Es war Ende Januar, bald nach den
Weihnachtsferien, als das dicke Kind zu mir kam. Ich hatte in diesem Winter
angefangen, an die Kinder aus der Nachbarschaft Bücher auszuleihen, die sie an
einem bestimmten Wochentag holen und zurückbringen sollten. Natürlich kannte
ich die meisten dieser Kinder, aber es kamen auch manchmal fremde, die nicht in
unserer Straße wohnten. Und wenn auch die Mehrzahl von ihnen gerade nur so
lange Zeit blieb, wie der Umtausch in Anspruch nahm, so gab es doch einige, die
sich hinsetzten und gleich auf der Stelle zu lesen begannen. Dann saß ich an
meinem Schreibtisch und arbeitete, und die Kinder saßen an dem kleinen Tisch
bei der Bücherwand, und ihre Gegenwart war mir angenehm und störte mich nicht.
Das dicke Kind kam an einem Freitag oder Samstag,
jedenfalls nicht an dem zum Ausleihen bestimmten Tag. Ich hatte vor, auszugehen
und war im Begriff, einen kleinen Imbiß, den ich mir gerichtet hatte, ins
Zimmer zu tragen. Kurz vorher hatte ich einen Besuch gehabt, und dieser mußte
wohl vergessen haben, die Eingangstür zu schließen. So kam es, daß das dicke
Kind ganz plötzlich vor mir stand, gerade als ich das Tablett auf den
Schreibtisch niedergesetzt hatte und mich umwandte, um noch etwas in der Küche
zu holen. Es war ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, das einen
altmodischen Lodenmantel und schwarze, gestrickte Gamaschen anhatte und an einem
Riemen ein Paar Schlittschuhe trug, und es kam mir so bekannt, aber doch nicht
richtig bekannt vor, und weil es so leise hereingekommen war, hatte es mich
erschreckt.
Kenne ich dich? fragte ich überrascht.
Das dicke Kind sagte nichts. Es stand nur da und legte die Hände über seinem
runden Bauch zusammen und sah mich mit seinen wasserhellen Augen an.
Möchtest du ein Buch? fragte ich.
Das dicke Kind gab wieder keine Antwort. Aber darüber wunderte ich mich nicht
allzusehr. Ich war es gewohnt, daß die Kinder schüchtern waren und daß man
ihnen helfen mußte. Also zog ich ein paar Bücher heraus und legte sie vor das
fremde Mädchen hin. Dann machte ich mich daran, eine der Karten auszufüllen,
auf welchen die entliehenen Bücher aufgezeichnet wurden.
Wie heißt du denn? fragte ich.
Sie nennen mich die Dicke, sagte das Kind.
Soll ich dich auch so nennen? fragte ich.
Es ist mir egal, sagte das Kind. Es erwiderte mein Lächeln nicht, und ich
glaube mich jetzt zu erinnern, daß sein Gesicht sich in diesem Augenblick
schmerzlich verzog. Aber ich achtete darauf nicht.
Wann bist du geboren? fragte ich weiter.
Im Wassermann, sagte das Kind ruhig.
Diese Antwort belustigte mich, und ich trug sie auf der Karte ein, spaßeshalber
gewissermaßen, und dann wandte ich mich wieder den Büchern zu.
Möchtest du etwas Bestimmtes? fragte ich.
Aber dann sah ich, daß das fremde Kind gar nicht die Bücher ins Auge faßte,
sondern seine Blicke auf dem Tablett ruhen ließ, auf dem mein Tee und meine
belegten Brote standen.
Vielleicht möchtest du etwas essen? sagte ich schnell.
Das Kind nickte, und in seiner Zustimmung lag etwas wie ein gekränktes
Erstaunen darüber, daß ich erst jetzt auf diesen Gedanken kam. Es machte sich
daran, die Brote eins nach dem andern zu verzehren, und es tat das auf eine
besondere Weise, über die ich mir erst später Rechenschaft gab. Dann saß es
wieder da und ließ seine trägen kalten Blicke im Zimmer herumwandern, und es
lag etwas in seinem Wesen, das mich mit Ärger und Abneigung erfüllte. Ja gewiß,
ich habe dieses Kind von Anfang an gehaßt. Alles an ihm hat mich abgestoßen,
seine trägen Glieder, sein hübsches, fettes Gesicht, seine Art zu sprechen,
die zugleich schläfrig und anmaßend war. Und obwohl ich mich entschlossen
hatte, ihm zuliebe meinen Spaziergang aufzugeben, behandelte ich es doch
keineswegs freundlich, sondern grausam und kalt.
Oder soll man es etwa freundlich nennen, daß ich
mich nun an den Schreibtisch setzte und meine Arbeit vornahm und über meine
Schulter weg sagte, lies jetzt, obwohl ich doch ganz genau wußte, daß das
fremde Kind gar nicht lesen wollte? Und dann saß ich da und wollte schreiben
und brachte nichts zustande, weil ich ein sonderbares Gefühl der Peinigung
hatte, so, wie wenn man etwas erraten soll und errät es nicht, und ehe man es
nicht erraten hat, kann nichts mehr so werden wie es vorher war. Und eine Weile
lang hielt ich das aus, aber nicht sehr lange, und dann wandte ich mich um und
begann eine Unterhaltung, und es fielen mir nur die törichtesten Fragen ein.
Hast du noch Geschwister? fragte ich.
Ja, sagte das Kind.
Gehst du gern in die Schule? fragte ich.
Ja, sagte das Kind.
Was magst du denn am liebsten?
Wie bitte? fragte das Kind.
Welches Fach, sagte ich verzweifelt.
Ich weiß nicht, sagte das Kind.
Vielleicht Deutsch? fragte ich.
Ich weiß nicht, sagte das Kind.
Ich drehte meinen Bleistift zwischen den Fingern,
und es wuchs etwas in mir auf, ein Grauen, das mit der Erscheinung des Kindes in
gar keinem Verhältnis stand.
Hast du Freundinnen? fragte ich zitternd.
O ja, sagte das Mädchen.
Eine hast du doch sicher am liebsten? fragte ich.
Ich weiß nicht, sagte das Kind, und, wie es dasaß in seinem haarigen
Lodenmantel, glich es einer fetten Raupe, und wie eine Raupe hatte es auch
gegessen, und wie eine Raupe witterte es jetzt wieder herum.
Jetzt bekommst du nichts mehr, dachte ich, von
einer sonderbaren Rachsucht erfüllt. Aber dann ging ich doch hinaus und holte
Brot und Wurst, und das Kind starrte darauf mit seinem dumpfen Gesicht, und dann
fing es an zu essen, wie eine Raupe frißt, langsam und stetig, wie aus einem
inneren Zwang heraus, und ich betrachtete es feindlich und stumm.
Denn nun war es schon so weit, daß alles an
diesem Kind mich aufzuregen und zu ärgern begann. Was für ein albernes, weißes
Kleid, was für ein lächerlicher Stehkragen, dachte ich, als das Kind nach dem
Essen seinen Mantel aufknöpfte. Ich setzte mich wieder an meine Arbeit, aber
dann hörte ich das Kind hinter mir schmatzen, und dieses Geräusch glich dem trägen
Schmatzen eines schwarzen Weihers irgendwo im Walde, es brachte mir alles wässerig
Dumpfe, alles Schwere und Trübe der Menschennatur zum Bewußtsein und
verstimmte mich sehr. Was willst du von mir, dachte ich, geh fort, geh fort. Und
ich hatte Lust, das Kind mit meinen Händen aus dem Zimmer zu stoßen, wie man
ein lästiges Tier vertreibt. Aber dann stieß ich es nicht aus dem Zimmer,
sondern sprach nur wieder mit ihm, und wieder auf dieselbe, grausame Art.
Gehst du jetzt aufs Eis? fragte ich.
Ja, sagte das dicke Kind.
Kannst du gut Schlittschuhlaufen? fragte ich und deutete auf die Schlittschuhe,
die das Kind noch immer am Arm hängen hatte.
Meine Schwester kann gut, sagte das Kind, und wieder erschien auf seinem Gesicht
ein Ausdruck von Schmerz und Trauer, und wieder beachtete ich ihn nicht.
Wie sieht deine Schwester aus? fragte ich. Gleicht sie dir?
Ach nein, sagte das dicke Kind. Meine Schwester ist ganz dünn und hat
schwarzes, lockiges Haar. Im Sommer, wenn wir auf dem Land sind, steht sie
nachts auf, wenn ein Gewitter kommt, und sitzt oben auf der obersten Galerie auf
dem Geländer und singt.
Und du? fragte ich.
Ich bleibe im Bett, sagte das Kind. Ich habe Angst.
Deine Schwester hat keine Angst, nicht wahr? sagte ich.
Nein, sagte das Kind. Sie hat niemals Angst. Sie springt auch vom obersten
Sprungbrett. Sie macht einen Kopfsprung, und dann schwimmt sie weit hinaus ...
Was singt deine Schwester denn? fragte ich neugierig.
Sie singt, was sie will, sagte das dicke Kind traurig. Sie macht Gedichte.
Und du? fragte ich.
Ich tue nichts, sagte das Kind. Und dann stand es auf und sagte, ich muß jetzt
gehen. Ich streckte meine Hand aus, und es legte seine dicken Finger hinein, und
ich weiß nicht genau, was ich dabei empfand, etwas wie eine Aufforderung, ihm
zu folgen, einen unhörbaren dringlichen Ruf. (...)
(Aus "Das dicke Kind" von Marie Luise Kaschnitz)