„… und dann endet es“

2015 erfährt die australische Autorin Cory Taylor, dass sie an Krebs sterben wird. In ihrem Roman „Sterben: Eine Erfahrung“ reflektiert sie nüchtern und zugleich persönlich ihr Leben und den nahenden Tod. Ulrike Kretschmer hat das Buch ins Deutsche übersetzt. Hier erzählt sie, wie sehr sie Cory Taylors offene und ruhige Auseinandersetzung mit dem Tod berührt hat. 

 

Titelbild

Von Ulrike Kretschmer

Es war am Tag meines Geburtstages, im Juli 2016, als ich erfuhr, dass Cory Taylor gestorben war. Ohne das Klischee bemühen zu wollen, wie nah Leben und Tod doch manchmal beieinander liegen, hat mich die Nachricht von ihrem Tod vielleicht gerade an diesem Tag besonders getroffen – und auch überrascht.

Warum überrascht? Schließlich wusste ich von ihrem Sterben, hatte kurz zuvor ihr wundervolles, unbeschreiblich anrührendes Buch „Dying: A Memoir“ gelesen und stand nun vor der Aufgabe, nicht nur ein Buch, sondern gewissermaßen ein Testament zu übersetzen.

2005, kurz vor ihrem 50. Geburtstag, erhielt Cory von ihrem Arzt die unerbittliche Diagnose „malignes Melanom“, umgangssprachlich auch Hautkrebs genannt. Obwohl die Erkrankung barmherzig langsam fortschritt, streute der Krebs, befiel andere Körperstellen und innere Organe und machte im Laufe der folgenden zehn Jahre mehrere Operationen ungewissen Ausgangs erforderlich. Dies nun ist die Ausgangssituation des Buchs, der Beginn einer erstaunlichen Reise, deren Ausgang wiederum alles andere als ungewiss ist.

Prozess der Bewusstwerdung

Welche Art Buch erwartet man, wenn man den Titel „Sterben: Eine Erfahrung“ liest? Wie der Untertitel „Eine Erfahrung“ bereits nahelegt, betrachtet Cory ihr Sterben mit verblüffender Nüchternheit, als ob Sterben eben nur eine Erfahrung von vielen im Leben wäre, wenn auch eine ungeheuer komplexe. Statt nach metaphysischen Antworten auf die große Frage des Todes zu suchen, sucht sie nach ihren ureigensten Wurzeln,– was jedoch nicht bedeutet, dass sie sich nicht auch mit religionsphilosophischen Aspekten wie etwa der buddhistischen, aber auch christlichen Haltung zu Leben, Tod und Wiedergeburt/Wiederauferstehung auseinandersetzt.

Die Geschichte ihrer Familie wird  beleuchtet, Großmutter, Tante, Geschwister, Mutter, Vater, immer schmerzhaft ehrlich, immer ohne Nostalgie und nie ohne Liebe. Sie forscht in ihrer Kindheit, die sie an so exotischen Orten wie Afrika und den Fidschi-Inseln verbracht hat, nach dem Augenblick, in dem sie sich zum ersten Mal ihrer Existenz bewusst wurde, nach dem Augenblick, „in dem mir das Bewusstsein geschenkt wurde“. Und der ist nun – zufällig? – auch der Augenblick, in dem sie das erste Mal ganz bewusst den Tod erlebt: Ein Vogel fängt einen Skink und frisst ihn. In diesem Moment wird sich Cory nicht nur ihrer Identität bewusst – „das bin ich hier […] und das bist du dort“ –, sondern hat auch eine elementare Erkenntnis: „Die Dinge leben, bis sie sterben. Das Bewusstsein beginnt, und dann endet es.“ Ebenso nüchtern betrachtet Cory auch ihren baldigen Tod, nüchtern, aber absolut frei von Sarkasmus und Zynismus.

 

Bild für Beitrag Skink_found_in_Sri_LankaEin Skink  

Bedeutet diese Nüchternheit Kühle und Distanz? Nicht im Geringsten. Corys Buch ist zutiefst persönlich. Sie stellt sich ihren Gefühlen, zeigt sich dem Leser, auch in den traurigen, den schwarzen Momenten, in der unmitte(i)lbaren Einsamkeit der Sterbenden. So schildert sie beispielsweise, was sie vermissen wird, wenn sie tot ist, und fügt hinzu: „Was ich nicht vermissen werde, ist das Sterben. Es ist das bei Weitem Schwerste, das ich je getan habe, und ich bin froh, wenn es vorüber ist.“ Daneben aber spürt der Leser noch etwas anderes: Kraft, Humor und – Lebendigkeit. Das ist der bleibende Eindruck nach der Lektüre des Buchs: der einer äußerst vitalen Frau, die in dem Leben aufgeht, von dem sie sich gleichzeitig verabschiedet. Vielleicht kam die Nachricht ihres Todes deshalb so überraschend für mich.

Von der Bewusstwerdung zur Bewusstmachung

Ihr letztes Buch – Cory hat neben mehreren Drehbüchern auch zwei mit Preisen ausgezeichnete Romane verfasst, „Me and Mr. Booker“ und „My Beautiful Enemy“ – schildert jedoch nicht nur den Prozess einer Bewusstwerdung; es ist auch der leidenschaftliche Vorstoß einer Bewusstmachung. Indem sie über den Tod, ihren Tod, spricht, fordert sie uns auf, das Gleiche zu tun: den Tod nicht mehr als Tabuthema zu behandeln, denn das macht den Sterbenden nur noch einsamer. Auf zwanglose Weise zwingt ihr Buch Übersetzer und Leser gleichermaßen dazu, sich mit dem Tod, der für uns alle unausweichlich ist, auseinanderzusetzen. Das ist weder für den einen noch für den anderen einfach, denn es gilt, all die Emotionen und Gedanken, die Corys Worte auslösen, einerseits im Zaum zu halten und sich auf das tatsächlich Geschriebene zu konzentrieren, andererseits aber nicht völlig auszublenden, denn sie schwingen unweigerlich immer mit. Dies erklärt vielleicht auch das Phänomen, über das sich viele Leser des Buchs wundern: Da hält man nun einen schmalen Band von noch nicht einmal 200 kleinformatigen, locker bedruckten Seiten in der Hand und hat das Gefühl, wie in Krishnas Mund das ganze Universum zu erblicken.

Ein besonderes Anliegen ist es Cory, für den Tod als einen selbstbestimmten Tod zu plädieren. Gleich zu Beginn ihres Buchs stellt sie unmissverständlich klar, dass sie sich die Mittel verschafft hat, ihrem Leben dann ein Ende zu setzen, wenn sie es für richtig hält: „Mein Medikament aus China ist ein Pulver. Ich bewahre es gemeinsam mit einem Abschiedsbrief in einem luftdicht verschlossenen Beutel an einem sicheren und geheimen Ort auf.“ Es ist ihr Lebenselixier, die Wahl, die ihr trotz des Sterbens immer bleibt. Dass sie schließlich doch „kalte Füße“ bekommt und das Pulver bleibt, wo es ist, liegt daran, wie in unserer westlichen Gesellschaft mit dem Thema Sterbehilfe umgegangen wird: entmündigend, tabuisierend, verlogen, wie Cory findet. Das Sterben war eine Erfahrung, der sie sich unterziehen musste, der sich jeder von uns eines Tages unterziehen muss; doch für ihren Tod wollte sie als versierte Drehbuchautorin selbst die Regie übernehmen. Sie wünschte ihn sich im Kreise ihrer Familie und Freunde, in der Geborgenheit bei ihrem Ehemann Shin und ihren Söhnen Nat und Dan. Glücklicherweise ist ihr dieser Wunsch erfüllt worden, auch ohne chinesisches Pulver.

Ein guter Tod und sein Vermächtnis

In einem Nachruf auf Cory Taylor stand: „Sie änderte ihre Sichtweise auf den Tod und damit unsere Einstellung zum Leben.“ Keine zwei Wochen vor ihrem Tod führte der Autor und Moderator Richard Fidler für den australischen Radiosender ABC ein Interview mit ihr – bei ihr zu Hause, denn zu diesem Zeitpunkt war Cory schon sehr schwach. Es trug den Titel „Sterben für Anfänger“, der einen guten Eindruck davon vermittelt, wie sehr sich Cory ihren Humor bis zum Schluss bewahrt hat. Immer wieder hört man sie in diesem Interview lachen, doch am meisten zu Herzen geht vermutlich das Bild, das mit dem Podcast auf der Webseite des Senders veröffentlicht wurde. Man sieht das Gesicht einer Frau, das vom Tod gezeichnet ist – und dennoch vor Leben strahlt. Die leuchtenden Augen funkeln vor Intelligenz, Gutmütigkeit, Humor und Lebenskraft, und man kann sich vorstellen, dass ihr Tod im Gegensatz zu dem ihrer Eltern ein guter war.

„Sterben: Eine Erfahrung“ zu übersetzen, ein Buch zu übersetzen, das ich gelesen habe, als seine Verfasserin noch lebte, und in dessen Sprache, Gedanken und Gefühle ich noch intensiver eintauchte, als sie uns bereits verlassen hatte, also: ein Testament zu übersetzen – war eine schwierige Aufgabe. Sie brachte mich manchmal an den Rand der Worte, an die Stelle, an die auch Cory am Ende ihres Buchs gelangt: „Ich bin nun am Rande der Worte angekommen, dort, wo sie angesichts der entsetzlichen Endgültigkeit des Sterbens stocken und mühsam werden.“ Und so greift sie – wieder ganz Drehbuchautorin –, um die letzten Augenblicke ihres Lebens zu beschreiben, wie im Schlüsselmoment ihrer Bewusstwerdung auf Bilder zurück, auch auf das des Vogels und des Skinks. Nur dass Letzterer sich dieses Mal unentdeckt davonschleichen kann.

 


Foto Ulrike KretschmerUlrike Kretschmer (geb. 1968 in Leipzig) schloss ihr Studium der Englischen und Deutschen Philologie sowie der Kunstgeschichte an der Universität Münster mit Promotion ab. Nach einigen Jahren als Verlagslektorin machte sie sich 2004 als Lektorin, Ghostwriterin und Übersetzerin in München selbstständig und spezialisierte sich auf Reiseliteratur, Kulturgeschichte, Biografie/Memoir, Natur, Fotografie, Kunst, Philosophie, Film und Gesundheit. 

Foto: privat

 


Das Buch 

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2015 erfährt die australische Schriftstellerin Cory Taylor, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Und so verfasste sie in nur wenigen Wochen dieses ungewöhnliche Buch, das kurz vor ihrem Tod erschien und nun rund um den Globus veröffentlicht wird. Auf bemerkenswerte Weise reflektiert sie darin über den Sinn der Zeit, die ihr noch bleibt. Sie lässt uns teilhaben an ihrer Erfahrung, was das Sterben sie gelehrt hat. Der universellen Frage über ein Leben nach dem Tod begegnet sie als nicht-religiöser Mensch in einer sie selbst überraschenden spirituellen Form. Sie erfasst die transformative Kraft des Prozesses, in dem sie sich befindet, und es gelingt ihr, sich diesem kreativ und ehrlich zu stellen.

Links

Sterben: Eine Erfahrung auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

 

Cory Taylor

Cory Taylor

Cory Taylor (1955 – 2016) gehört zu den renommiertesten Schriftstellern Australiens. Sie war Drehbuchautorin und hat zudem zwei Romane veröffentlicht, die beide ausgezeichnet wurden. Ihr erster Roman Me and Mr. Booker erhielt den Commonwealth Writers Prize (Pacific Region) und ihr zweiter Roman My Beautiful Enemy war nominiert für den Miles Franklin Literary Award.

Foto: © Text Publishing

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