Im Wirbel
In wenigen Monaten sprach Russland alles aus, worüber es ganze
Jahrhunderte geschwiegen hatte. Vom Februar bis Herbst 1917 glich das Land Tag
und Nacht einer pausenlosen, chaotischen Volksversammlung.
Die Menschen
rotteten sich zusammen und lärmten auf den Plätzen der Städte, an Denkmälern,
auf den nach Chlor riechenden Bahnhöfen, in Fabriken und Dörfern, auf Märkten,
auf jedem Hof, auf der Treppe eines jeden halbwegs bewohnten Hauses. Schwüre,
Aufrufe, Enthüllungen, Ansprachen - alles ging unter in dem rasenden Schrei
"Nieder!" oder einem begeisterten, heiseren "Hurra!", und das rollte über alle
Straßenkreuzungen wie donnernde Räder über Kopfsteinpflaster.
Besonders
leidenschaftlich und heftig verliefen die Moskauer Versammlungen.
Hier
warf die Menge gut gelaunt einen Mann in die Luft, dort zerrte sie ihn am Gurt
seines Militärmantels vom Puschkin-Denkmal herab, hier küsste man sich auf
stachlige Wangen, dort drückte man schwielige Hände. Einem Intellektuellen
schlug man den Hut vom Kopf, doch schon eine Minute später trug man ihn im
Triumph auf den Armen, und er hielt verzweifelt seinen hüpfenden Kneifer fest
und schleuderte Flüche gegen irgendwelche unbekannten Feinde der russischen
Freiheit. Hier und da wurde wild Beifall geklatscht, und wenn die harten Hände
aneinander schlugen, hörte es sich an, als ob große Hagelkörner auf das Pflaster
prasselten.
Zu alledem war der Frühling des Jahres 1917 kalt, und
knirschende Hagelkörner bedeckten häufig das junge Gras der Moskauer
Boulevards.
Auf den Versammlungen bat niemand um das Wort. Jeder nahm es
sich selbst. Bereitwillig ließ man Frontsoldaten sprechen, sogar einen in
Russland hängengebliebenen französischen Offizier, Mitglied der französischen
sozialistischen Partei, den späteren Kommunisten Jacques Sadoul. Unentwegt
tauchte sein blauer Militärmantel irgendwo auf zwischen den beiden
Hauptversammlungsplätzen Moskaus, dem Puschkin-Denkmal und dem Skobelew-Denkmal,
wo man am häufigsten zusammenströmte.
Wenn ein Soldat sagte, er komme von
der Front, unterzog man ihn zunächst einem lärmenden Verhör. "Von welcher
Front?" wurde aus der Menge gerufen. "Von welcher Division? Von welchem
Regiment? Wer ist dein Regimentskommandeur?"
Antwortete der verwirrte Soldat
nicht schnell genug, dann zerrte man ihn unter den Rufen: "Er kommt von der
Chodynka-Front! Weg mit ihm!" von der Tribüne und stieß ihn möglichst tief in
die Menge hinein. Dort schnäuzte er sich verlegen, wischte die Nase mit dem
Mantelschoß ab und schüttelte verdutzt den Kopf.
Wollte ein Redner die
Menge gleich in die Hand bekommen und zum Zuhören zwingen, so musste er sie
überrumpeln.
Einmal kletterte ein bärtiger Soldat in steif abstehendem Mantel
auf den Sockel des Puschkin-Denkmals. Die Menge begann zu lärmen. "Von welcher
Division? Von welchem Truppenteil?"
Der Soldat kniff ärgerlich die Augen
zusammen.
"Was brüllt ihr!" rief er. "Wenn man mal richtig suchen würde, fände man bei
jedem dritten ein Bild von Wilhelm in der Tasche! Mehr als die Hälfte von euch
sind Spione! Mit welchem Recht stopft ihr einem russischen Soldaten
das Maul?"
Das war eine Überrumpelung. Die Menge schwieg.
(Aus "Der Beginn eines verschwundenen
Zeitalters" von Konstantin Paustowskij.
Aus dem Russischen von Gudrun Düwel,
Georg Schwarz.)
Paustowskijs berühmte Autobiografie
erreicht ihren dramatischen Höhepunkt mit dem Ausbruch der Februar-Revolution.
Dieses Ereignis überrascht im Kiew des Jahres 1917 einen ahnungslosen
fünfundzwanzigjährigen Taugenichts ohne festen Beruf, der im Ersten Weltkrieg
seine Haut als Sanitäter gerettet hat und nun in den Strudel einer Umwälzung
gerät, bei der man jederzeit aus reinem Zufall erschossen werden kann.
In den
Wirren des Bürgerkriegs landet Paustowskij in Isaak Babels Odessa, wo er die
panische Flucht der weißen Emigranten miterlebt. Nach der Blockade der Stadt
tritt eine große Stille ein, und in Jalta und Batumi erlebt der angehende
Schriftsteller Momente einer trügerischen Idylle.
Paustowskij ist alles
andere als ein Ideologe. Er versteht sich nicht als Akteur, sondern als
Zuschauer des welthistorischen Dramas. Die atmosphärische Dichte seiner
Erzählung, seine Fähigkeit, große Ereignisse en miniature zu beschreiben, und
vor allen eine unerklärliche Heiterkeit machen eine verschwundene Zeit lebendig,
ohne die auch das heutige Russland nicht zu
verstehen ist. (Eichborn)
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