(...)
In
den folgenden Wochen gab es in Aidas Leben zwei wichtige Ereignisse. Sie verlor
ihre Unschuld, und sie wurde Königin.
Die unverheirateten Frauen holten aus Aidas Aussteuertruhe den feinsten, ihr von
Esma vermachten crêpe d’amour hervor, der alle diese Jahre für ein besonderes
Ereignis aufbewahrt worden war, und machten sich, Tag und Nacht arbeitend, daran,
ein Ballkleid nach westlichem Muster zu schneidern. Es wurde das hinreißendste
Kleid der Welt.
Der Augenblick ihrer Krönung bleibt in jedermanns Gedächtnis, zieht sich wie ein
weiches Stück Kaugummi, das von Mund zu Mund wandert. In butterfarbenen Badehosen,
die ihre Schenkel zur Hälfte bedeckten, um die Schultern ein mitternachtsblaues
Atlascape mit Hermelinbesatz, stolzierte Aida zusammen mit den anderen Schönheiten
über die städtische Bühne. Alle ließen ihre Perlenzähne blitzen und stellten ihre
üppigen Busen zur Schau. Gerade wollte die Jury abstimmen, als die Tür aufging.
Herein kam er - in Frack und Zylinder und mit einem weißen Cape. Der große Zauberer.
Es heißt, er habe nur einen Blick auf sie geworfen und für den Rest des Abends
alles Andere um sich her vergessen. Sie kniete vor dem Präsidenten nieder, und
er setzte ihr die goldene Krone auf.
"Ich stamme, wie Ihre Familie auch, vom Balkan, wo ich viele schöne Frauen gesehen
habe", sagte er. "Mazedonische und serbische, Frauen aus der Walachei, Rumänien,
Bulgarien, aus Thessalien, thrakische und albanische Frauen und Frauen aus Slowenien,
Kroatien, Transsilvanien, Montenegro, Bessarabien, Moldawien und Bosnien. Aber
keine von ihnen, nicht eine einzige, kann Ihnen das Wasser reichen. Niemals bin
ich einem solchen Engelsgesicht begegnet, niemals einer leuchtenderen Seele. Sie
tragen etwas von allen diesen Frauen in sich. Ihre Stimmen, ihre Gesichter, aber
im Gegensatz zu ihnen gehören Sie nicht der Vergangenheit an. Sie sind der Engel
einer modernen Welt, ein Vorbild für alle. Das, wonach ich all diese Jahre gesucht
habe. Die Vision einer neuen Nation. Und als solche kröne ich Sie zur Miss Turkey."
Sein Blick verweilte auf dem winzigen Muttermal in Aidas Dekolleté, ein Halbmond
und ein Stern - wie das Hoheitszeichen auf der Fahne. "Und ich fühle mich mit
jedem Zeichen bestätigt." Mit diesen Worten küsste er ihr die Hand.
Aida ließ ihre Zähne aufblitzen und schlug unter ihrem gutgeschnittenen Pony verschämt
die Augen nieder. Und dann brach sie plötzlich in Tränen aus. Den Anwesenden verschlug
es den Atem. Atatürk zog sein säuberlich zusammengefaltetes, mit einem Monogramm
versehenes Taschentuch hervor und gab es ihr. Ein unvergesslicher Augenblick.
Sobald sie das Offizierskasino betreten hatten, trennten sich Männer und Frauen
wie Öl und Wasser. Sie waren es nicht anders gewöhnt. Eine Kapelle alla turca
spielte mit den üblichen Instrumenten - Ud, Ney, Tambur, Saz und Davul. Einer
von Atatürks Adjutanten, ein Rumelier italienischer Abstammung, begleitete sie
auf dem Akkordeon. Becken schepperten, die Rohrflöte ertönte melancholisch, die
Musiker fielen nacheinander ein und intonierten La Cumparsita, den Tango aller
Tangos, in Moll.
Anfangs klang alles ziemlich lahm, wie eine mit der falschen Geschwindigkeit abgespielte
Schallplatte, aber schnell gewann die Musik an Schwung, wurde immer fantastischer
und klang schließlich wie eine Zirkusmusik. Atatürk ging hinüber auf die Frauenseite
und verbeugte sich vor Aida.
Diese war zwar eine vorzügliche Bauchtänzerin, mit Walzer oder Tango war sie jedoch
nie in Berührung gekommen. Aber sie war die Königin, und der König selbst forderte
sie zum Tanz auf. Sie lächelte ihn strahlend an und erlaubte ihm wie in Trance,
den Arm um ihre Taille zu legen (ah! das Gefühl von crêpe d’amour!) und sie auf
die Tanzfläche zu führen. Sie glitten übers Parkett, während alle Anderen zuschauten
und den Atem anhielten.
Welche Herrschaft hatte er über diese attraktive Schönheit, die sonst so gerne
ihren Kopf durchsetzte! Sie leistete ihm nicht den geringsten Widerstand. Niemand
hätte vermuten können, dass sie zum erstenmal miteinander tanzten. Wie das Akkordeon,
so zitterte auch Aida, ihre üppigen Hüften, ihre geschmeidigen Schultern, und
Atatürk mit seinem tadellos gestärkten, gefältelten Chemisette und weißer Fliege,
das dunkelblonde Haar glatt zurückgekämmt, führte mit gleitenden Schritten, ließ
Aida komplizierte Stellungen einnehmen, sich in der Taille rückwärts neigen, um
sie dann wieder über das frisch gebohnerte Parkett zu wirbeln. In den Augen der
Zuschauenden waren sie Fred und Ginger.
Atatürk war, das darf man nicht vergessen, im Unterschied zu anderen Politikern
oder Diktatoren, die schlampig aussahen, ein Mann von außerordentlicher Eleganz
und außerordentlicher Grazie - ein Narziss, ein
Exhibitionist ersten Grades. Es heißt, dass er es sich als junger Mann in
Paris angelegen sein ließ, das Tangotanzen bei dem berühmten Argentinier Carlos
Gardel persönlich zu lernen, wohl wissend, dass er damit eines Tages seine Untertanen
beeindrucken würde.
Die anderen Männer im Raum, darauf geeicht, ihrem Führer zu folgen, gingen einer
nach dem anderen auf die Frauenseite hinüber und lotsten ihre Ehefrauen, Schwestern,
Töchter zur Tanzfläche. Was für ein Abend! Tango auf der pentatonischen Tonleiter!
Doch bald ging er im Entzücken des Tanzes selbst unter, in dem die Körper fast
zwanghaft dem geheimnisvollen Takt ihren eigenen Rhythmus entgegensetzten. Die
Tänzer verrenkten ihre Bäuche und schnipsten mit den Fingern, und das Ganze ähnelte
eher einem Zeybek-Tanz, dessen Rhythmus auf einem Neunertakt beruht, als einem
Tango im Zweivierteltakt. Das Orchester, das sich an den Noten des Akkordeonspielers
orientierte, der gerade zum Bandleader avanciert war, dehnte sein noch kaum vorhandenes
Repertoire auf La Violetera, Vida mia, El Esquinazo und Jalousie aus, während
die älteren Frauen mit Kopftuch den tanzenden Paaren zusahen, dabei nicht wussten,
ob sie lächeln oder über das alles weinen sollten, Gebete flüsterten und ihre
Perlenschnüre durch die Finger gleiten ließen.
Am Ende des Abends übergab Atatürk Aida seinem Adjutanten, dem schönen Sohn des
Barbiers, was er niemals hätte tun sollen, aber andererseits kann auch keiner
sein Schicksal ändern. Es wird einem bei der Geburt auf die Stirn geschrieben,
heißt es. Atatürks Kismet war es, keine Familie zu haben, deshalb vielleicht adoptierte
er später neunzehn Kinder. Seine Fähigkeiten, was Geduld und Strategie, Angriff
und Rückzug anbetraf, machten ihn zu einem ausgezeichneten militärischen Führer,
aber die Kraft der Jugend
schätzte er falsch ein. Welch eine Niederlage!
Nach diesem Abend war es, als stünde Aida unter einem geheimnisvollen Zauber,
der ihr plötzlich die Macht verlieh, alles zu bekommen, was sie wollte. Aber da
sie noch in ihrer Welt sexueller Einschränkungen lebte, war sie sich dieser Gabe
nicht bewusst. Obwohl ihre Möglichkeiten unendlich waren, war sie in ihrem Fleisch
gefangen, von ihren Instinkten bedrängt und mit der Unmöglichkeit konfrontiert,
sich dem Schicksal zu widersetzen.
Was geschah an jenem Abend nach dem Schönheitswettbewerb? Keiner weiß es mit Sicherheit,
aber die meisten nehmen an, dass der Leutnant mit Atatürks silbernem Daimler schweigend
durch die Nacht fuhr, bis sie den Gipfel des Camlica, des höchsten Berges in der
Gegend mit Blick auf den Bosporus, erreicht hatten. Dort hielt er an und hob den
crêpe d’amour-Rock an die Lippen.
Einige glauben jedoch, dass er sie ganz einfach zum Palast fuhr und dem Präsidenten
übergab.
Das ist eines der Geheimnisse, von denen niemand etwas Genaues weiß -– außer Aida,
Atatürk und dem jungen Leutnant.
Niemand dachte daran, den rosenroten Fleck auf Aidas Kleid auszuwaschen, denn
man hielt ihn für ein Ehrenzeichen, das ihr, daran zweifelte niemand, der große
Mann verliehen hatte. Man legte das Kleid sorgfältig zusammen und bewahrte es
wie eine Reliquie in einem Schrankkoffer auf. (Später erbte es dann ihre Nichte
Amber.)
Der Leutnant kam jetzt jeden Tag auf die Plantage, um Aida in Atatürks Daimler
abzuholen, und brachte sie um die Stunde des Wolfes zurück. Jedermann nahm natürlich
voller Freude an, dass sie zum Präsidenten gebracht wurde, und obwohl man gar
zu gerne gewusst hätte, wohin "das Paar" ging, was es tat, was er zu ihr sagte
und was sie darauf antwortete, stellte niemand Fragen, und Aida sagte kein Sterbenswort.
Sie schlief jetzt immer bis mittags und blieb nachmittags in ihrem Zimmer, umgeben
von exotischen Pflanzen und Vögeln, und aß schachtelweise Pralinen, marrons glacés,
Türkischen Honig und gefärbtes Marzipan in der Form von Tieren und Früchten, alles
Aufmerksamkeiten, die ihr Verehrer ihr schickte. Es dauerte nicht lange, und sie
wurde fülliger. Die Familie applaudierte, denn nachdem so gut wie alle Versuche,
sie herauszupäppeln, fehlgeschlagen waren, bewirkten offensichtlich die Süßigkeiten
des großen Mannes dieses Wunder. Jedenfalls glaubten sie das, bemerkten aber auch
den leeren Blick und die Reserviertheit, die Aida seit dem Schönheitswettbewerb
an den Tag legte. Sie schien sich nicht mehr für ihre Anproben oder die kostbaren
neuen Stoffe oder Muster, die Iskender Bey von seinen Reisen mitbrachte, begeistern
zu können.
Alle in der Stadt wussten, dass der allerhöchste Daimler jeden Abend vor dem Haus
der Ipekçi vor- und mit der Schönheitskönigin wieder davonfuhr. Scharen von entfernten
Verwandten und vergessenen Bekannten tauchten auf und versuchten, einen flüchtigen
Blick auf die Göttin zu werfen, und Fremde baumelten von den hohen Mauern, die
das Haus umgaben, wie Talismane gegen den bösen Blick. Als Antwort darauf ließ
Aida ihre Reize spielen und führte ihre legendäre Garderobe vor, empfand sich
selbst dabei aber als abwesend. Die Bedürfnisse anderer gingen sie schon seit
einer ganzen Weile nichts mehr an. Während sie ihre geheimen Ausflüge fortsetzte,
reifte ihr Körper heran.
(Aus "Das Haus der Seidenweberin" von
Alev Croutier.
Aus dem Amerikanischen von Barbara
Rojahn-Deyk.)
Ein Haus am türkisblauen Ägäischen Meer,
bewachsen mit Jasmin, umgeben von Schatten spendenden Linden und Kastanien - hier
beginnt die Geschichte von Esma und ihren Kindern und Kindeskindern. Alev Croutier,
eine türkische Scheherezade, erzählt in diesem Generationen umspannenden Familienroman,
der auch ein Stück türkische Geschichte ist, eine Fülle von berückenden, fantastischen
und doch ganz lebensnahen Details. Sie breitet vor uns eine Welt aus, die in
vielem noch an Tausendundeine Nacht erinnert, aber längst auch schon geprägt
ist vom Westen. Eine wunderschöne exotische Geschichte.
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