„Ellroys Amerika“ (Teil 1)

von James Ellroy, aus dem Englischen von Stephen Tree

„Letztlich besitze ich bloß meinen Geburtsort, von dessen Sprache ich besessen bin.“

So der Schlusssatz von Ross Macdonalds Vorwort für seinen 1979 erschienenen Erzählungsband Archer in Jeopardy. Macdonald beschreibt darin die von ihm erlebte geografische Entwurzelung und deren psychische Auswirkungen. Ein in Kalifornien geborener Amerikaner, der in Kanada aufgewachsen ist und beschlossen hat, mittels Fiktion von seinem gespaltenen Erbe Besitz zu ergreifen. Macdonalds Romane beschreiben verlorene Kinder, die von ihrer mörderischen Abstammung mitgerissen werden. Ein distanzierter Detektiv leitet sie auf der Suche nach ihrem Ursprung an und lässt sie mit ihren Entdeckungen und ihrem Herzeleid allein. Woher der Detektiv kommt, bleibt im Verborgenen. Er will nur Deuter und Führer sein. Er geleitet die Verlorenen heim, um am Ende jeden Bandes wieder zu verschwinden. Er hat ihnen gefährliches Wissen vermittelt und zu einer gewissen Einsicht in die eigene Geschichte verholfen.

Los Angeles skyline 4th Str bridge by Al Bee, flickr

© Al Bee/Flickr.com

Für Macdonald besteht Geschichte aus Familien, die durch die Zeit geworfen werden. Er schrieb über mörderische häusliche Dramen, deutete das faktische Geschehen aber nur indirekt an. Die Zeit löscht das individuelle Bewusstsein aus. Unsere Suche endet mit dem Tod, auf den leeren Seiten danach. Unser Leben besteht aus gesicherten öffentlichen Ereignissen und einem nicht aufgezeichneten inneren Drama. Wir bilden den geheimen menschlichen Unterbau der Geschichte.

Unsere Taten haben die Geschichte immer wieder in nicht nachweisbarer Form beeinflusst. Unsere nicht aufgezeichneten Entdeckungen und unser Herzeleid sind die Geschichte. Das Anrecht auf Gestaltung der Geschichte ist letztlich unser Geburtsrecht. Einige Künstler gestalten sie mittels Sprache.

Ich bin sowohl Macdonalds Deuter als auch eines seiner verlorenen Kinder. Ich komme aus Südkalifornien und bin geprägt durch Kriminalromane und den ungelösten Mord an meiner Mutter. Ich wurde 1948 geboren. Drei Jahre, nachdem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Der während meiner ganzen Kindheit das öffentliche Bewusstsein bestimmt hat. Dessen schlichte Allgegenwart mir vermittelte, dass er nach wie vor andauerte. Ich muss irgendetwas gesagt haben, wodurch meine Mutter auf meine Fehleinschätzung aufmerksam wurde. „Der Krieg ist seit über elf Jahren vorbei“, sagte sie. „Du warst noch nicht mal auf der Welt.“

Meine Mutter hat mich nicht überzeugen können. Ich hatte die Geschichte bereits als mein Geburtsrecht begriffen. Ich hatte meinen Anspruch, dabei gewesen zu sein, bereits angemeldet. Ich hatte schon in Büchern und Filmen gelebt, die den wilden Strudel der Zeit vor meiner Zeit darstellten. Ross Macdonalds Entfremdung war geografischer Natur. Er war von seiner amerikanisch-kanadischen Abstammung besessen. Meine Entfremdung beruhte auf der Diskrepanz zwischen der prosaischen Welt der Gegenwart und der historischen Welt meiner Fantasie.

Ich hatte eine Fotografie vom VJ-Tag, vom Tag des Sieges über Japan, im August 45 gesehen. Aufgenommen am Wilshire Boulevard in Los Angeles. Eine dunkelhaarige Frau winkt einem Militärlaster voller Soldaten zu. L.A. war meine Heimatstadt. Ich habe seit über fünfzig Jahren an diese Frau gedacht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer sie ist oder wer sie war.

Die jüngste Vergangenheit ist zum Greifen nah, während sie sich unserem Zugriff zugleich auf quälende Art entzieht. Sie ist die Projektionsfläche all derer, die mit einer lebhaften Fantasie geschlagen sind. Die Welt meiner Kindheit langweilte und quälte mich. Der Zweite Weltkrieg und die Rote Gefahr waren mir lieber als die zerrüttete Ehe und der Scheidungskrieg meiner Eltern. Ich lebte, um zu lesen, um Filme anzuschauen und um zu fantasieren. Wobei mein Geistesleben hauptsächlich aus historischen Fantasien bestand. Es war mit Nazi-Schurken und teuflischen Roten bevölkert, die sich mit provokativen Frauen zusammentaten. Ich bekam das Ende der Film-noir-Ära mit. Ich hatte mit meinem Vater Plunder Road (Großalarm beim FBI) gesehen. Über die Stränge schlagende Verlierer, die einen mit Goldbarren beladenen Zug plündern. Mein Vater spazierte nach dem Film den Hollywood Boulevard mit mir runter. Er sagte etwas von einem „Freundesbesuch“ und ließ mich vor einem schäbigen Wohnblock stehen.

Da wusste ich: Cherchez la femme. Erwachsene logen Kinder an und trafen heimliche Abmachungen. Das war mir schon damals klar. Rote Socken und Mafiosi logen Regierungskomitees an. Lügen bedeuteten, dass in Wirklichkeit was anderes passiert war. Was war wirklich passiert? Das werde ich nie erfahren. Ich muss mir eine Geschichte ausdenken, um alles plausibel und sexy auf die Reihe zu kriegen.

Geschichte.

Unbeabsichtigte Verwahrlosung. Die schwülen Taschenbücher, die meine Eltern frei herumstehen ließen.

Los Angeles, das Epizentrum des Film noir. L.A., am Ende der Ära des Film noir.

Wilshire Blvd by Sarah Ackerman, flickr

© Sarah Ackerman/Flickr.com

Mit zehn Jahren beschloss ich, Romanautor zu werden. Was ich ebenso als mein Geburtsrecht wie als letzte Chance empfand. Meine Mutter wurde im Juni 58 ermordet. Meine Beziehung zur Geschichte war genau lokalisiert und kriminalisiert worden. Ein durch die nahende Pubertät gespeister sexueller Subtext entwickelte sich.

Der Gedanke an meine Mutter und die nun nachweislich gesicherten Umstände ihres Todes taten weh. So sehr, dass ich mir eine junge Frau namens Elizabeth Short zu ihrer Stellvertreterin erkor. Elizabeth Short wurde 1947 in L.A. ermordet und als „Schwarze Dahlie“ berühmt. Ihr Leben und Sterben waren für mich der Anstoß, zum ersten Mal über eine durchgängige Fiktion nachzudenken. Während meiner späten Kindheit und Jugend nahm die Geschichte immer mehr Gestalt an. Ich wusste, dass ich Beth Shorts Geschichte als Roman niederschreiben würde. Das Buch wurde letztlich 1987 veröffentlicht. Ich war 39 Jahre alt und ein geübter historischer Fantast.

Mein handfestes Geschichtswissen war dürftig. Weit weniger fundiert als meine Fähigkeit, den Prozess des Darstellens im Sinne der Erzählung zu nutzen. Ich zog mir gesicherte Geschichte rein und kehrte immer wieder schnell zur Extrapolation und zum Erfinden zurück. Ich lebte den geheimen menschlichen Unterbau großer öffentlicher Ereignisse.

Ich durchlebte den Nachkriegs-Boom, den Korea-Krieg, die McCarthy-Anhörungen. Meine geistigen Geschichten schlugen sich in Kataklysmen nieder. Aufhebung der Rassentrennung in Little Rock und Jack Kennedys Aufstieg – Geschehnisse, in deren Zentrum letztlich meine menschlichen Dramen standen. Jack Kennedys Sturz, der Kampf um die Bürgerrechte, der Tod von Martin Luther King und Robert Kennedy. Skeptische Betrachtung, Auswahl, Konzentration.

Die Geschichte endete 1972. Ich wusste instinktiv, dass die Epoche, von der ich erzählen konnte, damit ihren Abschluss fand. Die nächsten vierzehn Jahre habe ich mir Geschichten von 1946 bis 1972 ausgedacht.

Die Ausflucht des Kindes. Die Spinnerei des missratenen Jugendlichen. Der Prosaübungsplatz des jungen Mannes.

Nachrichtenmagazine inspirierten mich. Bilder mit Unterschriften, die mir gerade genügend Fakten an die Hand gaben, um Erzählstränge zu knüpfen und loslegen zu können. Fernsehnachrichten beflügelten mich. Ich war dabei, als die Rosenbergs in Sing Sing auf den elektrischen Stuhl kamen und habe sie seelisch bei ihrem letzten Gang begleitet. Die Frau vom VJ-Tag-Foto traf in Dave’s Blue Room ihren Liebhaber. Die Confidential-Magazine meines Vaters boten die nötigen Andeutungen. Schlägereien in Lesben-Bars. Narki-Jazzmusiker. Stabreime und Ausdrücke mit „C“, die mit hartem „K“ geschrieben wurden.

Ich war ein besessener kleiner Junge, ein besessener Jugendlicher und ein besessener junger Mann. Ich war einsam und wusste nie, was ich mit mir anfangen sollte. Ich war alles andere als frühreif und ein wild entschlossener Autodidakt. Damals hatte ich Spaß und versuchte, die Zeit totzuschlagen. Heute versuche ich dies als Berufung zu begreifen. Meine Überlegungen kamen einer moralischen Erziehung gleich. Ich brachte mir selber bei, was Geschichte bedeutete.

Nationale Nachrichten. Vertriebene Kriegsflüchtlinge. Leichen, die sich in Belgisch-Kongo stapelten. Schnitt zu den Lokalnachrichten. Die kriminelle Karriere der „beiden Tonys“, die im August 51 mit deren Ermordung durch die Mafia endete. Aus nächster Nähe beigebrachte Schusswaffenwunden in knackigem Schwarz-Weiß.

Schockierende Fotografien. Entsprechende Texte. Herzzerreißendes Chaos und Verluste. Die Kosten übler Taten, von Nationen wie von Einzelpersonen begangen. Emmett Till – gelyncht im ländlichen Mississippi. Giftiger Rassenhass ganz groß geschrieben.

Ich blieb von all dem ungerührt. Alles fühlte sich unvollständig an. Alles wirkte ungeklärt und irgendwie zusammenhängend. Das sagte mir mein jugendliches Gefühl für Geschichte und meine lutherische Erziehung. Wir besitzen alle eine Geschichte, weil wir alle eine Seele besitzen. Alles fühlte sich nach einer Geschichte an, die nur ich so erzählen konnte.

Jugendlicher Größenwahn.

Die entscheidende Eigenschaft eines Romanautors.

Ich war ein Multimedia-Künstler, bevor das Konzept existierte. Ich machte aus kurz erblickten Frauen Heldinnen des Zweiten Weltkriegs und Göttinnen der kriminellen Unterwelt. Historische Fantasien retteten die angeschlagene Liebe, die ich hortete und die mir so viel bedeutete. Das war damals so und hat sich bis heute nicht geändert.

Lesen Sie nächste Woche: Teil 2 von Ellroys Amerika, in dem es um die Inspirationen für sein L.A.-Quartett und die darauf folgende Unterwelt-USA-Trilogie geht.


James Ellroy

James Ellroy

James Ellroy, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1979 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.

Foto: © Marion Ettlinger

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