Die Übersetzung eines Textes erfordert oft eine genaue Recherche – je mehr man in die Gedankenwelt des Autors eintaucht, desto besser gelingt es, die Besonderheiten einer Geschichte wiederzugeben. Zu diesem Zweck ist Literaturübersetzerin Yasemin Dinçer in Englands Nordwesten gereist, um an Originalschauplätzen den Charakteren in Andrew Michael Hurleys Roman Loney nachzuspüren. Herausgekommen ist ein atmosphärischer Reisebericht.
von Yasemin Dinçer
Donnerstag, 10. März
Am Flughafen von Manchester. Nachdem ich ein halbes Jahr lang gedanklich jeden Tag an einen der verlassensten Küstenabschnitte im Nordwesten von England gereist bin, werde ich diese Reise nun tatsächlich antreten und die Gegend, die in Andrew Michael Hurleys wunderbar atmosphärischem (und gruseligem!) Roman Loney eine so große Rolle spielt, mit eigenen Augen sehen. Und so viel kann ich bereits verraten: Ich werde nicht enttäuscht. Schon die Zugfahrt ist ein Ereignis, da die Strecke ab Lancaster an der Küste entlang führt und mein Blick aus dem Fenster immer wieder auf Landschaften fällt, die ich aus dem Buch wiederzuerkennen glaube. Natürlich ziehen sie viel zu schnell vorüber, aber ich habe ja nun vier Tage Zeit, die Umgebung in Ruhe zu erkunden. Vier Tage allein in einem abgeschiedenen Küstenort im Norden Englands, zu einer Jahreszeit, die, wie es in Loney heißt, „kaum ein echter Frühling“ ist, sondern „eher die feuchte Nachgeburt des Winters“? Wird das trist, vielleicht sogar unheimlich? In Arnside steige ich jedenfalls als Einzige aus dem Zug und begegne kaum jemandem auf dem Weg zum Hostel. Dieser führt über eine Uferpromenade mit einer ansehnlichen viktorianischen Häuserzeile, dann ein Stück direkt am Wasser entlang, bis meine Füße bei jedem Schritt tiefer im Schlamm versinken. Ist das hier überhaupt noch ein Weg? Und wollten mir die Schilder, die überall vor den gefährlichen Fluten warnen, vielleicht sagen, dass ich genau hier nicht langgehen sollte? Vertraue ich wirklich blind auf Google Maps? Nun begegne ich zum Glück doch noch zwei freundlichen Spaziergängern, die völlig entspannt (allerdings auch mit passenderem Schuhwerk) durch den Schlamm stapfen und mir die Abzweigung zeigen, die zum Hostel hinaufführt – ein steiler, schmaler Pfad durchs Gestrüpp, den ich ansonsten wohl übersehen hätte. Das Hostel ist ein edwardianisches Steinhaus mit verwinkelten Fluren, knarrenden Dielen und einem Kaminzimmer mit Blick über die Morecambe Bay – über der nun spektakulär die Sonne untergeht, weshalb es mich, nachdem ich meinen Koffer verstaut habe, noch einmal hinunter ans Wasser zieht. Ich kann mich kaum sattsehen an dem Schauspiel und begreife sofort, weshalb einen diese Gegend in den Bann zieht und man ein Buch über sie schreiben möchte. Allerdings scheinen mir die Worte „öde und nichtssagend“, mit denen Andrew sie beschreibt, nicht ganz zuzutreffen. Nun, ich habe sie wohl noch nicht an einem schlechten Tag gesehen.
Freitag, 11. März
Das schlechte Wetter lässt weiter auf sich warten. Der Tag begrüßt mich mit strahlendem Sonnenschein, Vogelgezwitscher und saftig grünen Wiesen, auf denen Lämmer grasen. Ist da gerade ein Hase vorbeigehoppelt? Der Kontrast zum noch wintergrauen Berlin könnte kaum größer sein, und ich fühle mich an die Passagen in Loney erinnert, in denen die verfrühten Frühlingsboten ein Anzeichen dafür sind, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.
Von meinen Gastgebern mit einer handgezeichneten Karte der näheren Umgebung ausgestattet, habe ich mich jedenfalls auf eine kleine Wanderung bis zum Nachbarort Silverdale begeben, wo ich mit Andrew verabredet bin. Die Strecke führt über den Arnside Knott, der einen weiten Ausblick über die ganze Bucht bietet, durch ein Waldstück, vorbei an einem verfallenen Turm aus dem 15. Jahrhundert und zuletzt quer über einen Golfplatz, den zu betreten ich mich ohne die erneute Ermunterung durch freundliche englische Spaziergänger wahrscheinlich gar nicht getraut hätte.
Treffpunkt Silverdale Station, 13 Uhr. Es besteht keine Gefahr, dass wir uns nicht auf Anhieb erkennen, da wir die einzigen Personen weit und breit sind. Hier hält einfach nicht allzu oft ein Zug. Natürlich war ich ein bisschen aufgeregt vor dem Treffen. Nun habe ich monatelang in der Gedankenwelt eines Menschen verbracht, habe für all seine Worte nach der passenden Entsprechung im Deutschen gesucht, bin eingetaucht in die von ihm erzeugte Stimmung, habe seinen Assoziationen und seinen Sympathien für die Charaktere nachgespürt, seinen Humor übernommen, kurz gesagt: habe versucht, mit seinen Augen zu sehen und mit seinen Ohren zu hören, seine Gedanken zu denken und sie dann möglichst genauso wiederzugeben, eben „nur“ in einer anderen Sprache. Und das alles, ohne diesen Menschen jemals kennengelernt zu haben. Wie wird es nun sein, ihm gegenüberzustehen?
Am Ende ist Andrew glücklicherweise ziemlich genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe: herzlich, höflich, interessiert und mit einem feinen Humor. Er war meinem Vorschlag gegenüber, sich mit mir zu verabreden, sofort aufgeschlossen gewesen, wenn auch anscheinend ein wenig erstaunt, dass jemand sich tatsächlich die Mühe machen sollte, in diese abgelegene Gegend zu reisen. Nun, Andrew, wenn du dir die Mühe gemacht hast, ein so atemberaubendes Buch darüber zu schreiben… Heute meint er jedenfalls, er freue sich, einmal von seinem Schreibtisch fortgelockt zu werden, und verbringe immer wieder gern Zeit an diesem Ort. Ob ich also Lust hätte, ihn an eine seiner Lieblingsstellen zu begleiten? Aber selbstverständlich. Los geht es also durch einen verwunschen wirkenden Wald voller moosbewachsener Hänge. Immer wieder müssen wir über Zäune klettern, was für Andrew völlig selbstverständlich ist, während die deutsche Besucherin einen Zaun schnell als Ende des Weges begriffen hätte. Plötzlich treten wir aus dem Wald hinaus und stehen direkt am Ufer. Gerade herrscht Hochwasser, das weiter als gewöhnlich ins Landesinnere vorgedrungen ist, weshalb wir das eigentliche Ziel unserer kurzen Wanderung nicht erreichen können. Aber auch hier bekommt man schon einen guten Eindruck davon, welches Bild Andrew beim Schreiben von Loney vor Augen hatte: ein endloser Blick übers Wasser und absolute Einsamkeit, außer uns und ein paar Vögeln ist hier weit und breit niemand. Andrew weist mich noch auf einen angeschwemmten Autoreifen hin, der mitten in der Naturidylle tatsächlich fehl am Platz wirkt, dann machen wir uns auf den Rückweg, auf dem Andrew mir mehr von seinen Figuren und von seiner Faszination für diese Landschaft erzählt. Bei einem Cappuccino im Café, das ein Treffpunkt für Vogelbeobachter ist (und das einzige Café in Silverdale), unterhalten wir uns noch ein wenig über den späten, plötzlichen Erfolg des Romans und Andrews Arbeit am Nachfolger, die anscheinend schon recht weit fortgeschritten ist. So viel sei verraten: Er wird der Landschaft treu bleiben, allerdings werden die Figuren aus Loney kein Comeback erleben, so gern mancher Leser vielleicht auch wüsste, wie es mit einigen von ihnen weiterging. Ich verspreche ihm noch, ihn ausgesprochen gern einmal durch die Stadt zu führen, sollte er irgendwann nach Berlin kommen, dann verabschieden wir uns.
Samstag, 12. März
„Der Morgen war feucht und kalt. Graue Wolken hingen tief über The Loney und füllten die Wälder und Gräben mit Schatten.“ Also doch noch ein verregneter Tag. Das sieht nun schon mehr wie das Loney aus, das man aus dem Buch kennt. Aber was stellt man als Reisende mit einem solchen Tag an? Im Kaminzimmer bleiben und lesen? Klingt verführerisch, aber dann zieht es mich doch nach draußen. Direkt bei meiner Ankunft in Arnside ist mir die imposante Eisenbahnbrücke über die Bay aufgefallen, der 1857 eröffnete Railway Viaduct mit seinen fünfzig Pfeilern. Den möchte ich nun überqueren, um in das dahinter gelegene Ferienörtchen Grange-over-Sands zu gelangen. Allein schon die kurze Zugfahrt lohnt sich, denn man hat tatsächlich das Gefühl, direkt übers Wasser zu gleiten. In Grange erwarten mich mehrere altmodische Tea-Rooms und eine mit vielen Blumen hübsch gestaltete Uferpromenade, die einen interessanten Kontrast zur rauen See und dem von Kanälen durchzogenen Schlick direkt dahinter bieten. Ich bummele also ein wenig durch den Nieselregen und trinke ein Kännchen starken schwarzen Tee, bevor ich den Zug zurück nach Arnside nehme. Inzwischen herrscht Ebbe, und nun erkenne ich, dass eine direkt vor der Küste gelegene Insel eigentlich durch Marschland, auf dem jetzt Schafe grasen, mit dem Festland verbunden ist. Habe ich da etwa Coldbarrow entdeckt?
Sonntag, 13. März
Vor meinem Rückflug nach Berlin steht noch ein wenig Kontrastprogramm zur Loney-Einsamkeit an: Manchester. Zumindest eine kleine Runde durch die Stadt möchte ich drehen, wo ich schon einmal hier bin. Rasch zieht es mich jedoch in die Manchester Art Gallery, das wichtigste Kunstmuseum der Stadt, das bekannt für seine britischen Gemälde aus dem 19. Jahrhundert ist. Andrew hatte mir einen Besuch empfohlen, und tatsächlich meine ich auf einigen der Bilder Motive aus seinem Buch wiederzuerkennen: die Seestücke, den Hirten auf der Wiese, der seine Schäfchen aus dem Blick verliert, und immer wieder Landschaften mit düsterer, unheimlicher Atmosphäre.
Erfüllt von all diesen Eindrücken setze ich mich schließlich ins Flugzeug und freue mich schon darauf, meiner Übersetzung von Loney noch den letzten Schliff zu verleihen. Und darauf, möglichst bald wieder in diese faszinierende Gegend zurückzukehren, ob in Wirklichkeit oder auf den Seiten eines guten Buches.
→ mehr über die Autorin
Yasemin Dinçer, geboren 1983, ist studierte Übersetzerin für Literatur und hat zahlreiche Texte ins Deutsche übersetzt, unter anderem Andrew Michael Hurleys am 9. September erscheinenden Roman Loney.
Das Buch
The Loney – ein verregneter, unwirtlicher Landstrich an der nordenglischen Küste. In der Karwoche des Jahres 1976 pilgert eine brüchige kleine Glaubensgemeinschaft aus London dorthin, um in der Wallfahrtskirche der heiligen Anna für ein Wunder zu beten: möge Hanny, äußerlich schon fast ein Mann, doch von kindlichem Gemüt, von seiner Krankheit erlöst werden. Dreißig Jahre später legt ein Erdrutsch bei The Loney die Leiche eines Babys frei. In Hannys jüngerem Bruder Tonto weckt dies Erinnerungen an jene Reise, die er all die Jahre tief in seinem Inneren verborgen hatte. Doch jetzt drängt die Vergangenheit mit Macht an die Oberfläche und droht, ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen.
Dieser ungewöhnliche Roman erweckt mit einem virtuosen Gespür für Zwischentöne Charaktere und Landschaft zum Leben. Zugleich stellt er grundsätzliche Fragen nach dem Wesen von Glauben und Aberglauben, Vertrauen und Hoffnung.
[…] Lieblingsplätze in dieser kargen Landschaft aufzusuchen. Darüber gibt es einen sehr wundervollen Reisebericht mit vielen stimmungsvollen Bildern, den ich als ergänzende Lektüre zum Buch interessierten Lesern […]
[…] man nicht so schnell wieder. Es ist hervorragend übersetzt – Yasemin Dinçer schildert hier übrigens ihre Reise ins Loney-Land – aber es ist ein Horror, der sehr äußerlich wirkt und […]
[…] Dinçer hat den Roman farbenreich und sprachlich reizvoll ins Deutsche übersetzt. Hier schildert sie übrigens ihre „Reise ins Loney-Land“ und die Begegnung mit dem […]