Christoph Schlingensief gehörte zu den bekanntesten und vielseitigsten Kunstschaffenden in Deutschland. Heute jährt sich sein Todestag zum fünften Mal. Unser Autor Schorsch Kamerun erinnert sich an die Zusammenarbeit mit seinem Freund und Kollegen.
von Schorsch Kamerun
„Der Christoph ist am Bahnhof die deutschen Nazis abholen.“ Das sagte mir die Pressefrau des Schauspielhauses Zürich, an dem ich selbst zeitgleich mit Schlingensief ein Stück inszenierte. Nazis (wenn auch ehemalige) im Theater! Als Darsteller! Die Stadt war in Aufruhr. Klarer Fall. Typisch Schlingensief. Und ist das eigentlich politisch?
Wer das sofort genauer wissen wollte, hatte den Moment nicht verstanden. Denn in der ordentlichen Überprüfung solcher Schlingensief-Aktionen lag die Verlangsamung seines Schaffens. Umgekehrt: Genau das war sein ständiger Vorsprung. Weil er Sezierung für sich kaum zuließ. Er blieb dadurch immer einen Schritt schneller vor denen, die meinten, endlich ganz direkt und nah dran zu sein. Aber Pustekuchen: Exakt in diesen Momenten kam die Drehung. Intuitiv, wenig konzeptionell. Und der Irrglaube, mit „guter Vorbereitung“ auf seiner Höhe zu sein, war noch falscher. Denn der Ballast der herananalysierten Annäherung musste dann erst einmal wieder weggearbeitet werden, wenn es in seiner Kunst plötzlich um etwas ganz anderes ging.
Einmal saßen wir auf einer Probebühne, und warteten auf die Ankunft Schlingensiefs. Ich spielte in einem seiner Stücke mit. Alle Beteiligten und Dramaturgen randvoll mit Angeboten. Dann kam Christoph rein, und zeigte uns seinen ersten Film – den wir alle kannten –, um als Nächstes bekannt zu geben, er würde jetzt erst mal eine Woche nix machen wollen. Er hatte Zweifel. Großalarm! So viele sehr gute Dramaturgen hat man noch nie (gleichzeitig) auf (völlig unnötige) Touren kommen sehen. Anstatt die entstandene Lücke in der Betriebsmühle als Chance zu betrachten, wurde augenblicklich damit begonnen, das „Projekt zu retten“, und umso intensiver wurden weitere Materialmassen angekarrt, die dann erst recht nicht zum Zuge kamen.
Mir ist auch erst beim Mitmachen klar geworden, dass im Schlingensief-Kosmos nur eine gewisse Distanz (in der Arbeit, nicht privat) es überhaupt ermöglichte, „dabei zu sein“. Denn ein volles Eintauchen, ein Werten und Politisieren bedeutete im Schlingensief-Kosmos schlichte Absorbiertheit. Die Schönheit lag im Unverständnis. Wer auf der Bühne sein eigenes Ding machte, wurde mit Zugehörigkeit belohnt. Deshalb waren die vielen Laien, Behinderten oder selbst grob narzisstisch Gestörten die einzig authentisch Möglichen im Schauprozess Schlingensief. Weil sie parallel liefen, und dadurch wundersam frei blieben.

rio de janeiro / botanischer garten / frühjahr 2006 (© Schorsch Kamerun)
Auch die Berichteschreiber hatten nur dann eine interessante Draufsicht, wenn sie das Phänomen beschrieben und nicht die Qualität des einzelnen Vordergrundes, etwa einer gelungenen oder nicht gelungenen Aufführung oder eines Ausstellungsraumes mit Drehbühnenerinnerung („Animatograph“).
Sein Theater war permanent. Und immer gewollt allumfassend konsequent inkonsequent. Und eben: Christoph Schlingensief war kein politischer Künstler! Das greift zu kurz. Er spielte in vielen gleichzeitigen Räumen. Die waren Gesellschaft, Scheiße-Bauen, Kinderträume, Anti-Ideale, Kinderflüche, ultradirekte Philosophie, Selbst-Wagnis-im-Nichtaushalten, Kunstliebe, Befindlichkeit und „das Leben“ genauso wie „das Nichtleben“. Und in seiner Superbeweglichkeit war er der Superschnellste, was ihn zum konstant interessanten Medienkünstler machte.
„Ich habe euch bewiesen, dass man das Stück nicht spielen kann“, sagte er einmal nach einer Generalprobe. Absagen! Es sprach die Angst. Und wieder Panik von Theaterseite: Großala… !! Da war schon wieder „das Projekt in Gefahr“. Ich sagte ihm, er müsse ja nicht mitmachen, da wären genug andere dabei. Wir spielten am nächsten Tag schließlich doch – mit ihm. Er brauchte nur ganz kurz die mögliche Ausgangstür benannt zu haben, um umso heftiger voll in den Eingang hineinzutreten.
Und das ist sein größtes Verdienst: zu beweisen, dass es möglich ist, Kunst abzusagen. Die berühmte „Scheiter-Chance“. Ihm war der wirklich begonnene Gedanke viel wichtiger als die ordentliche Einhaltung dessen. Und das nennt man dann Freiheit. Doch weil Freiheit den Menschen trotzdem enden lässt, hat dem Selbstaushalter Christoph Schlingensief diese Erkenntnis immer nur sehr kurz etwas genützt. Also Dranbleiben. Stillstand ist Abstand. Dann lieber das nächste fette Teil in den gierigen Schlund der freudig bebenden Projekte-Bereitsteller pfeffern. Bewegung im Kochtopf entsteht immer noch durch Einheizen.
Und ich bin so dankbar, das gesehen zu haben. Wie frisch gewagt wurde. Wie neu ausprobiert wurde. Mit direktestem Einsatz. Es war in der jüngeren Vergangenheit der letzte Höhepunkt in einem riesigen Bänderwerk, bei dem die einzelnen Fäden aus den größten Probiermomenten gezogen wurden. Und allen wurde das total offen vorgelegt, jeder durfte reinschauen. Im Tagtraum.
Das fehlt ungeheuerlich. Die Lücke zwischen unseren realen Tagen und Christophs phantastischen Deutungen lässt sich für ganz lange nicht schließen. Und in dieser Ahnung hat meine Tante Anke gemeinsam mit unzähligen Gerührten einen intimen Verlust verspürt, als Christoph starb. Obwohl sie nur aus sicherer Entfernung sein Buch gelesen hatte.
Scheiß Stille.
Der Text erschien im Katalog Deutscher Pavillon: 54. Biennale Venedig 2011 im Kiepenheuer & Witsch Verlag
Weblinks
Die offizielle Website von Kameruns Band Die Goldenen Zitronen
Die offizielle Website von Christoph Schlingensief
Schlingensiefs „Operndorf Afrika”-Projekt in Burkina Faso