Wie viel kann einem einzelnem Menschen widerfahren? Im Falle unserer Autorin Ruth Hogan ist die Pechsträhne schier endlos: Nach einem Unfall verliert sie ihren Job, ein gesichertes Einkommen sowie das lang ersparte Haus, nur um dann zu erfahren, dass es äußerst kritisch um ihre Gesundheit steht. Wie sie es dennoch geschafft hat, positiv in die Zukunft zu blicken und ihr Unglück ins Positive zu wenden? Das erzählt sie in ihrem Essay, das Tragik und Komik vereint.
von Ruth Hogan
Im Wildwasser
Vor ein paar Monaten war ich zum ersten Mal an der Küste Kajak fahren. Eigentlich wollte ich gar nicht, aber Paul, mein Mann, hatte mir eine ruhige See und einen zauberhaften Morgen versprochen, an dem wir die verwunschenen Buchten und schroffen Felsen von Pembrokeshire erkunden würden. Was mich stattdessen erwartete, waren turmhohe Wellen, gefährliches Wildwasser und eine Fahrt, bei der alle anderen Mitglieder der Gruppe (bis auf den Lehrer) kenterten. Ich war eine Stunde lang damit beschäftigt, mich in meinem Kajak zu halten, während die anderen verzweifelt versuchten, in ihren zurückzufinden.
Es war genau so, wie ich es befürchtet hatte. Aber wissen Sie was? Ich fand es aufregend und habe jeden Augenblick genossen. Obwohl ich die einzige Einsteigerin in der Gruppe war, gelang es mir es, auf den Wellen zu reiten und nicht aus meinem Kajak zu fallen. Als wir schließlich ans Ufer zurückkehrten, erzählten uns ein paar Wanderer, dass sie drauf und dran gewesen seien, die Küstenwache zu alarmieren, weil unsere Lage so brenzlig ausgesehen habe. Würde ich es noch einmal tun? Ohne mit der Wimper zu zucken.
Mein Leben ist nie eine ruhige See gewesen, aber es hat eine Weile gedauert, bis ich auf den Wellen, die mich unter sich zu begraben drohten, zu reiten gelernt habe. Als ich vor 20 Jahren an einer Ampel stand, rammte ein Auto mit solcher Wucht von hinten in meinen roten Suzuki Vitara, dass er ein Totalschaden war. Ich erlitt eine Rückenverletzung, die mir chronische Schmerzen bereitete, und war nicht mehr in der Lage, Vollzeit zu arbeiten. Mit der Karriere als Personalerin in der Gemeindeverwaltung, für die ich so hart gearbeitet hatte, war es vorbei. Ich verbrachte meine Tage zusammengekauert auf dem Sofa und schaute in dem Wissen, dass ich am Ende jeder Sendung wieder ein paar Schmerzmittel einnehmen durfte, This Morning mit Richard und Judy.
Verletzungen und Verluste
Das Timing war, wie meine Rückenverletzung selbst, außerordentlich schmerzhaft. Der Unfall ereignete sich kurz nach einer aufreibenden Scheidung und meinem ersten eigenen Hauskauf, zu dem eine erhebliche Hypothek gehörte. Mein Leben drehte sich nur noch darum, dass ich alle vier Stunden Medikamente nahm, um sowohl das körperliche als auch das seelische Leiden zu betäuben.
Vier Jahre später waren meine Schmerzen noch immer so stark, dass ich nicht arbeiten konnte, als das lauschige viktorianische Cottage, für das ich so viel auf mich genommen hatte, überschwemmt wurde und absackte. Meine Hypothekenzahlungen wurden – dankenswerterweise – ausgesetzt, aber ich hatte kein Geld und musste während der monatelangen Begutachtungsphase mit dem Schaden leben. Dann starb mein viel geliebtes Pferd Duke, eine schöne Connemara-Kreuzung, die 14 Jahre lang mein treuer Begleiter gewesen war. An diesem Punkt hätte es mich kein bisschen überrascht, wenn obendrein noch eine Heuschreckenplage dazugekommen wäre. Anfangs haderte ich mit der Ungerechtigkeit des Ganzen. Die Nächte, die ich damit vergeudet hatte, Zusatzqualifikationen zu erwerben, auf die ich jetzt nie wieder zurückgreifen würde, während meine Freunde sich draußen eine gute Zeit machten. Der blasierte, junge Mistkerl im geschniegelten Anzug, der mir hinten reingefahren und ungeschoren davongekommen war. Das Cottage, auf das ich so stolz war, und mein wunderbares Pferd, mit dem ich so viel erlebt hatte. Aber die Strömung, gegen die ich anschwamm, war zu stark. Das waren Dinge, an denen ich nichts ändern konnte, und gegen sie anzukämpfen, laugte mich nur aus. Also gab ich auf. Ich stellte das Kämpfen ein. Ich vegetierte einfach nur noch tagein tagaus in einem Nebel aus Schmerzmitteln und einem Gefühl von – frei nach Pink Floyd – komfortabler Taubheit vor mich hin.
Erst nach zwei Jahren Antidepressiva und einem langen, schonungslosen Blick auf mein Selbstmitleid ausdrückendes Spiegelbild sorgte ein Erweckungsmoment für etwas mehr Klarheit. Mir ging endlich auf, dass die einzige Sache, die ich ändern konnte, meine Einstellung war. Als großer Fan von Ed Harris schaute ich gerade zum x-ten Mal „The Abyss“, und ein Satz daraus berührte mich ganz besonders: „You have to look with better eyes than that. “. Seltsam, ich weiß, dass einer meiner Lieblingsstreifen ausgerechnet ein Katastrophenfilm ist, der unter Wasser spielt, aber ich habe eine Schwäche für Happy Ends, und in dem Fall ist es ebenso unwahrscheinlich wie überraschend. Und als ich mit besseren Augen hinsah, erblickte ich etwas ähnlich Überraschendes. In Wahrheit hatte der Unfall mich befreit. An der lähmenden Sicherheit eines regelmäßigen Einkommens und der Aussicht auf eine ordentliche Rente hatte ich nie wirklich Gefallen gefunden. Ich erkannte, dass ich mich mit den Wellen bewegen und von ihnen vorwärtstreiben lassen musste, wenn ich nicht untergehen wollte. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, meinen vagen Traum aus Universitätszeiten wiederzubeleben und „irgendetwas mit Englisch“ zu machen.
Schlimmer geht immer
Der Traum, den ich unter den Belanglosigkeiten des Alltags begraben hatte und dem ich jetzt neues Leben einhauchen konnte. Dank der osteopathischen Behandlung begannen meine Rückenschmerzen zurückzugehen, und ich nahm eine Teilzeitstelle in der Klinik an, um die Rechnungen zu bezahlen. Schließlich fing ich damit an, einen Roman zu schreiben. Ich hatte keine Karriere mehr, keine Sicherheit und keine Ahnung, was als nächstes kommen würde, aber es war ungemein belebend. Schon die Tatsache, dass ich dieses Risiko einging, war für mein Selbstvertrauen wie ein Neustart. Endlich tat ich etwas, das mich begeisterte. Ich unterschrieb bei einem Literaturagenten, und es kündigte sich sogar ein Buchvertrag an.
Aber es lag noch mehr raue See vor mir. Der Unterschied bestand darin, dass ich diesmal besser darauf vorbereitet war. Der Unfall hatte mein physisches Rückgrat beschädigt, aber mein sprichwörtliches gestärkt. Ich erinnere mich noch an jedes Detail meines Termins im Krankenhaus. Die Schachtel Taschentücher auf dem Tisch, die besorgt dreinblickende Krankenschwester, die sorgsam gewählten Worte des Arztes und den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht, als er meine Reaktion vernahm. „Okay, aber können wir uns bitte ranhalten und die Sache durchziehen. Für sowas bin ich gerade wirklich zu beschäftigt.“ Ich versuchte erst gar nicht, ein tapferes Gesicht aufzusetzen. Seine Diagnose war unmissverständlich: Brustkrebs, Stadium III, leicht befallene Lymphknoten. Aber ich war entschlossen, das meiner Traumkarriere, die so lange gebraucht hatte, um in Gang zu kommen, nicht im Weg stehen zu lassen.
Am Rand der totalen Erschöpfung
Keinen Krebs zu haben, stand nicht zur Wahl. Aus meiner Erfahrung nach dem Unfall wusste ich mittlerweile aber, dass man die Sache wie den Tintenklecks beim Rorschachtest auf mehr als nur eine Weise betrachten konnte. Nach der Operation war ich völlig lädiert. Sechs Runden Chemo machten aus mir einen widerlichen Glatzkopf mit Schlafstörungen, einem Gesicht wie ein Backenhörnchen und einem Verlangen nach Brechbohnen. Und die dreiwöchige Strahlenbehandlung brachte mich an den Rand der totalen Erschöpfung.
Aber ich konzentrierte mich darauf, dass mir die Schlaflosigkeit eine Gelegenheit zum Schreiben bot. Bewaffnet mit Nachschlagewerken, einer Pulle Minztee und einem Verstand, der übersprudelte wie eine durchgeschüttelte Brauseflasche (was an meinen Medikamente gelegen haben könnte!), schrieb ich die Nächte wie eine Besessene durch. Das Ergebnis war „The Keeper Of Lost Things“ („Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge“), ein Roman, der schon in 15 verschiedenen Ländern verkauft wird.
Die Angestellten, die für meine Chemo-Gruppe verantwortlich waren, erzählten mir, dass sie regelmäßig darüber spekulierten, in was für einem todschicken Outfit ich wohl diesmal aufkreuzen würde. Dass ich mich in Schale warf, sorgte bei mir für ein besseres Gefühl und bei den anderen für ein Lächeln. Ein Mitpatient, der an einem Hirntumor litt, hielt nach eigener Aussage täglich nach mir Ausschau – einfach nur, weil er sehen wollte, welche Farbe meine Stiefel hätten! Einige der wunderbaren Menschen, die ich während meiner Behandlung getroffen habe, sind zwar nicht mehr am Leben, aber die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit macht mich jeden Tag dankbar dafür, dass ich es bin. Auch für die Zeit, die ich mit meinen Freunden in zahlreichen Krankenhauswartesälen verbracht habe, bin ich dankbar. Sie hat unsere Freundschaft auf eine neue Ebene gehoben. Meine fünfte Chemo-Runde war die schlimmste, und die Freundin, die mich damals begleitete, spürte das, ohne dass wir ein Wort darüber wechselten. Sie las von meinem Gesicht ab, dass alles, was ich von ihr brauchte, war, dass sie still dasaß, während ich die Zähne zusammenbiss und die Sache durchstand. Und genau das tat sie.
„Krebs, Krebs, Krebs, Krebs, Krebs!“
Ich sage nicht, dass es einfach war. Mein Ehemann und meine Eltern waren entsetzt und am Boden zerstört. Ich hatte ihnen nichts von dem Knoten erzählt, den ich entdeckt hatte, weil ich sie nicht unnötig beunruhigen wollte, falls er sich am Ende als harmlos herausstellen sollte. Meine Mutter brachte das „K-Wort“ erst gar nicht über die Lippen. Jedes Mal, wenn ich also das Haus meiner Eltern betrat, stieß ich die Tür auf und brüllte „Krebs, Krebs, Krebs, Krebs, Krebs!“. Am Anfang verstörte das meine Mutter, aber irgendwann hatte ich sie so weit. Wir machten uns einen Jux daraus, und sich an das bloße Wort zu gewöhnen, vertrieb die Angst. Das war auch gut so. 2013, einen Tag vor meiner letzten Strahlentherapie-Sitzung, wurde bei meinem Vater ein multiples Myelom, eine Art Knochenmarkkrebs, diagnostiziert. Ich begleitete ihn zu all seinen Krankenhausterminen. Die Tatsache, dass ich mich auf vertrautem Gelände bewegte, machte die Sache sehr viel leichter. Nachdem sie sein Repertoire an fürchterlichen Witzen und Anekdoten angehört hatten, sagten die Krankenschwestern, mein Vater und ich seien das perfekte Duo.
Würden Sie mich fragen, ob ich irgendetwas ändern wollte, würde ich in den meisten Fällen mit Nein antworten. Natürlich bin ich dankbar, dass ich jetzt seit drei Jahren krebsfrei bin. Aber ich bin auch tapferer, mein Leben ist angenehmer, meine Beziehungen sind gefestigter, und ich bin widerstandsfähiger, als ich mir das jemals zugetraut hätte. Ich habe gelernt, mit besseren Augen hinzusehen.
Das Buch
Jeder Gegenstand, den Anthony Peardew auf der Straße findet, hat eine Geschichte. Er sammelt und archiviert sie alle in seinem gediegenen viktorianischen Haus und plant, sie eines Tages an ihre ursprünglichen Besitzer zurückzugeben. Denn er selbst sieht sich nur als Hüter der verlorenen Dinge. Vor Jahren hat er selbst etwas verloren, das er seitdem auf seinen Streifzügen sucht: ein Schmuckstück. Es gehörte seiner großen Liebe, und das Medaillon verbindet sie noch immer mit ihm. Anthony muss diese besondere Aufgabe jedoch an seine Erbin Laura weitergeben, ohne ihr von dem großen Geheimnis erzählt zu haben, das seine Sammlung umgibt.
Links
„Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage