Sein Vater habe sich in Luft aufgelöst,
sagte der Junge, von einem Tag auf den anderen.
Eines Morgens, als er,
schlaftrunken noch, nach unten kam, war es eben passiert. Die Schranktüren in
der Küche standen weit aufgerissen, die Schubladen lagen auf dem Fußboden
verstreut, und mitten im Durcheinander kniete seine Mutter. Er wird gleich
wiederkommen, war das Erste, was sie sagte.
Sie kniete da, verwirrt und
fassungslos, als wäre sie eines der aus den Kästen geworfenen Dinge. Er kommt
gleich wieder, wiederholte sie mit tonloser Stimme, und auch seine Schwester
hörte den ganzen Vormittag nicht auf, davon zu reden. Er kommt bald wieder,
sagte sie, morgen, übermorgen ganz bestimmt.
Aber der Vater kam nicht mehr.
An diesem Tag nicht und am nächsten auch nicht. Sie räumten die Wohnung auf,
setzten die Schubladen wieder ein und warteten. Darauf, dass es an der Haustür
klingelte oder sich der Schlüssel im Türschloss drehte, Vaters Schlüssel. Der
Junge kroch auf dem Fußboden herum, reichte seiner Mutter die Lebensmittel,
Besteckteile und Papiere, die unter die Kästen gerutscht waren, und seine
Schwester ging mit dem Besen von einem Zimmer ins andere. Darüber vergingen die
Wochen, und das Einzige, was kam, war ein Brief, den ein Rechtsanwalt
vorbeibrachte.
Seit jenem Morgen, sagte der Junge, habe er den Eindruck,
dass seine Mutter anders rieche. Es sei ein Duft, der einen an helle
Frühlingstage erinnere, an denen der Schnee draußen vor den Fenstern
dahinschmilzt, und irgendetwas schien er auch von den durchsichtig blauen
Flakons zu haben, die nebeneinander aufgereiht im Bad standen und in denen seine
Mutter das Bleichmittel für ihre Haare aufbewahrte. Es war ein Geruch, der etwas
Leichtes hatte und Flüchtiges, und irgendwann war er sich sicher, dass es der
Duft ihrer Tränen war und nichts anderes.
Das war jetzt so. Seit Vater
weg war, lief Pauls Mutter durch die Zimmer, durchs ganze Haus, treppauf,
treppab, weinte und redete mit sich selbst. Wie kannst du nur, murmelte sie vor
sich hin, und wenn sie merkte, dass man ihr zuhörte, rannte sie davon, ins Bad
oder die Stufen hinauf in die Diele. Im Schlafzimmer warf sie sich bäuchlings
aufs Bett, und sie sahen ihr von der Treppenschlucht aus zu, durch die offen
gebliebene Tür.
Am Mittagstisch, während sie das Geschirr austeilte,
schlichen sich Rinnsale über ihre Wangen und nichts ließ ihren Fluss versiegen.
Sie nahm die Pfannen vom Herd und trug sie zum Tisch, sie schöpfte die Teller
voll und ihre Tränen zerflossen in der Suppe, auf dem
Fleisch, der Polenta.
Paul blickte seine Schwester an und sie ihn, und das
Tränenwasser, das sie aßen, verätzte ihre Stimmbänder. Stumm schoben sie das
Essen in sich hinein, schielten aus den Augenwinkeln nach ihrer Mutter,
löffelten ihre Teller aus bis auf den letzten Rest und stritten sich nicht, wer
beim Abwasch helfen musste.
Während der Italienischstunde fragte ihn
Herbert, was sein Vater angestellt habe.
Nichts, sagte Paul, gar
nichts.
Wegen nichts kommt man nicht ins Loch, sagte Herbert. Vielleicht hat
er jemand umgebracht, wer weiß,
und er fuhr mit ausgestrecktem Finger quer über seinen Hals.
Auf dem Pausenhof zog er Paul von den anderen weg, weil er meinte, dass die
Sache mit dem Vater nicht alle wissen müssten. Sie stellten sich hinten unter
die Lindenbäume,
wo die Müllkübel standen, und Herbert riss sein Marmeladebrot in der Mitte auseinander.
Er bot Paul die eine Hälfte an und sagte, dass er das mit dem Umbringen nicht
so gemeint habe.
Aber er ist unschuldig, sagte Paul, ganz
bestimmt.
Das behaupten alle von sich, sagte Herbert.
Seine Mutter
hatte zu nahe am Wasser gebaut. Das sagte sie manchmal über sich selbst, wenn
der Tränenfluss wieder einmal nicht aufzuhalten war und sie merkte, dass sie sie
hilflos betrachteten. Dann lachte sie auf, ein kurzes helles Meckern, und es
schien, als könnte sie es selbst kaum fassen, dass ihre Quelle nie
versiegte.
Hohe Luftfeuchtigkeit, höhnte Pauls Schwester und versuchte so zu
tun, als würde ihr das alles nichts ausmachen. Aber dann knallte sie die Türen
zu und schrie, dass sie sie alle gern haben könnten.
Wenn Paul mit seiner
Mutter allein war, zog sie ihn manchmal an sich und umschlang ihn mit beiden
Armen. Sie flüsterte, dass er sie nie verlassen dürfe, nie, nie, und presste ihn
gegen ihren Bauch, wo er ihr Herz schlagen hörte. Er schüttelte den Kopf, wollte
ihr antworten, aber die Kraft ihrer Arme drückte ihm den Atem ab, und dann
musste er auf sie einschlagen, damit sie ihn losließ, bevor ihm schwarz wurde
vor Augen.
Wir müssen jetzt alle zusammenhalten, sagte seine Mutter, die
ganze Familie.
(Aus "Wundränder" von Sepp Mall.)
Ein Roman über die Verwicklung
unschuldiger Menschen in politische Intrigen, Machtkämpfe, falsch verstandenen
Patriotismus und irregeführte Kameradschaft. Als Hintergrund seiner Geschichte
wählte der auch als Lyriker bekannte Südtiroler Autor Sepp Mall die Ereignisse
der 1960er Jahre
in Südtirol, als der Kampf um eine
Autonomie in mehrere Anschlagserien gipfelte, bevor die italienische Staatsmacht
zu Zugeständnissen bereit war.
Mall
erzählt abwechselnd aus der Perspektive eines kleinen Jungen, dessen Vater aus
für ihn unerklärlichen Gründen verhaftet wird und später auf mysteriöse Weise
ums Leben kommt, und aus der Sicht einer jungen Frau, deren sprachgestörter
Bruder Opfer eines missglückten Bombenattentats wird. Auf diese Weise zeichnet er das
dichte Bild einer Zeit, die bis in intimste Bereiche hinein von der
Auseinandersetzung darüber bestimmt war, mit welchen Mitteln man sich gegen
tatsächliche oder vermeintliche staatliche Unterdrückung zur Wehr setzen dürfe -
ein Thema, das leider nichts von seiner Brisanz und Aktualität verloren
hat.
Der Autor liefert keine Interpretation von Ereignissen, um die es ihm
auch nicht in erster Linie geht, er urteilt nicht, er gibt dem Leser die Chance,
sich seine eigene Meinung zu bilden über die Motive und Absichten der
Beteiligten, über Hintergründe und Auswirkungen, über verzweifelte Betroffene,
über fassungslos Zurückgebliebene.
(Haymon)
Buch
bestellen