein mit seiner Mutter Rosette Kracauer (geb. Oppenheimer, 2.4.1867) zu entkommen, verbringt Kracauer, der schüchtern war und unter seinem Stottern litt, einen Großteil seiner Kindheit und Jugend im Haus seines Onkels Isidor und seiner Tante Hedwig Kracauer. Der Onkel war Geschichtslehrer am Philanthropin, der liberalen Realschule der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt; gemeinsam mit seiner Frau Hedwig leitete er seit 1885 auch die Julius und Amalie Flesheim'sche Stifung, eine Anstalt zur Erziehung verwaister jüdischer Knaben. Im Hause seiner Verwandten herrschte ein reges soziales Leben, denn die Tante scharte um sich einen Kreis von Freunden und Bekannten aus dem Frankfurter Bürgertum.
Nach Abschluß der Realschule beginnt Kracauer 1907 sein Architekturstudium in Darmstadt, wechselt Januar 1908 nach Berlin und Ende des Jahres nach München, wo er 1911 sein Diplom ablegt.
Diese frühen Studienjahre sind begleitet von intensiver Lektüre. Neben zeitgenössischer Belletristik und Sachliteratur liest Kracauer Dostojewski und Nietzsche; mit einem Freund arbeitet er sich in Kant ein. Theater- und Ausstellungsbesuche gehören auch zu Kracauers Bildungsprogramm.
In dieser Zeit entstehen auch seine ersten schriftstellerischen Versuche: 1906 erscheint als erster Artikel Kracauers »Ein Abend im Hochgebirge« im Feuilleton der Frankfurter Zeitung (FZ). Seine Novelle «Frühlingsfest» versuchte er 1907 allerdings vergeblich bei der FZ unterzubringen. 1913 entsteht die zu Lebzeiten ebenfalls unveröffentlicht gebliebene Novelle «Die Gnade».
Parallel zur Arbeit an der Dissertation über Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Kracauer nach dem Diplom beginnt, ist er in Architekturbüros in München und Frankfurt tätig. Seine Doktor-Prüfung legt er am 16.7.1914 ab.
Den Kriegsbeginn wird Kracauer mit ähnlicher Begeisterung für den Aufbruch begrüßt haben, wie viele seiner jugendlichen Zeitgenossen. Unmittelbar Zeugnisse aus der Zeit sind nicht erhalten; seine erste größere Veröffentlichung in den Preußischen Jahrbüchern »Vom Erleben des Kriegs« jedoch zeugt von dieser, ins Subjektive gewendeten Stimmung.

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Philosophie und Brotberuf: 1915-1921

Von 1915 bis zu seiner Einberufung 1917 arbeitet Kracauer bei dem Frankfurter Architekten Max Seckbach, für den er u.a. erfolgreich einen Wettbewerbsentwurf für einen Soldaten-Ehrenfriedhof in Frankfurt a.M. erarbeitet. Neben seinem Brotberuf beschäftigt ihn die Arbeit an kleineren philosophischen Abhandlungen, die er auch Max Scheler, zu dem er in Frankfurt Kontakt aufgenommen hat, schickt; Scheler kommentiert die kleineren Arbeiten meist wohlwollend.
Im September 1917 wird Kracauer zum Militärdienst einberufen. Er kommt zur Fußartillerie nach Mainz, wird jedoch schon bald als arbeitsverwendungsfähig nach Hause entlassen. Wieder in Frankfurt intensiviert er den Kontakt zu Georg Simmel, bei dem er während seiner Berliner Studienzeit Vorlesungen gehört hatte.
Die Nachkriegszeit ist auch für die Familie Kracauer von finanzieller Not geprägt. Zur allgemeinen schwierigen Lage tritt der Tod des Vaters am 10.7.1918. Kracauer ist auf Stellensuche, da ihn sein alter Arbeitgeber nur mehr zeitweise beschäftigen kann. Er reicht einen Beitrag für das Preisausschreiben der Moritz-Manheimer-Stiftung zum Thema »Sind Menschenliebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit an eine bestimmte Staatsform geknüpft, und welche Staatsform gibt die beste Gewähr für ihre Durchführung«, ein, der aber abgelehnt wird. Außerdem verfaßt er eine Monographie über seinen Lehrer »Georg Simmel. Ein Beitrag zur Deutung des geistigen Lebens unserer Zeit«, deren erstes Kapitel, 1920 in der Zeitschrift Logos erscheint; mehrere Publikationsversuche des Buches scheiterten nicht zuletzt an der Papierknappheit der Nachkriegsjahre.
In dieser Zeit beginnt sich zwischen Kracauer und Theodor Wiesengrund Adorno eine lebenslange aber keineswegs problemlose Freundschaft zu entwickeln. Beide waren sich in Frankfurt im Haus einer gemeinsamen Bekannten vorgestellt worden. Ebenfalls in Frankfurt lernt Kracauer Leo Löwenthal kennen.

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Als Redakteur bei der Frankfurter Zeitung: 1921-1933

Nachdem er bereits einzelne Aufsätze bei der FZ unterbringen konnte, erhält er ab 1921 regelmäßiger Aufträge als Lokalreporter und wird im Sommer des Jahres als fester Mitarbeiter mit Jahresgehalt eingestellt. Er berichtet von lokalen und regionalen Ereignissen, wie Ausstellungen, Messen, Tagungen, schreibt Vortragsberichte und vereinzelt Buchrezensionen. Ein wichtiges Thema ist für ihn in dieser Zeit die kritische, mitunter scharfe Auseinandersetzung mit der religiösen Erneuerungsbewegung, wie sie Max Scheler, Franz Rosenzweig, Martin Buber und Ernst Bloch anstrebten. U.a. zu Martin Buber und Ernst Bloch, mit dem er sich vorübergehend aufgrund von Kacauers negativen Rezension von Blochs Thomas Münzer als Theologe der Revolution überwirft, unterhält er auch persönlichen Kontakt.
Im Herbst 1922 erscheint Kracauers Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, an der Kracauer seit 1920 gearbeitet hat. Im Oktober 1923 beginnt er mit der »Metaphysik des Detektivromans«.
1924 wechselt die Leitung des Feuilletons der FZ. Unter Benno Reifenberg ist Kracauers Position als Redakteur gestärkt, er wird offizieller Vollredakteur und kann die Lokalberichterstattung weitgehend abgeben. Einen immer wichtigeren Stellenwert in Kracauers journalistischer Tätigkeit nimmt in diesen Jahren das noch junge Zeitungs-Ressort Filmkritik ein, für das Kracauer zuständig ist. Durch die Auseinandersetzung mit dem Medium Film schult er seinen Blick auf Zeit und Gesellschaft und entwickelt über sie seine Soziologie und Kulturtheorie der Moderne.
Seit Ende 1925 arbeitet Kracauer an seinem mit starken autobiographischen Zügen versehenen Roman Ginster, der schon im Entstehungszustand sehr positive Kritiken von Freunden - u.a. Ernst Bloch und Walter Benjamin - erhält. Im April 1928 werden Fragmente aus Ginster im Vorabdruck in der FZ veröffentlich; auf Bemühen Joseph Roths erscheint der Roman Ende 1928 im Fischer Verlag, Berlin.
Ende 1925 lernte Kracauer Elisabeth (Lili) Ehrenreich kennen, die er am 5.3.1930 heiratet. Elisabeth Ehrenreich, die in Straßburg und Leipzig Musik, Kunstgeschichte und Philologie studiert hatte, war seit dessen Gründung im Juni 1924 Bibliothekarin am Frankfurter Institut für Sozialforschung.
- Im Juli 1927 veröffentlicht Kracauer in der FZ seinen Aufsatz »Das Ornament der Masse« - Oktober 1927 den Essay »Die Photographie« -
Kracauer löst ab April 1929 vorübergehend Bernard von Brentano als Feuilleton-Redakteur der FZ in Berlin ab. Er beginnt in diesen Monaten (bis Mitte Juli 1929) mit den Recherchen zu seiner Sozialstudie: Die Angestellten, die er im Oktober des Jahres fertig stellt. Da es in der FZ Widerstand gegen eine Veröffentlichung der Angestellten in der Zeitung gibt, setzt sich Reifenberg persönlich bei Heinrich Simon, dem Verlagschef dafür ein, mit dem Ergebnis, dass die Studie in 12 Folgen von Dezember bis Januar 1930 in der FZ erscheint. Sie löst begeisterte Reaktionen aus. Im Januar 1930 folgt die Buchpublikation im Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei. Kracauer arbeitet zu dieser Zeit bereits wieder an seinem zweiten Roman, der später den Titel Georg erhält.
Ab April 1930 bis Februar 1933 übernimmt Kracauer die Berliner Redaktion der FZ, in der sich spätestens seit 1930 der politische Kurswechsel bemerkbar macht: Redakteure kündigen, werden gekündigt oder durch ständige Gehaltskürzungen zum Gehen gezwungen. Auch Kracauer legt man nahe, nachdem sein Gehalt um die Hälfte gekürzt worden war, sich zumindest einen Nebenerwerb zu suchen. Seine zunehmend schärfer werdenden Analysen und Prognosen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung im Land stoßen auf immer mehr Widerstand innerhalb und außerhalb der FZ. Heinrich Simon plant Kracauer als Korrespondent in Paris einzusetzen. Als sich die Situation mit dem Reichstagsbrand am 27. Februar dramatisch zuspitzt, warnt er Kracauer und schickt ihn auf »Arbeitsurlaub« nach Paris. Einen Tag später verlassen Lili und Siegfried Kracauer ohne Ersparnisse und größeres Gepäck Berlin. Lili fährt direkt nach Paris, Kracauer folgt ihr nach einer Zwischenstation in Frankfurt nach.

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Exil in Frankreich: 1933-1941

Bereits einen Monat nach seiner Ankunft in Paris im März 1933 wird Kracauer nahegelegt, sich eine andere Existenz zu suchen; im August nimmt der Verlag der FZ Kracauers Rezension von André Malraux Roman »La condition humaine« in der Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch zum Anlaß für die offizielle Kündigung. Kracauer wird eine geringe Abfindung gewährt, er kämpft um die Auszahlung seiner Redakteursversicherung.
Unterdessen erscheint die französische Ausgabe seines Romans Ginster bei Gallimard.
Ständig am Rande des Existenzminimums lebend setzt Kracauer seine Hoffnung auf den Erfolg seines zweiten Romans Georg, der die gesellschaftliche Situation während der Weimarer Republik und die Vorgänge bei der Frankfurter Zeitung behandelt; die Arbeiten daran schließt er im Oktober 1934 ab. Jedoch scheitern sämtliche der zahlreichen Versuche, ihn bei deutschsprachigen oder ausländischen Verlagen unterzubringen.
Bekannte und Freunde versuchen, Arbeitsaufträge für Zeitschriften zu vermitteln oder wenigsten finanzielle Beihilfen vor allem durch amerikanische Institutionen zu organisieren. Kracauer nimmt unmittelbar, nachdem Georg abgeschlossen ist, die Arbeit an einem neuen Buchprojekt über Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit auf. Er hofft, sich damit in Frankreich als Spezialist einen Namen zu machen. Das Buch entsteht unter enormen Zeitdruck. Die französische Ausgabe erscheint 1937 bei Grasset, die deutsche Ausgabe bringt im selben Jahr Allert de Lange heraus, jedoch verkauft sich das Buch nicht gut.
Auf Vermittlung von Adorno verfasst Kracauer 1937 für die Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung einen Aufsatz über »Masse und Propaganda«. Der Artikel soll mit erheblichen redaktionellen Kürzungen und inhaltlichen Eingriffen erscheinen, weshalb Kracauer die Veröffentlichung in dieser Form verbietet. Beinahe regelmäßig berichtet er für die Neue Zürcher Zeitung und die Basler National-Zeitung vornehmlich über neue Filme.
Auf Anraten von Max Horkheimer bewirbt sich Kracauer bei der Film Library des New Yorker Museum of Modern Art um eine Projektstelle. Es geht darum, »den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland und der Filmkunst« (Horkheimer an Kracauer, 3.5.1937) anhand des reichhaltigen Filmmaterials der Bibliothek zu untersuchen. Den weiteren Kontakt zwischen Kracauer und der Film Library in New York vermittelt im folgenden der Kunstwissenschaftler Meyer Schapiro. Von John E. Abbott, den Direktor der Film Library, erhält Kracauer schließlich die Zusage für eine Stelle als special research assistant in der Film Library des MOMA. Beide hatten sich bereits anläßlich einer Ausstellung im Juli 1938 in Paris getroffen.
Der Leiter der deutschen Verlagsabteilung von Allert de Lange, Walter Landauer, der sich begeistert für die deutsche Ausgabe des Offenbach eingesetzt hat, zeigt sich auch interessiert an einem Film-Buch-Projekt Kracauers, über das beide ein Vertrag abschließen (Ablieferungstermin für das Manuskript: 1.10.1939).
Freunde und Bekannte (Friedrich Pollock, mit Horkheimer Leiter des Instituts für Sozialforschung, Leo Löwenthal, Thomas Mann, Meyer Schapiro, das Ehepaar Krautheimer) engagieren sich unterdessen für die Einwanderung der Kracauers in die USA, die sich nicht zuletzt schwierig gestaltet, da die Quote für deutsche Einwanderer stets überfüllt ist. Auch ist die Finanzierung des Forschungsprojektes an der Library lange Zeit nicht gesichert. Kracauer bemüht sich gleichzeitig, seiner Mutter und seiner Tante Hedwig die Übersiedlung nach Frankreich zu ermöglichen.
Von September bis November 1939 wird Kracauer interniert, aufgrund von Ehrenerklärungen von Freunden und Bekannten aber wieder freigelassen. Auch die Formalitäten für eine Einwanderungsgenehmigung bedeuten eine schwer überwindliche Hürde; denn Bürgschaften müssen geleistet werden, laufen aus, werden erneuert; die Kosten für die Überfahrt müssen beglichen, Akten übermittelt werden. Viel Post, und vor allem das in ihr übersendete Geld gehen verloren.
Ende August erhalten Lili und Siegfried Kracauer, die inzwischen nach Marseille (seit Juni 1939) ausreisen durften, Immigrations-Visa für die USA. Eine Ausreise ist jedoch nur über den einzigen freien Ausgangshafen Lissabon möglich. Um diesen zu erreichen, muß das faschistische Spanien durchquert werden, das jedoch seit September für »Staatenlose« gesperrt ist. Bis zur Ausreise nach Lissabon und schließlich zur Überfahrt in die USA vergehen für die Kracauers quälende, lebensbedrohliche Monate und Jahre. Nur mit der unermüdlichen Hilfe der Freunde in den USA gelingt es, die sich immer wieder auftürmenden bürokratischen Schranken zu passieren oder zu umgehen. In dieser Zeit arbeitet Kracauer weiter an seinem Film-Buch. In drei Notizheften entsteht in der Marseiller-Zeit der erste Entwurf zur Theorie des Films. Persönlichen Kontakt hat er in Marseille nur zu Walter Benjamin.
28.2.1941 Ankunft in Portugal - 15.4.1941 Abreise von Lissabon nach New York - 25.4.1941 Ankunft in New York.

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Exil und Neubeginn in den USA: 1941-1966

Die ersten Monate nach der Ankunft sind bestimmt von der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, Arbeit und dem Wiederaufbau eines »social life« - u.a. Kontakt zu Gertrud und Hans Speier, dem Ethnologen Herbert Levin und dem Regisseur Fritz Lang. Daneben die dauernde Angst um das Schicksal der Mutter und Tante in Frankfurt, die im August 1942 nach Polen oder Theresienstadt deportiert werden.
Von der Rockefeller Foundation erhält Kracauer zunächst ein zweimonatiges Stipendium, das ihm die Weiterarbeit an seinem Forschungsprojekt zur Geschichte des Deutschen Films ermöglicht. Daneben erarbeitet er mit dem Kameramann Eugen Schüfftan ein Exposé für eine »Offenbach-Film«, das allerdings nicht verwirklicht wird. Die Rockefeller Foundation finanziert schließlich seine Stelle als special assistant der Kuratorin an der Film Library, Iris Barry, für insgesamt zwei Jahre. Im Juni 1942 schließt Kracauer seine Studie »Propaganda and the Nazi War Film« ab, arbeitet aber weiter an dem Projekt eines Buchs über den deutschen Film. Die John Simon Guggenheim Memorial Foundation in New York gewährt ihm ein Stipendium bis zur Fertigstellung des Buches. Auf Vermittlung des Kunsthistorikers Erwin Panowsky erscheint es 1947 unter dem Titel From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film bei der Princeton University Press.
Daneben beschäftigt ihn eine Auftragsarbeit für die Experimental Division für the Study of War Time Communications, Washington D.C., »The Conquest of Europe on the Screen - The Nazi Newsreel 1939-1940«, die nur in einem ausgewählten internen Kreis veröffentlicht wird.
Nach Ablauf des Stipendiums der Guggenheim Foundation schlägt sich Kracauer als freier Schriftsteller mit Beiträgen für verschiedene Zeitschriften durch, u.a. Commentary, New Republic, Harper's Magazine, New York Times Book Review. Eine weitere Auftragsarbeit für die UNESCO erscheint 1949 unter dem Titel »National Types as Hollywood Presents Them« (Public Opinion Quarterly 13 (Frühjahr 1949), Nr. 1, S. 53-72). Lili Kracauer arbeitet seit Ende 1948 bei der USNA (United Service for New Americans), einer Organisation, die jüdische Immigranten bei ihrem Neuanfang in den USA unterstützt.
Anfang 1949 erhält Kracauer von der Bollingen Foundation ein Stipendium für sein Filmästhetik. Ein Vertrag über die Veröffentlichung kommt mit der Oxford University Press zustande. Außerdem verfaßt er zwischen 1950 und 1952 immer wieder aufwendige Auftragsarbeiten für die Voice of America (Rundfunkkurzwellenprogramm, 1941 vom amerikanischen Außenministerium als Mittel der psychologischen Kriegsführung geschaffen).
1952 wird Kracauer Senior Staff Member des Bureau of Applied Social Research an der Columbia University, dann Research Director. Zudem ist er als Berater und Gutachter bei der Bollingen Foundation und der Old Dominion Foundation tätig, eine Aufgabe, die ihn oft für Wochen völlig in Anspruch nimmt. Für die Fertigstellung seines Film-Buchs erhält Kracauer 1954 nochmals ein Stipendium der Chapelbrook Foundation in Boston.
Im Juli bis Oktober 1956 unternehmen die Kracauers eine schon seit zwei Jahren geplante Europareise, die, da zum Teil auch Dienstreise, von der Bollingen Foundation mitfinanziert wird. Reiseziele sind neben Italien, Schweiz und Frankreich auch Deutschland: in Hamburg verhandelt Kracauer mit dem Rowohlt Verlag über eine deutsche Ausgabe des Caligari; in Frankfurt trifft er Peter Suhrkamp, dessen Persönlichkeit Kracauer begeistert: »It was an unforgettable experience. He is a real human being, one of the few we have the privilege of knowing.« (Kracauer an Löwenthal, 16.7.1956, zitiert nach: Marbacher Magazin, S. 113).
Zweimal noch besucht Kracauer privat seine frühere Heimat Deutschland, im Sommer 1958 und Juli bis Oktober 1960. Da es in Deutschland nie eine Gesellschaft gegeben habe, so Kracauers Eindruck von dem Nachkriegsdeutschland, seien die Menschen »völlig formlos und unkanalisiert, sie haben kein Außen und ein ungeordnetes Innen. Es ist alles da, aber nichts am Platz. [...] Die Leute sind not so much human beings as raw material for human beings.« (Kracauer an Löwenthal, 27.10.1958, zitiert anch Marbacher Magazin, S. 116). Nach seiner Reise 1960 beschließt er, privat nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.
Ende 1959 schließt er die Arbeit an seiner Theorie des Films, die ein Jahr später erscheint, ab. Schon Anfang 1961 beginnt ihn ein neues Projekt umzutreiben, ein Buch über die Geschichte. Was Kracauer in seiner Filmästhetik als das Spezifikum des Mediums Film analysiert hat, der sezierende Blick der Kamera, die Wendung zum Material der physischen Realität, will er überführen in eine Theorie der Geschichtsschreibung. Daneben beschäftigt ihn die Überarbeitung der Theorie des Films für eine deutsche Übersetzung, die nach gescheiterten Verhandlungen mit Rowohlt 1964 von Suhrkamp herausgegeben wird. Dort erscheinen auch eine Essaysammlung (Das Ornament der Masse), die Neuausgabe von Ginster und das lange schon angedachte Straßenbuch mit Feuilletons aus der FZ (Straßen in Berlin und anderswo).
Intensive Recherche- und Konzeptionsarbeit des Geschichts-Buches bestimmt Kracauers letzte Lebensjahre. Er unternimmt zahlreiche Europareisen, auf denen er bekannte Historiker trifft. Mit Diskussionsbeiträgen und Vorträgen beteiligt er sich an der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«. Aber es gelingt ihm nicht, sein letztes großes Projekt abzuschließen. Siegfried Kracauer stirbt am 26.11.1966 an den Folgen einer Lungenentzündung. Seine Geschichtstheorie gibt 1969 der Historiker Paul Oskar Kristeller in Zusammenarbeit mit Lili Kracauer aus dem Nachlaß heraus, unter dem Titel History. The Last Things Before the Last.

 

Veröffentlichungen und Werkausgaben

Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Worms: Verlags- und Druckereigesellschaft 1915;
Reprint mit einem Nachw. zur Neuausgabe von Lorenz Jäger. Berlin: Mann 1997.

Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Dresden: Sibyllen-Verlag 1922.

Ginster. Von ihm selbst geschrieben. Berlin: S. Fischer 1928.

Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a.M.: Frankfurter Societäts-Druckerei 1930.

Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Amsterdam: Allert de Lange 1937.

Propaganda and the Nazi War Film. New York: Museum of Modern Art Film Library 1942.

The Conquest of Europe on the Screen. The Nazi Newsreel 1939-1940. Washington D.C.: Library of Congress 1943.

From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. New York: Princeton University Press 1947;
London: Denis Dobson Ltd 1947.

Attitudes Toward Various Communist Types in Hungary, Poland and Czechoslovakia. New York: Bureau of Applied Social Research, Columbia University o.J.

Satellite Mentality. Political Attitudes and Propaganda Susceptibilities of Non-Communists in Hungary, Poland and Czechoslovakia. A Report of the Bureau of Applied Social Research, Columbia University. With a Foreword by Henry L. Roberts, Russian Institute/Columbia University. New York: Frederick A. Praeger Publishers 1956.

Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York: Oxford University Press 1960;
dt.: Theorie des Films. Die Erettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964.

Das Ornament der Masse. Essays.. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963.

Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964.

History. The Last Things Before the Last. New York: Oxford University Press 1969.

Werke in neun Bänden. Hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 ff.:
—Band 1: Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten. Frühjahr 2006.
—Band 2 (in zwei Teilbänden): Band 2.1: Von Caligari zu Hitler; Band 2.2: Studien zu Massenmedien und Propaganda. Frühjahr 2008.
—Band 3: Theorie des Films. Herbst 2005.
—Band 4: Geschichte - Vor den letzten Dingen. Hrsg. von Ingrid Belke. Frühjahr 2007.
—Band 5: Essays, Feuilletons und Rezensionen. In vier Teilbänden. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Herbst 2006.
—Band 6: Kleine Schriften zum Film. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. In drei Teilbänden. 2004.
—Band 7: Romane und Erzählungen. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Herbst 2004.
—Band 8: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Hrsg. von Ingrid Belke. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel. Herbst 2005.
—Band 9: Frühe Abhandlungen aus dem Nachlaß. Hrsg. von Ingrid Belke. Unter Mitarbeit von Sabine Biebl. 2004.

Briefausgaben:

Walter Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer. Mit 4 Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin. Marbach am Neckar: Dt. Schillergesellschaft 1987.

Siegfried Kracauer - Leo Löwenthal: In steter Freundschaft: Briefwechsel 1921-1966. Hrsg. von Peter-Erwin Jansen u.a. Springe: zu Klampen 2003.

Siegfried Kracauer - Erwin Panofsky, Briefwechsel 1941-1966. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachw. versehen von Volker Breidecker. Berlin: Akademie-Verlag 1996.

Nachrichten aus Hollywood, New York und anderswo: der Briefwechsel Eugen und Marlise Schüfftans mit Siegfried und Lili Kracauer. Hrsg. von Helmut G. Asper. Trier: WVT 2003.

 

Nachlaß

Der Nachlaß Siegfried Kracauers befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar.
Er umfaßt 69 Kästen mit Dokumenten zu Lyrik, Prosa (z.T. nur Vorarbeiten und Materialsammlungen), philosophische, kulturgeschichtliche und soziologische Untersuchungen, Essays und Aufsätze, Rundfunk- und Zeitungsbeiträge, Rezensionen und Filmkritiken. Daneben sind erhalten Arbeitskarteien, Notizen, Exzerpte, Notizkalender und Adreßbücher sowie Tagebücher, Reiseunterlagen und weitere Materialien. Der Bestand beinhaltet auch eine sehr umfangreiche Briefsammlung.
Außerdem gehören zum Nachlaß: Eine Autorenbibliothek, Sonderdrucke, Zeitschriften, Zeitungsausschnitte, zahlreiche Photographien.

Literaturarchiv-Marbach

 

Literatur

Zur ausführlichen Bibliographie der Schriften und Forschungsliteratur

Thomas Y. Levin: Siegfried Kracauer. Eine Bibliographie seiner Schriften. Dt. Schillergesellschaft: Marbach am Neckar 1989.

 

Ingrid Belke und Irina Renz: Siegfried Kracauer 1889-1966 (= Marbacher Magazin 47 (1988)).

Momme Brodersen: Siegfried Kracauer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001.

Martin Hofmann und Tobias Korta: Siegfried Kracauer - Fragmente einer Archäologie der Moderne. Sinzheim: Pro-Universitate-Verlag 1997.

Kessler, Michael/Levin, Thomas Y.: Siegfried Kracauer: neue Interpretationen; Akten des internationalen, interdisziplinären Kracauer-Symposions Weingarten, 2.-4.3.1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1989 (= Stauffenburg Colloquium, 11).

Koch, Gertrud: Kracauer zur Einführung. Hamburg: Junius 1996.

Inka Mülder[-Bach]: Siegfried Kracauer - Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur: seine frühen Schriften 1913-1933. Stuttgart: Metzler 1985.

Helmut Stalder: Siegfried Kracauer: Das journalistische Werk in der »Frankfurter Zeitung« 1921-1933. Würzburg: Künigshausen & Neumann 2003.

Andreas Volk und Henri Band (Hrsg.): Siegfried Kracauer: zum Werk des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers und Soziologen. Zürich: Seismo 1996 (= Soziographie, 8/9).

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