Sommer, Sonne, Nichtstun. Nicht für jeden ist diese Kombination zwingend. Unser Autor Sören Sieg zum Beispiel findet, dass ein tätiger Mensch seine Mußeansprüche nicht zu hoch hängen sollte.
von Sören Sieg
Ich wurde gebeten, Ihnen zu erzählen, wo ich im Sommer meine Seele baumeln lasse. Seele baumeln. Im Sommer. Ganz ehrlich, das ist so, als sollte ich erzählen, welche Zigarettenmarke ich bevorzuge, wenn ich in Japan bin. Ich war noch nie in Japan. Und meine letzte Zigarette habe ich 1982 in Sparrieshoop geraucht, im Zimmer meiner ersten Freundin. Bereits nach einer halben Zigarette war mir schwummrig, schwindelig, schlecht. Seitdem habe ich nie wieder geraucht.
Sommer. In Berlin, wo Ullstein sein wunderbares Verlagsgebäude hat, in der Friedrichstraße, soll es so etwas wie Sommer geben. Berlin liegt nämlich mitten in der kontinentaleuropäischen Klimazone: Winter kalt, Sommer heiß. Hamburg und Schleswig-Holstein hingegen, wo ich mein Leben zugebracht habe, liegen in der maritimen Klimazone. Der Winter dauert von September bis April, man ist depressiv, tröstet sich aber mit der Aussicht, dass im Mai ja der Sommer kommen werde. Wahrscheinlich. Bestimmt. Und wie um diese Hoffnung zu nähren, gibt es oft Ende April vier sonnige Tage (die fielen dieses Jahr aus ‒ muss am Klimawandel liegen). Im Mai bleibt es aber leider kalt. Im Juni setzt verstärkt Regen ein, im Juli kommen dann Gewitter. Zwischendrin lauern die Eisheiligen: Sechs Wochen lang ist es eiskalt. Im August gibt es tatsächlich ein paar Tage Hitze, und das, genau das ist unser Hamburger Sommer. Denn am ersten September schließen die Freibäder, und der Winter setzt ein.
Nicht umsonst stammt der einzige Sommerhit, der je im Konjunktiv verfasst wurde, „Wenn jetzt Sommer wär” von Ingo Pohlmann, wohnhaft in Hamburg. Sie können die Gemütslage der Stadt mühelos daran ablesen, wie wehleidig und melancholisch unsere Musiker klingen: Kettcar, Tocotronic („Hamburger Schule“), Regy Clasen, besagter Ingo Pohlmann, Wolfgang Müller… Es darf geweint werden. Die Nichtsommerdepression ist noch weit schlimmer als die Winterdepression. Glauben Sie, da kann man die Seele baumeln lassen?
Vor allem: Will man das als protestantischer Norddeutscher überhaupt? Immerhin braucht man im Sommer keine Handschuhe und es ist viel länger hell – ideal zum Arbeiten! Mein Vater war bekennender Rosa-Luxemburg-Fan, und zwar eigentlich nur wegen ihres Satzes: „Die Arbeit, die tüchtige, intensive Arbeit, die einen ganz in Anspruch nimmt mit Hirn und Nerven, ist doch der größte Genuß im Leben.“ Gelernt ist gelernt. Meine Eltern haben zusammen fünf Berufe ausgeübt – simultan. Ich schaffe das als Einzelperson. Zumal man ja als freischaffender Künstler immer unter akuter Verarmungsangst leidet. Glauben Sie, ich hätte schon mal eine Anfrage abgelehnt?
Als Max Weber 1904 sein berühmtestes Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus veröffentlichte und damit die These, dass die Protestanten den kapitalistischen Erwerbstrieb erfunden hätten, um sich der Gnade Gottes zu versichern, war die Datenlage noch recht dürftig. Heute wissen wir: 95 Prozent des europäischen Sozialprodukts werden von den Protestanten in Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Holland, England, Flandern und halb Deutschland erarbeitet. Der riesige katholische Rest fordert sehr viel „Solidarität” ein. Meine persönliche Theorie ist, dass nur eine Gruppe noch arbeitswütiger ist als die Protestanten, nämlich die atheistischen Kinder und Enkel von Protestanten. Die Protestanten machen zumindest sonntags noch frei. Raten Sie mal, welchen Tag wir heute haben, da ich diesen Text schreibe? Vermutlich arbeitet auf der Welt niemand so viel wie protestantischstämmige atheistische Freiberufler. Die 38,5-Stunden-Woche ist eine Erfindung der katholischen Soziallehre.
Nun dringt die buddhistische Ethik in unseren Zeitgeist ein und verlangt gnadenlos, wir müssten im Hier und Jetzt glücklich sein. Hier, jetzt, ständig und immerdar. Meine Frau hat ungefähr 30 dieser Bücher gelesen, und aus purem schlechten Gewissen versuche nun auch ich ab und zu mal, die Seele baumeln zu lassen. Ich frage mich nur, wie das gehen soll, wenn man zum Beispiel ein Nachrichtenjunkie ist wie ich. Obwohl ich gar kein Journalist bin und über ganz andere Dinge schreibe, weiß ich alles über die Prozesse gegen Jörg Kachelmann, Horst Arnold, Woody Allen und Karl Dall. Ich weiß, wer im Bataclan wann wen erschossen hat, warum Riaz Khan Ahmadzai mit seiner Axt ausgerechnet auf Touristen aus Hongkong losging und wieso „der dicke Hamza“ aus Casablanca seine eigene Flüchtlingsunterkunft in Düsseldorf abgefackelt hat. Es ist wie ein Fluch. Wenn es wenigstens nur Kriminalfälle wären. Aber nein: Ich kenne auch alle Presseerklärungen von Tsipras und Varoufakis zur „Finanzkrise“ auswendig, ich weiß, warum Marco Rubio nicht mal Florida gewonnen hat und wie sich der venezolanische Diktator Nicolás Maduro an der Macht hält. Ich kann nichts dagegen tun, ich recherchiere nachts bis drei im Internet und quäle mich um 6:45 Uhr aus dem Bett, um meinen Kindern das Schulbrot zu schmieren.
Apropos Kinder: Gestern erzählt mir Leo, sein rechter Daumenballen tue wieder so weh. Ich fasse es nicht. Wir hatten ihm vor zwei Jahren einen Chemiebaukasten geschenkt; schon beim dritten Experiment zerbrach ein Reagenzglas in seiner Hand und eine Reihe winziger Splitter verschwand in seinem rechten Daumenballen. Er wurde operiert, dann noch einmal… Steht jetzt die dritte OP bevor? Lina bittet mich indessen, ihr für ihre Deutschleistungskurspräsentation das Menschenbild in Schillers Räubern zu erklären, und ich versuche ihr in drei Anläufen zu erläutern, dass es darin nicht um ein Menschenbild geht, sondern um eine frühe Strategie der Viktimisierung von Tätern, da kommt Lukas rein und fragt, ob ich ihm vielleicht 1000 Euro leihen könne. Für das neue iPhone 6s Plus. Das ja bekanntlich einen viel besseren Akku habe als das 6s. Und im Gegensatz zu diesem auch einen Videobildstabilisator. Tausend Euro. Leihen. Ich frage ihn, ob er die protestantische Wortbedeutung meine im Sinne von ausleihen und zurückgeben oder die griechisch-orthodoxe im Sinne von bekommen, behalten und dann nach noch mehr fragen? Er grinst nur. Gibt es irgendjemand mit drei Kindern, der die Seele baumeln lassen kann?
Und wieso passieren die Dinge immer gleichzeitig? Binnen fünf Tagen muss ich für einen großen Hamburger Verlag eine 20-seitige, rasend komische Weihnachtsgeschichte schreiben – mitten im Hochsommer. Am Freitag trudeln die Satzfahnen meines neuen Buches ein, und mein Lektor bittet mich, noch ein letztes Mal drüberzuschauen. Da stellte sich heraus, dass er bei sämtlichen Kursivstellen das Kursiv gelöscht hatte, obwohl das mein Lieblingsstilmittel ist! Ich muss also in den kommenden Abenden alle ursprünglichen Kursivstellen wiederfinden und vermutlich sogar den Salsakurs mit Eva canceln (sie wird mich umbringen), zwischendurch mit Leo zum Arzt und meiner Tante am Telefon erklären, warum ich mich nicht zurückgemeldet habe, obwohl sie mir doch schon drei Mal aufs Band gesprochen hat, wie dringend es sei, weil sie nämlich gerade ihren ersten Gedichtband fertig habe, den müsse ich unbedingt lesen meinem Lektor geben, noch besser der Verlegerin direkt. Seele baumeln!
Aber bitte. Nehmen wir an, das alles sei gar nicht so: Ich hätte keine Kinder, keine Frau, keine Erledigungen, Projekte und Fristen; nehmen wir an, ich hätte reich geerbt, lebte in einem Teil der Welt, wo es Sommer gibt und würde den ganzen Tag die Seele baumeln lassen. Glauben Sie, ich würde das irgendjemand verraten – als Schriftsteller? Wo doch jeder Provinzfeuilletonist weiß, dass Kunst nicht von Können kommt, sondern von Müssen? Glauben Sie, irgendein Journalist möchte auf die Frage, warum ich das Buch geschrieben habe, hören, ich fände das Thema interessant und würde auf einen guten Verkauf hoffen? Um Himmels willen! Nein, in Wahrheit habe ich seit meinem fünften Lebensjahr, nein, seit ich angefangen habe zu sprechen, nichts anderes im Sinn, als genau dieses Buch zu schreiben. Meine Jugend hindurch quälte ich mich mit Entwürfen, die ich mit 18 verbrannte, um dann während meines Germanistikstudiums in Berlin, Berkeley und Tokyo 27 Rohversionen zu erstellen, die ich Tag und Nacht korrigierte, während die anderen feierten, kifften und sehr guten Sex hatten. Mit 29 hatte ich eine erste halbwegs zufriedenstellende Version, die ich an 30 Verlage schickte – um 30 Absagen zu kassieren. Darauf pilgerte ich dreizehn Jahre durch Spanien, Nepal und Papua-Neuguinea, wo mir eine völlig neue vertikale und horizontale Struktur einfiel. Ich schrieb alles in knapp fünf Jahren erst um und dann völlig neu, schickte es einem einzigen Verlag, und schon am nächsten Morgen rief mich die Verlagschefin persönlich an. Sie habe die ganze Nacht gelesen. Bis gerade eben. Wir machen es – das Buch des Jahrhunderts!
Gut: Einen Moment gibt es. Morgens um acht, wenn die Kinder und Eva aus dem Haus sind und ich mich mit einem Becher frischgebrühten ostfriesischen Sahnetees vom Tee&Tradition-Laden in Langeoog auf die anthrazite Wohnzimmercouch setze; der Computer ist noch aus, und ich sehe aus dem Fenster im fünften Stock über die Dächer der schönsten Stadt der Welt und trinke ein wenig von dem wunderbar heißen Tee, den ich nach genau zwei Minuten Ziehen mit etwas Reis-Kokosmilch gesüßt habe. Dann lasse ich, für diesen Moment, für eine Minute Ewigkeit, die Seele baumeln. Mitten in Hamburg.
Das Buch
Wo man hinschaut, sieht man sie: Verzweifelte Männer in der Midlife-Crisis, die schon gar nicht mehr wissen, wofür sie überhaupt auf der Welt sind. Sie fragen sich: Ist noch mehr drin als der mickrige Kleingarten und die missratenen Kinder? Lernt man, seinen Job und seine Frau irgendwann wieder zu lieben? Und hat Haarausfall doch etwas Gutes? Der Satiriker und Krisenmanager Sören Sieg zeigt: Es gibt Mittel und Wege, die Jahre ab 40 so hinzukriegen, dass man nicht unter Hohn und Spott der Jüngeren, sondern als selbstbewusster George Clooney durchs Leben geht. Dieses Buch hilft dabei, die schlimmsten Fallstricke zu vermeiden und dem Erwachsenenleben einen Sinn zu verleihen – selbst mit ein paar Kilo mehr auf den Rippen.
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