Alexander Osang und André Herzberg sind nicht nur befreundet, sie haben auch zur gleichen Zeit Bücher veröffentlicht, in denen es um Bands geht und ihren Weg durch die Zeit. Ein Gespräch unter Freunden über triste Nachmittage und darüber, warum man als Schreibender schlauer sein kann als im normalen Leben.
Den zweiten Teil des Gesprächs finden Sie auf Hundertvierzehn.de
Herzberg: Kennengelernt haben wir uns, weil ich auf dich gestoßen bin. Ich habe dich gesucht und gefunden. Und zwar hatte ich vorher etwas von dir gelesen.
Osang: Du hast mich damals, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wegen einer Rock gegen Rechts-Veranstaltung auf dem Alexanderplatz angesprochen. Das war nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, zu denen ich eine Reportage für die Berliner Zeitung geschrieben hatte.
Herzberg: Genau. Ich hatte diesen Artikel von dir gelesen. Und mir war aufgefallen, dass deine Beschreibung sich jenseits einer politischen Wertung bewegt hat, obwohl es sich um so ein Reizthema handelte. Das war eine Menschengeschichte und keine Klischeegeschichte von bösen Nazis. Das war jenseits des Politischen. Und das hat mich so beeindruckt.
Osang: Ich saß praktisch den ganzen Abend mit einem Typen, der gegenüber von diesem brennenden Wohnheim gewohnt hat, auf dem Sofa und habe mit ihm ferngesehen. Ab und zu kamen ZDF-Reporter rein. Weil die keine Klos hatten, waren sie bei ihm pinkeln. Der Mann hat mir seine Weltsicht erläutert, während der Fernseher lief, er sich betrunken hat und seine Frau immer rein- und rausging.
Auf jeden Fall war es so, dass du mich danach angesprochen hast, weil auf dem Alexanderplatz verschiedene Berliner Rockbands auftreten sollten, natürlich vor allem aus dem Osten Berlins.
Herzberg: Nur. Das war noch völlig getrennt.
Osang: Stimmt. Das war 1992 im Herbst. Das Konzert richtete sich gegen die Ausschreitungen. Du und Kerschowski, ihr habt das damals, glaube ich, organisiert.
Herzberg: Wir haben das organisiert.
Osang: Jedenfalls habt ihr mich gefragt, ob ich das moderiere. Sowas hatte ich noch nie gemacht. Ich kann mich erinnern, dass ich dann Angelika Weiz auf dem Alexanderplatz als „Geli“ vorgestellt habe. Sie sagte mir dann sofort: „Geli nennen mich nur meine Freunde“. Vor Publikum. Ich wäre am liebsten gegangen.
Herzberg: Na ja.
Osang: Ich fühlte mich sofort daran erinnert, dass ich mich damit total verhoben hatte. Ich bin Schreiber, kein Moderator.

André Herzberg (Foto: Benjamin Vieth)
Herzberg: Ich wollte aber unbedingt, dass du das machst, weil ich diese Reportage von dir gelesen hatte und keinen blöden Moderator wollte, der mit serviler Stimme alles und jeden ankündigt. Ich wollte etwas Persönliches haben, und ich fand deine Art, wie du über die Ereignisse berichtet hattest, so persönlich, dass es mich irgendwie reingezogen hat. Deswegen wollte ich unbedingt, dass du das machst. Und du hast dich dann auch darauf eingelassen.
Osang: Absolut. Ich war ja auch stolz. Ich meine, ich war ja auch ein Riesenfan von dir und deiner Band.
Herzberg: Das wusste ich damals aber noch gar nicht.
Osang: Na ja, das hatte ich dir ja auch noch nicht erzählt.
Herzberg: Das hättest du aber auch früher machen können.
Osang: Das ist nicht so einfach. Ich war ein richtiger Fan. Ich habe Pankow-Platten bei offenem Fenster abgespielt – in der Hoffnung, dass irgendein Band-Mitglied vorbeiläuft und sich freut, dass da ein Fan wohnt. In Karlshorst, wo ich damals lebte, liefen aber keine Rockmusiker herum. Und während meines Studiums in Leipzig hat Pankow mal in der Moritzbastei gespielt. Da hab ich versuchte für unsere Studentenzeitung ein Interview mit dir zu machen. Du bist sofort abgehauen, als ich da in der Tür eurer Garderobe stand. Du hattest null Interesse daran.
Herzberg: Das weiß ich gar nicht mehr.
Osang: War aber so. Nur Jürgen Ehle ist pflichtbewusst dageblieben. Mit dem habe ich anschließend das Interview gemacht. Es ist aber nie gedruckt worden.
Das erste Mal auf Augenhöhe sind du und ich uns dann bei der Veranstaltung am Alexanderplatz begegnet. Und da war ich natürlich total beeindruckt. Später hast du mich dann mal gefragt, ob ich einen Text für das Booklet eures Albums „Tohuwabohu“ schreibe. Und dann saßen wir da bei dir, die Katze lief herum, und ich habe auch etwas geschrieben. Dabei fällt es mir extrem schwer, solche Sachen zu machen, weil die Schreibhaltung eigentlich nicht meiner Schreibhaltung entspricht. Man hat ja von vornherein die Abmachung, dass man irgendwie etwas bewirbt. Aber ich fand die Platte toll, und insofern ging es.
Herzberg: Du hast aber auch nicht über die Musik geschrieben, du hast über mich privat geschrieben. Über die Musik oder die Texte auf dem Album hast du dich ja eigentlich gar nicht geäußert.
Osang: Ich kann mich gar nicht erinnern. Aber später hat Toni Krahl mich gefragt, ob ich etwas für Keimzeit schreibe. Da habe ich wirklich zwei Nächte durchgeschwitzt. Ich konnte das nicht, weil ich kein Verhältnis zur Band hatte.
Herzberg: Das ist merkwürdig. Man muss ja nicht zwingend über die Leute schreiben, sondern kann sich auch zu den Liedern und Texten äußern.
Osang: Jeder hat halt seine Stärken. Und ich bin eben kein Kritiker.
Herzberg: Aber was hat das mit Kritik zu tun?
Osang: Ein Album zu besprechen ist gewissermaßen wie ein Buch zu besprechen. Da nimmt man die Haltung des Kritikers ein.

Alexander Osang (Foto: Benjamin Vieth)
Herzberg: Wenn du Musik liebst, hast du doch nicht nur sozusagen die Liebesgefühle dazu, sondern du hast ja auch etwas, was dich reinzieht oder auch langweilt. Zeilen, die du gut oder weniger gut findest. Gut, es gibt vielleicht Kriterien, warum das so ist und die das dann, wenigstens scheinbar, ein bisschen objektiver machen. Aber letztendlich, glaube ich, geht es um das Beschreiben der Gefühle, die man ausdrücken will. Das ist doch beim Schreiben auch nicht anders.
Osang: Das ist schon ein bisschen anders, finde ich. Musik und Literatur oder auch bildende Kunst sind ja schon Produkte eines Künstlers, der auf die Realität blickt. Die Realität ist da schon gebrochen.
Herzberg: Das ist sie doch aber immer.
Osang: Die Realität an sich nicht. Die ist erst mal Realität.
Herzberg: Aber ja. Bei einer Reportage hat man doch auch immer den Blick eines Einzelnen. Das ist es ja, was ich an deiner Arbeit als Reporter am allermeisten bewundere. Ich habe beim Lesen das Gefühl, dass ich das genauso sehe. Ich sehe das, ich sehe dich, aber ich suche vor allem diesen Blick. Ich bin durch deine Augen sozusagen dabei. Das schaffst du.
Osang: Das kann ich nachvollziehen. Das macht die Reportage aus. Sie ist die Welt in den Augen des Reporters. Aber wenn ich jetzt eine Platte habe, dann ist das sozusagen nicht mehr ein Blick auf die Realität, sondern ein Blick auf einen, der die Realität beschreibt. Und das ist ein bisschen etwas anderes.
Herzberg: Nee.
Osang: Finde ich schon.
Herzberg: Für dich. Weil du auf die Musiker, weil du auf den Künstler schaust. Aber der Künstler ist ja nur das Medium. Entscheidend ist das Lied, die Musik, die Sache.
Osang: Mir fällt es jedenfalls schwer. Vielleicht liegt es aber auch bloß an der Abmachung, weil da ein Freund ist, der dich darum bittet, etwas dazu zu schreiben.
Herzberg: Das verstehe ich. Das ist so, weil wir uns kennen.
Osang: Genau.
Herzberg: Oder weil wir uns mögen, was für die Arbeit sozusagen noch schlimmer ist. Mir würde es auch schwerfallen, eine Reportage von dir zu bewerten – wie der Lehrer, der mit dem Rotstift durch den Aufsatz fährt, am Ende einen Strich macht und „Ausdruck: 3” oder sowas darunter schreibt.
Osang: Ja, und es ist mit den Jahren komplizierter geworden, weil wir uns natürlich besser kennengelernt haben. Ich meine, wir haben damals auch noch etwa zur gleichen Zeit Kinder bekommen. Wir sind mit unseren großen Söhnen zusammen in den Urlaub gefahren. Wir sind auch ein paar Mal zusammen aufgetreten, beispielsweise in der Kalkscheune und in Cottbus. Kannst du dich noch erinnern?
Herzberg: Natürlich.
Osang: Du warst mit kleiner Besetzung da. Ich habe gelesen, ihr habt gespielt. Bevor ich nach New York gegangen bin, hatte ich so eine Art Abschiedsshow im Roten Salon der Volksbühne, wo Schauspielerinnen aus meinen Texten gelesen haben. Und du hast gespielt.
Herzberg: Ja. Was mich daran interessiert hat, war eben, dass deine Texte einer bestimmten Sicht auf die Wirklichkeit so nahe kommen. Und du sagst ja selbst, dass es beim Vortrag immer wieder Momente gibt, wo der Held besser singen als einfach nur sprechen würde. Sowas wünsche ich mir. Du schreibst so eine Geschichte und ich singe dazu.
Osang: Das ist so ein Berührungspunkt zwischen uns. Und das ist eben auch ein Grund, warum ich Pankow schon damals so mochte und warum ich dich mochte, weil du mir in Liedern wie „Inge Pawelczik“ oder „Doris“ Geschichten aus dem Leben erzählt hast. Ich habe gefühlt, wie das da in dem Hinterhaus ist, wie diese Marmeladenstullen aussehen, wie du sozusagen am nächsten Morgen aufbrichst. Wenn ich das heute höre, sehe und rieche ich Ost-Berlin in den 80ern.
Herzberg: Das ist sowas, was Journalisten im Osten nicht gemacht haben.
Osang: Genau. Ihr habt teilweise die Rolle gespielt, die Journalisten, aber auch andere Rockbands, nicht erfüllt haben.
Herzberg: Aber diese Rolle nehme ich immer noch ein.
Osang: Ich habe das immer in Rocksongs gesucht und geliebt. Geschichten. Aber es gibt auch Leute, die sich von Yes oder Karat angesprochen fühlen, weil das eine Art Weltflucht in so eine Fabelwelt ist, in der Schwäne herumfliegen. Das hat mir eigentlich nie irgendwas bedeutet. Viele Osttexte waren mit riesigen Metaphern beladen. Da wusste man am Ende gar nicht mehr, worum es eigentlich geht. Und das war bei Pankow und dir eigentlich nie so. Das waren Geschichten, die mich interessiert haben.
Herzberg: Im Grunde ist das ja gar nicht so schwer. Es war nur in der DDR so bescheuert, weil man die Wirklichkeit quasi nicht beschreiben durfte. Es war aufgrund der Ideologie praktisch unmöglich, einen einfachen Satz zu bilden.
Osang: Ich finde, es ist auch heute schwer, im Pop oder Rock eine einfache Geschichte zu erzählen. Sonst würde es mehr davon geben. Wenigstens ist das mein Eindruck.
Herzberg: Das ist eine Frage der Veranlagung und des Blicks. Ich habe gerade Oskar Roehler gelesen. Der traut sich ins eigene Arschloch zu sehen, wie die Scheiße da rauskommt. Wie er schreibt, die Konsistenz nachfühlen.
Osang: Interessant.
Herzberg: Ich will damit nur beschreiben, dass es eine Frage des Blicks ist. Der kann sehr verschieden sein.
Osang: Das ist ja schon ein sehr spezieller Blick, finde ich. Aber es geht nicht nur um den Blick, sondern auch um das, was man für mitteilenswert hält. Am Ende ist es ja immer eine Auswahl aus den vielen Dingen, die uns begegnen. Und die Frage ist, wofür man sich entscheidet. Das ist ein Problem meines Berufsstandes. Über deinen kann ich gar nicht so viel sagen, weil ich da nicht gearbeitet habe. Aber viele Journalisten oder auch ganz grundsätzlich Autoren halten Dinge oft für zu klein, um sie mitzuteilen.
Und für mich ist eben manchmal gerade sowas am interessantesten, wie wenn du in „Langeweile“ sagst: „rohe Spaghetti zu viel gekaut”. Ein ganz tolles Bild, weil ich das von so Sonntagnachmittagen meiner Jugend kenne, wo die Zeit stehen zu bleiben scheint. Wenn man dann zum Küchenschrank geht und so auf rohen Spaghetti rumkaut.
Herzberg: Hast du das auch gemacht?
Osang: Klar.
Herzberg: Ach was.
Osang: Und dieser Geschmack, der steht für mich für irgendwas. Sowas muss man erstmal irgendwie hinschreiben, und dann kann das natürlich auch was mit den Leuten machen. Mit anderen macht es eben nichts, weil sie überhaupt nichts damit anfangen können. Aber ich finde, viele Leute entscheiden sich, auch im Journalismus, zu oft für einen zu offiziellen Blick.
Herzberg: Ich habe diese Zeile mit den Spaghetti einfach hingeschrieben, weil es so war, wie du sagst. Ich dachte immer, ich wäre der einzige gewesen. Jetzt höre ich erstaunt, du hast auch rohe Spaghetti gegessen.
Das kam eigentlich daher, weil wir das Rauchen nachgeahmt haben. Und zwar gab es im Osten Maccheroni, die waren aber für meine Zwecke zu lang. Ich hatte von meiner Mutter nämlich ein Zigarettenetui geklaut, so ein silbernes Ding, das man aufklappen konnte, mit so einem Gummi, das die Zigaretten festhielt.
Osang: Ich kann mich sehr gut erinnern an diese Zigarettenetuis.
Herzberg: Und da habe ich die Maccheroni auf die richtige Länge abgeknackt und da reingemacht. Mit den Maccheroni konnte man gut rauchen, weil die so ein Loch in der Mitte hatten. Aber die wurden natürlich nicht kleiner. Da ist ja keine Glut dran. Also knabberst du die so ab, um das Rauchen nachzumachen. Und irgendwann, wenn keine Maccheroni mehr da sind, nimmst du halt Spaghetti, weil du dir diesen Mist ja angewöhnt hast. Und am Ende bleibt da so eine Angewohnheit übrig, die irgendwas mit Depression zu tun hat.
Osang: Oh.
Herzberg: Ja klar. Vor dem Fernseher sitzen, Chips essen, Nüsse essen – das ist am Anfang lustvoll. Am Ende stopfst du nur noch rein und frisst das und denkst, aaah, den Film habe ich ja schon tausend Mal gesehen, aaah, ist das blöd. Aber du kannst ja nicht mehr anders.
Osang: So war das bei mir nicht. Bei mir war das schon so eine Art Chips-Ersatz, weil es ein bisschen geknistert und die Spaghetti-Packung so ein bisschen geraschelt hat. Und dann bist ich an den Schrank gegangen, in dem keine Chips waren, leider nicht, und habe ein bisschen auf den Dingern herumgekaut. In meiner Erinnerung war das jetzt kein Zeichen für Depression, sondern von totaler Langeweile. Meine Eltern waren auf dem Wochenendgrundstück, meine Kumpels verreist. Niemand war da, und die Zeit stand still.
Herzberg: Na gut, ob du das noch Langeweile oder schon Depression nennst, ist eine Frage, die ein Therapeut vielleicht anders beantworten würde.
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Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chef-reporter der Berliner Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Nach acht Jahren als Reporter für den »Spiegel« in New York lebt er heute wieder in Berlin. Alexander Osangs erster Roman ›die nachrichten‹ wurde verfilmt und mit zahlreichen Preisen, darunter dem Grimme-Preis, ausgezeichnet. Im S. Fischer Verlag und Fischer Taschenbuch Verlag liegen darüber hinaus vor die Romane ›Lennon ist tot‹ und ›Königstorkinder‹, die Reportagenbände ›Im nächsten Leben‹ und ›Neunundachtzig‹ sowie die Glossensammlung ›Berlin – New York‹.