The Sound of Bavaria, part II: Süßer die Glocken nie klingen

Passend zur Vorweihnachtszeit nimmt uns Graf-Autor Harry Kämmerer im zweiten Teil seiner Serie „The Sound of Bavaria“ mit in die Münchener Weihnachtsmarktwelt. Dort macht er allerlei kuriose Beobachtungen und verliert sich am Getränkestand in „Jahresendgedanken“.

von Harry Kämmerer

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Weihnachten ist überall. An jeder Ecke. Sehr massiv. Der Wahnsinn. Die vielen Lämpchen, die suggerieren: Milchstraße ist überall. Oder: „Kleine Taschenlampe brenn…“ Wenn das noch einer kennt. Jedenfalls ist in München momentan total der Overkill mit blingbling und freufreu.

Supasupa. Wenn man’s mag. Ich mag das.

Und heute hab ich mir tatsächlich mal die Kaufingerstraße gegeben. Ich hab ja manchmal so masochistische Anwandlungen. Das Überangebot an Menschen in der Fußgängerzone hat ja auch seine schönen Seiten. Als einsamer Wolf kann man da wunderbar ein paar Berührungen schnorren. Geht schon los unterm Stachus, wenn dich da die Rolltreppe nach oben bazt. Kurz mal mit dem herben Lodenrücken des Vordermanns schmusen oder den heißen Glühwein-Atem des Hintermanns im Nacken spüren. Gänsehautgefühl!

Aber oben war gleich Schluss mit Menschen, da begrüßte mich eine Eisbärenfamilie. Eisbären! En masse. In München! Sag mir noch mal einer, dass wir ein Klimaproblem haben, so von wegen: aussterbende Arten. Eisbären gibt es zumindest am Stachus eindeutig zu viele. Dachte ich mir.

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Hey-hey, Ba-by…

Und dann bin ich eingetaucht. In den Menschenstrom. Einmal drin, kommste schwer wieder raus. Ich, gesenkten Blicks und Hände tief in den Manteltaschen vergraben, Handy und Geldbeutel fest umklammert. Man hört ja immer so Geschichten. Ich hatte einen klaren Auftrag, also eine Idee, so geschenkmäßig: Mein Pa braucht eine neue Wetterstation. Seine ist kaputt. Was ihn sehr traurig macht. Und sprachlos. Denn er gibt mir ja am Telefon immer die aktuellen Temperaturstände von Passau durch. Nicht innen (Wär ja ein bisschen fad. „Du, heut haben wir schon wieder 27 Grad.“ Mir persönlich sowieso viel zu warm.), sondern Außentemperatur natürlich. Ist er immer ganz wichtig. Plus Witterung: ob es stürmt oder schneit. Meine Bemerkung „Du gehst ja eh nie raus“ ignoriert er stets lässig. Die Infos fehlen mir tatsächlich, jetzt, da ich sie nicht mehr bekomme. Und ich mir auch nicht mehr das heimelige Donaunebelfeeling vorstellen kann. Brrr.

Also Weihnachten neue Wetterstation für Papa. Ich war schon ganz kribbelig. Shopping ist ja eine der letzten großen Herausforderungen für mich. Bin ja so ein Preisfuchs. Produkte vergleichen, grübeln, umentscheiden, mitnehmen, dann doch umtauschen. Auf Höhe von Saturn, wo ich die Kleinelektroabteilung besuchen wollte – kam ich allerdings tatsächlich nicht mehr aus dem Menschenstrom und musste mich schicksalsergeben weitertreiben lassen. Fluss ohne Wiederkehr.

Plan B: Elektro Conrad am Isartor. Der mich in leichte Panik versetzte. Puh, Conrad ist nur was für die ganz harten Jungs. „Aber krieg ich hin!“ Nahm ich mir vor. „Todesmutig und mit ausgefeilter Kung-Fu-Technik werde ich vordringen in die Elektrohölle der Karohemden mit dicken Brillen, deren Patschehändchen kleine durchsichtige Plastikschachteln umklammern, reich befüllt mit Widerständen und Leuchtdioden zu 34,2 Cent das Stück. Ich geh da Tsching-Tschang-Tschung durch die Reihen, wie mit der Machete und mach den Weg frei.“ Nein, Vorurteile hab ich keine.

Aber alles graue Theorie. Denn ich hab schon vorher aufgegeben. Am Marienplatz wurde es nämlich richtig eng. Von wegen „Berührungen schnorren“ – ich kam mir vor wie in der Müllpresse im ersten Star-Wars-Film. Crunchy. Definitiv zu viele Menschen auf und rund um den Christkindlesmarkt. Hospitalistische Stofftiere, einkaserniert im Kaufhof-Schaufenster, winkten mich in die S-Bahn hinab.

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Mir san so weich, mir san so Steiff, mir san nix fürn Topf: Stroh ned nur im Kopf…

In der S-Bahn war es kaum besser – wieder tausend Menschen. Ziemlich muffty, als die Zugtüren zu waren. Ich wahrscheinlich auch. Aber man darf sich nicht beschweren, wenn man Teil des Ganzen ist. We are family, all my brothers, sisters and me…

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Eine S-Bahn für ein Pferd! Oder: traditionelle Weihnachtstracht in München.

Am Rosenheimer Platz war ich dann schon froh. Fast daheim. Mein Viertel Haidhausen. Die klare Abendluft steigerte meine Laune sofort. Also wagte ich es, meine Schritte noch auf den Haidhauser Weihnachtsmarkt zu lenken, um dort einen Hopfentee zu genießen. Die haben da ein Bock-Bier – Christmator®. Der ist wie Motoröl. Aber mit Schuss! Kurbelt dein Maschinchen in der Birne an. So tucktuck wie ein Diesel. Und wenn’s läuft, dann läuft’s, das Maschinchen.

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Fährt richtig gut ein – garantiert!

Zuerst dachte ich, ui, jetzt kommen sie, die melancholischen Jahresendgedanken, die ganz großen. Aber irgendwie kam da erstmal gar nix. Oder? Doch, aber so subtil. Da gehen schon ein paar Kanäle auf, wenn man so in sich ruht und der Christmator® seine beruhigende Wirkung entfaltet. Da waren meine Sinne auf einmal recht geschärft. Alles ein bisschen überpräsent: der Duft von Bratwurst und gebrannten Mandeln, das fiese Gründeln von Sauerkraut und kokeligen Reiberdatschi, die in Altfett schmurgelten, und die hinterhältige Klingeling-Beschallung hier am Weißenburger Platz. Bei dem Ambiente wirst du schon emotional.

Da hab ich mir gleich noch einen Weihnachtsbock reingetan. 7,5 %. Sicher ist sicher. Und weil aller guten Dinge… Dann aber verschärftes Tempo, also meine Gedanken. So Karussell, das Jahr, all die Gesichter, Storys, Schicksale. Bisschen viel, bisschen schnell. Vielleicht hätte ich doch besser Glühwein trinken sollen? Aber den vertrag ich nicht. Wie der Florian Silbereisen. Der hat mal voll randaliert, wie er auf Glühweinspeed war. Auf dem Passauer Christkindlmarkt. In meiner Heimat. Ich hab mich damals so geschämt. Kann mir nicht passieren, dass es gleich in der Zeitung steht, wenn ich besoffen austicke. Erstens eiserne Disziplin. Und zweitens ist ja München zum Glück voll anonym. Und mich kennt ja auch nicht jeder. Wie den Silbereisen. Vielleicht hat er sich da auf dem Christkindlmarkt die Helene Fischer angelacht. Und sie war auch schon ganz hinüber. Anders lässt sich das Ganze ja kaum erklären.

Während ich so dastand und mich beim Christmator® mit mir selbst unterhielt, kotzte eine 16-Jährige mit bedenklich dünnem Beinkleid – Minirock an Feinstrumpf – ins Gebüsch. Neben den Stand mit dem Erzgebirgszeugs. Gebüsch stimmte nicht ganz, denn der Fichtenwald hier mitten in Haidhausen wird ja immer von Menschenhand mit 4.-Wahl-Tännchen aufgeforstet.

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Der Deutsche Wald. Auch nicht mehr das, was er mal war.

Eine Freundin von mir, die finanziell ein bisschen klamm ist, holt sich hier immer am 24. Dezember kostenfrei so ein zerzauseltes Restbäumchen für die Wohnung. Also, wenn die den Weihnachtsmarkt abbauen. Vielleicht sollte ich sie warnen. Weiß Gott, welche Gerüche und Substanzen ihr Christbaum dann in der gut geheizten Wohnung freigibt! Obwohl – gut geheizt ist es bei meiner Freundin ja gerade nicht.

Aber zurück zum Weihnachtsbock. Ich stierte also so rum, nicht nur in mein Bier, ließ Blick und Gedanken schweifen. War ganz auf Empfang geschaltet. Sensitiv. Oder sensibel. Oder beides. Emotionales Untergeschoss jedenfalls. Ich mag so Endzeitstimmung. Stellte mir vor, dass der Rest der Welt gerade durch eine riesige Atombombe zerstört wurde und nur der Weihnachtsmarkt am Weißenburger Platz wie durch ein Wunder verschont geblieben ist. Jetzt sind diese 635 Menschen dazu verdammt, ihre Restlebenszeit miteinander zu verbringen.

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Wenn der letzte Bratapfel verzehrt ist, die letzte Mandel, die letzte Erdnuss…

Was, wenn die Rohstoffe knapp werden? Wenn alles Magenbrot, alle Bratäpfel, Mandeln, Würstel, sogar die Erdnüsse und das ganze Asia-Wok-Gemüse verzehrt sind? Wenn die Flüssigkeitsversorgung mit Glühwein, Jagatee, Bockbier am Ende ist? Werden wir Regenwasser trinken und einen Weihnachtsmarktbesucher nach dem anderen in der riesigen Schupfnudelpfanne garen? Und dazu gemeinsam Lieder singen: „Last Christmas – you gave me your heart / das schmeckte doch erstaunlich zart / ich hab’s nur ganz kurz frittiert / damit es nicht zu viel Geschmack verliert…“ Ja, schalten Sie wieder ein, wenn es heißt: Last Christmas – die letzten Tage der Menschheit. Ich hab’s genau vor Augen, so Dystopie-Wahnsinn, voll das Endzeitdrama, das all die Ängste, Katastrophen auf den Punkt bringt. Der Mensch allein zurückgeworfen auf sein eigenes schäbiges Ich in einer feindlichen Welt. Das sollte ich mal schreiben. So richtig Apokalyptisches. Für die ganzen Leute, die zu Weihnachten immer so ekelhaft kuschelig draufkommen. Ja, die Wirklichkeit ist viel härter, als ihr alle glaubt! Wie auch mein nächster dystopischer Science-Fiction-Roman zeigen wird: CHRISTMATOR® – Retter des Universums. Mit seinem blutwurzbetriebenen Raumgleiter schießt er durch die dichten Glühweinschwaden auf die bayerische Landeshauptstadt hinab! Hui!

Ach, zu viele Gedanken sind nicht gut. Dachte ich mir. Wurde Zeit, den Bier- und Glühweindunst hinter mir zu lassen. Als ich losgehen wollte, merkte ich, dass ich an dem Plastikbistrotisch erheblich sicherer stand als jetzt auf eigenen Füßen. Bisschen eirig. Meine Sinne waren schon deutlich getrübt, als ich heimwankte. Trotzdem genoss ich die Auslagen der Geschäfte in der Weißenburger Straße und sammelte noch Geschenkideen, falls das mit der Wetterstation nichts werden sollte. Besonders lange blieb ich vor dem Schaufenster von Leander’s Westernshop stehen.

 

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Schau genau: In Bayern gehen die Uhren anders.

Toll. Alles, was das Herz begehrt. Dachte ich. Das reichhaltige Angebot an liebevollen Geschenkartikeln stimmte mich ganz milde. Ich war sehr berührt von der Kreativität der Handwerkszunft. Auch wenn diese Sachen vermutlich nicht in Arizona oder Texas gefertigt wurden. Wahrscheinlich China. Vielleicht aber auch in Kötzting im Bayerischen Wald, wo fleißige Heimarbeiterinnen im sanften Schein bullernder Kanonenöfen sitzen und diese Kleinodien kreieren. Hach! Schön! Ganz aufgekratzt drehte ich noch eine Runde durch das vorweihnachtliche Haidhausen. In der Kirchenstraße entdeckte ich eine Kneipe, die ich noch nicht kannte. Erstaunlich genug. Doch für heute hatte ich bereits meinen Pegel. Nicht übertreiben!

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Klingt verdammt cool. Ist bestimmt auch verdammt cool.

Aber nächsten Sonntag werde ich da sein, denn da kündigt ein Schild ein Club-Event an. Da darf ich nicht fehlen. Und wenn ihr nach dem Weihnachtsstress auch nichts Besseres vorhabt, dann sehen wir uns da!

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Alle Fotos © Harry Kämmerer

 

Lesen Sie hier Teil 1 des „Sound of Bavaria“


 

Harry Kämmerer

Harry Kämmerer

Harry Kämmerer, geboren 1967, aufgewachsen in Passau, lebt mit seiner Familie in München. Verlagsredakteur mit Herz für Musik, Literatur und Kabarett. Verfasser einer Dissertation zum Thema „Satire im 18. Jahrhundert“ und der kultigen Krimis IsartodDie Schöne MünchnerinHeiligenblut und Pressing.

Foto: © Christian Weiß

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