The Sound of Bavaria, part IV:
Frühlingserwachen hinterm Ostbahnhof

…oder „Der Unbefugte”

In einem neuen Teil seines „Sound of Bavaria“ findet Harry Kämmerer sonderbare Plakate hinter dem Münchener Ostbahnhof, die allerlei Assoziationen in ihm wecken. Diese will er aber nicht allein auf den beginnenden Frühling schieben. Vielmehr glaubt er, dass auch der Besuch auf der Londoner Buchmesse seinen Teil dazu beigetragen hat.

von Harry Kämmerer

Der Weg in die Arbeit ist ja immer auch ein Weg der Erkenntnis. Also nicht so: „Boh, schon wieder…“, sondern ein Weg der stets neuen Erkenntnisse. Wenn ich genau hinsehe, entdecke ich immer was Neues hier im Hinterland des Ostbahnhofs. Da ist mir gestern ein Schild aufgefallen:

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Fühlte mich direkt angesprochen. „Unbefugt“ hat ja so einen geheimnisvollen Beiklang, als würde ich da gleich Sachen vorfinden, die etwas außerhalb meines Erfahrungshorizonts (visuell, intellektuell, emotional…) beheimatet sind. Geht man in den Hinterhof, stehen da zwei Wellblechgaragen mit einem Vertrieb für Eiweißpulver: PEAK Sportlernahrung. So Muckibudenzeugs ist schon halbseiden, oder? Ich bin ja ganz froh, dass es selbst im rausgeputzten München solche Hinterhofklitschen gibt. Würde man eher in Hamburg St. Pauli erwarten. Aber da gäb’s bestimmt nicht die Schilder, die hier in München ganzjährig vor Witterungsunbill warnen:

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Das ist schon gut. Und vorausschauend. Wegen Blitzeis und so. Fußballfans wissen, was ich meine. Aber jetzt ist Frühling angesagt. Und alles ist da, volle Pulle: die Wärme, die Hitze, die Blüten, das Polleninferno. Und das Körperliche. Vor allem das. Verursacht in meinem Kopf ein unablässiges Brummbrumm, das mich von den konventionellen Schreibtischtätigkeiten ablenkt. Mir geht’s da fast wie meiner Romanfigur Frank Zankl, der in einer Zeit sexuellen Notstands plötzlich überall in der Stadt erotische Zeichen erblickt. Sogar auf dem Hendl-Express von Hertel’s, dessen Angebot man jedoch nicht zu wörtlich nehmen sollte:

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Aber Zankl liegt schon richtig: siehst du eine Botschaft, sind sie plötzlich überall. Zum Beispiel auf dem Plakat, das mir an einem Stromkasten ins Auge sticht.

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Und das alles am Hintereingang des Verlagshauses, bei dem ich meinem Broterwerb nachgehe. Dort erscheinen sinnigerweise die Fifty Shades. Und jetzt noch diese After-Geschichten. Bei dem Titel der Buchreihe stockt mir immer noch der Atem. Meine erste Reaktion auf das Plakat war: Hey, das ist echt großzügig, dass Ladies in Mini, Lack und Leder freien Eintritt haben. Wobei „Die ganze Nacht!“ schon ein bisschen doppeldeutig klingt. Verheißung oder Drohung? Dann hab ich nachgedacht und war doch ein bisschen ernüchtert: sieht so Gleichberechtigung aus? Wenn ich jetzt Bock hätte, mal wieder in meinen Ledermini zu schlüpfen, komm ich dann auch kostenlos rein? Da bin ich eher skeptisch. Und was zur Hölle sind Fifty-Shades-Möbel? Eine Erfindung des Möbelriesen Seegmüller in Parsberg? Da, wo Peter Maffay auf dem Parkplatz neben der Hüpfburg spielt und die Schnitzel inklusive Bier 1,50 kosten? Oder ist das eine neue Designlinie von Möbel Höffner in Freiham? Die haben doch die tolle Werbung mit dem kleinen „s“: „Wenn’s frei ham, kommen’s nach Freiham.“ Nein, gerade nicht – „frei“ ist ja genau das Gegenteil von Kabelbinder. Der Gedanke an SM-Möbel geht mir den ganzen Tag im Kopf rum. Nur ein blöder Schreibfehler im Subtext meines Gehirns? SB-Möbel… Steckt darin auch schon eine Eros-Botschaft? Sexuell beschwingte Möbel? Da gibt’s doch diesen Swinger-Stuhl? Was für ein Wort… Aus! Pfui! Quatsch natürlich. Habe gerade im Internet gesehen, dass die bei Höffner auf ihrer Facebook-Seite Möbel-Tester suchen. Bin ich nicht dabei!

Mein Erregungszustand (kein Dauerzustand, ganz ehrlich!) hat seine Ursache vielleicht gar nicht in der Münchner Frühlingsluft. Nein, ich glaube, ich bin kürzlich auf der London Book Fair infiziert worden. Nicht, weil es da auch schon frühsommerlich warm war, sondern weil da in der U-Bahn Riesenplakate voll das Strandfeeling verbreiten.

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Die latente körperliche Aggression und der trotzig-gelangweilte Blick der Bikini-Amazone haben mich schon nervös gemacht. Fühlte mich ganz klein mit Hut. Und sie war echt überall. Gut, dass sie so einen leeren Blick hatte, sonst hätte ich nicht gewusst, wo ich hinstarren soll. Ging mir gar nicht mehr nicht aus dem Kopf. Zuhause hab ich sie dann aber doch erfolgreich verdrängt. Bis wir uns auf Spiegel Online wiedergesehen haben. Da stand dann, dass sich der Werbe-Rat nach vielen Protesten eingeschaltet hätte. Die Kampagne für Eiweißpräparate (von Proteinworld – na bitte, Sportlerernährung ist hip!) würde ein unrealistisches Körper- und Frauenbild vermitteln (ach?). Ja, okay, kann man so sehen. Aber mal im Ernst, ein Bikini macht noch lange keinen Sommer! Da könnten wir ja gleich mal über die Kampagne dieser Billigfluglinie reden, die fett neben meinem Wohnhaus plakatiert ist:

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Wahnsinn, das hat fast schon Heinz-Erhardt-Flair – hier kommt die Partymieze aus dem Sekretariat! Aber nicht zu frivol! Bikini wäre da ein No-Go. Da sind mir die Engländer schon lieber. Erzähl mal einer noch den schalen Witz: „No sex please, we’re British.“ Da hat sich viel geändert. Inzwischen werden sogar auf der Book Fair erotische Angebote mit souveräner Offenheit unterbreitet.

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Ich bin mal ehrlich: Meine Erwartungen wurden nicht ganz erfüllt. Was aber vielleicht auch an mir lag. Zuerst hab ich noch gedacht: Wow! Leider war hinter der Tür nur ein leerer Raum mit viel Licht. Aber vielleicht auch clever. Imaginationsraum – die besten Geschichten passieren ja im Kopf. Vor allem, wenn man die Augen zu macht. Dann ist es sogar dunkel. Hab ich wieder was gelernt.

Wie gesagt, ich kehrte ein wenig übersensibilisiert nach München zurück, sah überall Zeichen. Etwa die Werbetafeln einer kurzen Einkaufsmeile in Nordnord-Schwabing, als wir letzte Woche auf dem Weg zu einer Lesung in Oberschleißheim im Stau standen. Ein Erotikshop neben einem Hochzeitsladen – schon coole Kombi.

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So ist München. Ja, mir gefällt diese entspannte Haltung, wenn Schmuddelkram auch im schicken Alltag seinen Platz findet. Wobei das moralinsauer klingt. Hier geht es ja zweifellos um menschliche Grundbedürfnisse, um unterschiedliche Spielarten der Liebe, die hier aufs Trefflichste kombiniert sind, eine sich gegenseitig befruchtende Vorstadt-Symbiose eingehen. Hierher kommt man, wenn einem der Ehepartner ein bisschen fad wird. Dann kann man sich im Erotikshop mit unterhaltsamem Spielzeug und mit Videos eindecken. Oder andersrum: wenn man auf den Entdeckungsreisen durch die Münchner Fifty-Shades-Parties den oder die Richtige entdeckt hat, dann geht man vielleicht anschließend zusammen in den Hochzeitsladen. Und später dann in den Laden nebenan. Wahrscheinlich werden die beiden Shops eh vom selben Personal bedient. Das lungert im Hinterzimmer herum und wenn Kunden im Anmarsch sind, huscht man in den rechten oder linken Laden, je nachdem. Blöd nur, wenn viele Kunden kommen, dann gibt es vielleicht Wartezeiten. Aber so viel scheint da auch wieder nicht los zu sein. Freie Parkplätze waren da jede Menge. Was für sich schon mal geil ist. Ja, diese friedliche Koexistenz ist schön, das ist gelebte Liberalitas Bavariae. Gilt ebenfalls für die zwei Läden eine Straße weiter – ein Bestattungsladen neben einer Katzenboutique. Der sinnige Slogan des Vierbeinershops „Alles für d’Katz“ passt ausgezeichnet zum Nachbarladen. So geht Crossmarketing.

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Die richtigen Dinge und Bedürfnisse zusammenbringen, eine harmonische Erlebniswelt schaffen, das ist der Kick! Das kann man auch bei den Plakaten hinterm Ostbahnhof sehen, wo ich so oft lang fahre. Da ist nichts dem Zufall überlassen: Micaela Schäfer macht nicht etwa Werbung für Kopfhörer (oder Saugnäpfe), nein, ganz profan für einen „Männerabend“. Wobei das aussagentechnisch ein bisschen indifferent rüberkommt. Könnte eventuell auch als Werbung für eine Gay-Party durchgehen. Micaelas Haarschnitt ist zumindest recht burschikos. Aber klar, natürlich geht es um klassischen Männerspaß. Wie auch auf den Plakaten daneben: 1860 gegen Nürnberg (Männersport, zweitklassig) oder Kaltenberger Ritterturnier (Männersport, rustikal). Alles sehr klar in der Ansprache und Message: Spaß, Schönheit, Leiden, Eros. Und was Animalisches. Gut gemacht, nicht zu aufdringlich.

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Von der CI klar, aber im Ton einen Tick zu direkt finde ich die Lieferando-Anzeigen hundert Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Da komme ich dann doch sehr ins Grübeln ob des erotischen Feinsinns. Die oberen zwei Aussagen sind schon ziemlich verschärft, aber die Antwort auf Uschis Frage, was denn das jetzt sei beim Herrn der Schöpfung, die ist einfach – nun ja – fischig. Prost Mahlzeit!

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Ein bisschen weniger ist manchmal mehr. Wir hatten mal bei einem Pasta-Buch auf dem Umschlagrückseite folgendes Versprechen: „Tauchen Sie ein in die Welt der perfekten al-dente-Nudel!“ So geht das, mit Witz, Charme und Poesie. Im Marketing kommt es auf Fingerspitzengefühl an. Das wissen wir Leute in der Buchbranche natürlich. Diese Woche hatten wir Verlagssitzung für unsere nächste Diät-Aktion im kommenden Winterprogramm und eine Kollegin aus dem Verkauf hat ausgerufen: „Hey, lasst uns so was machen wie diese Are-you-beach-body-ready-Kampagne, die ist so was von geil!“ Da hab ich schon kurz gestutzt. Aber vielleicht wissen ja Frauen, was Frauen wollen? Ich hab jedenfalls nichts gesagt, aber da war sie wieder in meinem Kopf: die trotzige gelbe Bikinidame. Und zugleich war da auch ein gewisser Widerwillen in mir. Irgendwie fühlte ich mich ausgegrenzt. Als Mann. Genauso wie bei dem Plakat, das nur Ladies in Lack und Leder freien Eintritt (Die ganze Nacht!) verspricht. Das ist verdammt unemanzipiert!

Ich hab mich gleich hingesetzt und an einem Konzept gebosselt, um für mehr Chancengleichheit bei der Bodydeutungshoheit bei der Diät-Aktion zu sorgen. Vielleicht gelingt mir ja eine gute Kampagne, die Trendthemen wie Vegan, Paleo, Darm, Detox, Glutenfrei, Muckis etc. unter einen Hut bringt und zugleich geschlechterneutral rüberkommt. Ohne unsexy zu sein! Klingt bescheuert. Unmöglich. Oder? Ach, ich liebe komplexe Aufgaben. Die man dann auf was ganz Banales reduziert. Man muss mit ganz einfachen Bildern arbeiten. Ich denke da an ein unschuldiges Obst, das all diese Komponenten stellvertretend vereint. Mit der Botschaft: sei knackig, sexy, sanft, süß, fruchtig, vegan, bio, leicht verdaulich… Oh, ich hab schon eine Idee! Ja, das könnte es sein. Ich setz mich gleich an die Entwürfe und werde damit in der nächsten Marketingsitzung auftrumpfen! Ich bin schon wahnsinnig gespannt, was die Kollegen und Kolleginnen dazu sagen. Und eh klar, mit München hat das gar nichts zu tun. Ist eher so universell. Wie alle guten Werbekampagnen. Ist nur ein Scribble. Aber der Slogan ist gesetzt!

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Lesen Sie hier Teil 3 des „Sound of Bavaria“


 

Harry Kämmerer

Harry Kämmerer

Harry Kämmerer, geboren 1967, aufgewachsen in Passau, lebt mit seiner Familie in München. Verlagsredakteur mit Herz für Musik, Literatur und Kabarett. Verfasser einer Dissertation zum Thema „Satire im 18. Jahrhundert“ und der kultigen Krimis IsartodDie Schöne MünchnerinHeiligenblut und Pressing.

Foto: © Christian Weiß

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