Neukölln gilt seit Jahren als der Problemkiez von Berlin. Dort begegnet man allerdings nicht nur Straßengangs und Drogendealern, es ist auch das Zuhause unseres Autors Felix Lobrecht. Im Gespräch mit der Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey erzählt er, wie es für ihn war, in Neukölln aufzuwachsen und wie er darauf kam, einen Roman zu schreiben, der im sozialen Brennpunkt spielt. Ein Interview, in das man auch reinhören kann.
Frau Dr. Giffey, Sie sind seit knapp zwei Jahren Bezirksbürgermeisterin. Wo gibt’s den besten Döner in Neukölln?
Giffey (lacht): Also erstmal ohne Knoblauch und Zwiebeln…
Lobrecht: …da sind Sie als Neuköllnerin schon mal durch. (lacht)
Giffey: Na gut, das ist berufsbedingt, so in der Mittagspause. Ansonsten finde ich Balli in der Sonnenallee ziemlich gut.
Lobrecht: Ja, Balli ist gut. Find ich auch.
Foto: Susann Brückner
Felix, was bedeutet Neukölln für Dich?
Lobrecht: Neukölln ist erstmal family. Auf der väterlichen Seite meiner Familie sind wir seit vier Generationen Neuköllner. Mein Vater kennt Christiane F. aus dem „Haus der Mitte“ an der Lipschitzallee.
Giffey (lacht): Meine Güte – eine Familiendynastie im sozialen Brennpunkt!
Lobrecht (lacht): Quasi. Und dann ist Neukölln für mich einfach home. Ich bin hier aufgewachsen, zur Schule gegangen, hab das erste Mal was mit Frauen gehabt, Alkohol getrunken, gekifft, schwimmen und boxen gelernt. Alle ersten Male haben sich bei mir zwischen Rudow und Hermannplatz abgespielt.
Und für Sie, Frau Dr. Giffey?
Giffey (schaut nachdenklich aus dem Fenster): Für mich bedeutet Neukölln sehr viel. Zum einen ist es der Ort, für den ich im Moment 80 bis 90 Stunden pro Woche arbeite. Und zum anderen ist Neukölln für mich bei allen Problemen auch ein Ort mit unglaublichen Chancen. Das finde ich sehr schön. Ihr Buch erzählt ja eine typische Neuköllner Geschichte, es ist aber eben auch eine von vielen sehr unterschiedlichen Geschichten, die diesen Bezirk prägen.
Im Roman kommen viele der Themen vor, die bei Ihnen auf der Tagesordnung stehen. Was ging in Ihnen vor, als Sie das Buch gelesen haben?
Giffey: Mich hat das Buch berührt. Ich habe es in sehr kurzer Zeit gelesen, weil man so leicht nicht davon los kommt. Eins ging mir immer wieder durch den Kopf: Das ist die andere Seite unserer Arbeit. Ich verstehe Ihr Buch so, dass sich die Jugendlichen, über die wir in der Politik immer reden, auch mal selbst zu Wort melden und aus ihrer Perspektive erzählen. Das habe ich so noch nicht gelesen.
Felix, wie war das, in Neukölln aufzuwachsen?
Lobrecht: Neukölln war für mich als Jugendlicher wie ein permanenter Kriegszustand. Das fing schon damit an, wo du in die U-Bahn eingestiegen bist. Im letzten Waggon gab’s immer Ärger. Man war so in permanenter Bereitschaft: Wer steht da? Soll ich lieber woanders lang? Wer guckt? Warum guckt der? Gucke ich zurück? Wie lange halte ich den Blickkontakt? Lass ich mich provozieren? Wer ist der? Wen kennt der? Ich hatte sowieso schon nicht viel zu melden und musste halt gucken, wie ich einigermaßen stressfrei durchkomme. Du kannst auf der Straße auf keinen Fall zeigen, dass du nicht krass bist. Ich war klein und dünn und blond, also sowieso schon ein Opfer – wenn du dann noch durch die Gegend läufst, auf den Boden guckst und die Schultern hängen lässt wie so’n Mädchen, kriegst du sofort auf die Schnauze. Habe ich auch oft genug.
Giffey: Dazu muss man sagen, dass Neukölln sich seit der Zeit auch verändert hat. Vor etwa zehn Jahren gab es noch sehr viel mehr Intensivstraftäter. Wir haben heute ganz neue Zuwanderungsströme, aus Südosteuropa, die Menschen aus Syrien. Zu uns kommen auch viele Künstler und Kreative aus westdeutschen Städten. Neukölln ist in einem unfassbaren Wandel. Niemand weiß genau, wohin die Reise geht. Wer wird Raum greifen? Wer gewinnt den Kampf um die Straße? Sind das die arabischen Gangs, die Cliquen? Die Dealer? Sind es die Leute, die hier ganz normal leben wollen? Die Hipster? Die Investoren, die blind Häuser kaufen und modernisieren? Wie entwickeln sich die Mietsteigerungen und die Verdrängung?
Foto: Susann Brückner
Trotzdem bleiben viele der Probleme, die der Roman aufgreift, bestehen: benachteiligte Jugendliche, Schule, Integration, Kriminalität. Entmutigen solche Beschreibungen von Neukölln Sie nicht?
Giffey: Nein. Die Arbeit für diesen Bezirk ist eine große Herausforderung, aber ich sehe auch ganz viel Potential. Ich glaube, dass wir hier an vielen Stellen eine gute Entwicklung schaffen können. Das ist nicht einfach, aber machbar. Meine Sorge ist eine andere: Was setzt man Leuten entgegen, die dieses Buch lesen und einfach nur all ihre Vorurteile über Neukölln bestätigt sehen? Für mich ist das ganz klar eine politische Frage. Die AfD hat bei den letzten Wahlen zur Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung 12,7% bekommen. Der AfD sind die Familien mit Migrationshintergrund und der hohe Ausländeranteil ein Dorn im Auge. Die möchten die bisherige Entwicklung zurückdrehen – sie sprechen von „säubern“.
Lobrecht: Solchen Leuten muss man den Wind aus den Segeln nehmen. Jeder, der mein Buch liest, muss das Umfeld im richtigen Kontext sehen. Ich denk immer, das checken die Leute von selbst, aber anscheinend muss man’s einigen doch erklären. Natürlich sind nicht alle türkischen oder arabischen Jungs kriminell. Aber in Neukölln sind die meisten Kriminellen türkische oder arabische Jungs. Und die sind nicht kriminell, weil sie türkisch oder arabisch sind, sondern weil sie oft unter schlechteren Bedingungen als die deutschen Jungs aufwachsen. Weil sie von vornherein schlechtere Chancen haben. Wenn das Buch in einer Plattenbausiedlung in Chemnitz spielen würde, hießen die Jungs, die Scheiße bauen, Rico und Danny.
Was heißt das politisch?
Giffey: Für mich ist die ausschlaggebende Größe nicht, wie viel Prozent Kinder mit Migrationshintergrund es in Neukölln gibt, sondern wie viel Prozent der Familien von Sozialhilfe leben. Wie die Kinder aufwachsen. Darum geht’s.
Lobrecht: Und es müsste was gegen strukturelle Benachteiligung getan werden. Es gibt eine coole Doku namens „Gangsterläufer“ über einen jungen Neuköllner, Yehya El-Ahmad. Den hab ich früher auch ab und zu beim Training in der Fuldastraße gesehen. Er ist Intensivstraftäter, aber ein schlauer und eigentlich liebenswerter Typ. Jedenfalls sitzt er jetzt schon wieder im Knast. Nach seiner ersten Haftstrafe wollte er Abi nachmachen und durfte es einfach nicht (auf Grund seines Aufenthaltsstatus als geduldeter Geflüchteter, Anm. d. Red.). Solche Leute haben keine Perspektive, egal wie gut sie sind.
Foto: Susann Brückner
Felix, warum hast Du das Buch geschrieben?
Lobrecht: Das hatte eigentlich zwei Gründe. Als Jugendlicher habe ich das Buch „Knallhart“ gelesen. Ich fand das von der Story her spannend, aber unauthentisch. Die Jungs waren in meinem Alter, wohnten in meinem Bezirk. Und ich hab aus jedem Wort rausgelesen, dass der Autor locker zwanzig Jahre älter und da nicht aufgewachsen ist. Sowas wollte ich schreiben, aber in real. Außerdem hatte ich irgendwann keinen Bock mehr auf den ganzen Film hier und bin zum Studieren nach Marburg gezogen. Das ist so’n Unikaff in Hessen. (lacht) Da ist mir im Kontrast zu den ganzen weißen deutschen Mittelstandskindern erst aufgefallen, dass das, wie ich großgeworden bin, wohl nicht der Normalzustand ist. Denen musste ich erstmal Neukölln erklären, und weil mir das einzeln zu anstrengend war, dachte ich, schreib ick’n Buch drüber. (lacht) Meine Eltern sind keine Akademiker. Ich war noch nicht viermal in Florida.
Hast Du Vorbilder?
Lobrecht: Aus dem Milieu, in dem das Buch spielt, sind für mich die einzigen authentischen Stimmen, die den Slang sprechen und tatsächlich gehört werden, Deutschrapper. Aber das ist eine andere Perspektive. Im Hip Hop geht’s um self-empowerment, da musst du immer der krasseste und der coolste sein. Der, der sich nicht ficken lässt. Du kommst zwar aus der Schicht, bist aber der King. Ich wollte jemanden erzählen lassen, der ganz normale struggles hat, so’n ganz normales Leben, der nicht der Krasse ist.
Welche Wirkung erhoffst Du Dir von Deinem Buch?
Lobrecht: Ich fänd’s richtig geil, wenn das Buch Schullektüre wird und ein Austausch stattfindet. Wenn es sowohl in Gymnasien in Süddeutschland als auch in den einschlägigen Schulen gelesen würde, von den Kiddies, die das im täglichen Leben betrifft. Das könnte was bewirken und verstehen helfen.
Giffey: Da hätte ich eine Idee. Es gibt an einer Neuköllner Schule einen Literaturclub. Dort würde ich Sie gerne reinbringen. Das ist im Übrigen eine der positiven Geschichten, die ich an meinem Job so mag. Den Club hat eine Lehrerin gegründet. Die Eintrittskarte lautet: Du musst den Erlkönig auswendig können. Da haben am Anfang alle gedacht, dass das vorne und hinten nicht zusammen passt. Der Erlkönig in Neukölln! Aber der Club ist der Renner. Und zwar in erster Linie, weil diese Lehrerin glaubt, dass die Jugendlichen etwas schaffen können. Sie bringt ihnen Respekt entgegen. Das ist der erste Schritt.
Frau Dr. Giffey, wenn Sie Lukas, dem Protagonisten des Romans, einen guten Rat geben könnten, welcher wäre das?
Giffey: Lass den Scheiß, dreh keine krummen Dinger, konzentrier dich auf die Schule und mach deinen Abschluss. Egal, wie schwer es ist.
Felix, wie lautet Dein Rat?
Lobrecht: Ich glaub auch, dass es wichtig ist, die Schule fertig zu machen, aber das musste ich von alleine checken. Ansonsten würd ick sagen: Such dir ein Hobby, Alter. (lacht) Nee, echt jetzt, mir haben Breakdance und Kampfsport krass geholfen. Einerseits gibt dir das Selbstbewusstsein, das du dir nicht durch irgendwelche Spielchen auf der Straße holen musst und andererseits ist es einfach Ablenkung und Fokus.
Das Interview führte Caroline Kraft
Felix Lobrecht In der Sendung „nuhr ab 18“
Das Buch
Berlin-Gropiusstadt: Sozialbau-Wohnungen, Trabantenstadt im Süden von Neukölln. Wer hier aufwächst und keinen Migrations-hintergrund hat, schafft sich besser einen an – zum Schutz. Denn in der Straßenhierarchie stehen Deutsche am unteren Ende. So wie Lukas, dessen Vater schon hier aufgewachsen ist. Der glaubt, die Gegend und die Regeln zu kennen und der nichts von Gewalt hält. Aber seit den 70er Jahren hat sich einiges geändert. Egal, ob in der Schule, beim Graskaufen im Park oder beim U-Bahn-Fahren – Lukas und seine Freunde sind immer auf der Hut, denn schnell guckt einer falsch und schon wird man geboxt. Ein Debütroman wie ein Deutschrap-Song.
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