Leseprobe:
(...) Als der junge Anwalt die erste Seite des
Testaments vorgelesen hatte und dann erklärte, zu Vaters Nachlass gehöre kein
Barvermögen, ging ein vernehmliches Keuchen durch unsere Reihen. Jeder hielt
den Atem an und blickte auf Niang. Sie ließ ihren Blick gelassen von einem zum
anderen wandern. Ihre Züge drückten Triumph und Verachtung aus, als sie mit
kalter, klarer Stimme erklärte, dass der Letzte Wille völlig belanglos sei,
da Vater ohne einen Penny Geld
gestorben war.
Obwohl wir wussten,
dass sie Vaters Barbestände auf ihr eigenes, privates Konto übertragen hatte,
verschlug es uns die Sprache, als sich nun herausstellte, dass sie offenbar auch
alle anderen Werte an sich gebracht hatte: die beiden Tonnen Goldbarren in der
Schweiz, die Wertpapiere und Aktien, die Wohnungen in Monte Carlo und Hongkong,
das Industriegebäude in Cha Wan, das vermietete Büro im Swire House, das Grundstück
in Florida ...Vater starb völlig mittellos und war schon seit einiger Zeit bettelarm
gewesen.
Viele Jahre zuvor hatte Vater Gregory einmal
zu einem berühmten Wahrsager in Hongkong mitgenommen, der wegen der Genauigkeit
seiner Voraussagen "Eiserner Abakus" genannt wurde. Am wichtigsten war Vater
damals die Frage: "Wird Gregory, mein ältester Sohn, einmal ein wohlhabender
Mann sein?"
Die Antwort war unverbindlich. "Wohlstand ist relativ", wurde Vater erklärt.
"Für den Rikschafahrer sind hundert Hongkong-Dollar ein sehr großer Betrag.
Für Sie ist es nichts. Ihr ältester Sohn wird ein angenehmes Leben führen."
Das genügte Vater jedoch nicht. "Ich möchte wissen, ob mein Sohn wohlhabender
sein wird als ich?"
"Eiserner Abakus" stellte einige Berechnungen an und rief: "Ja! Ja, Mr. Yen!
Ihr Sohn wird um ein Vielfaches reicher sein als Sie. Dessen bin ich mir ganz
sicher."
Vater schien sehr zufrieden zu sein. Als die Jahre vergingen und Gregory noch
immer nicht Karriere
gemacht hatte, schüttelte Vater den Kopf und murmelte, dass der "Eiserne Abakus"
offenbar seinen Ruf zu unrecht genoss. Wie die Hörner des Kaninchens und die
Haare der Schildkröte
besaß der Wahrsager zwar den Ruhm, aber nicht die Zukunft, tu jiao gui mao,
you ming wu shi.
Als wir nacheinander die Kanzlei Johnson, Stokes & Masters verließen, stieß
ich Gregory an und murmelte: "Der Eiserne Abakus hat wieder einmal ins
Schwarze getroffen!"
Und Gregory flüsterte: "Ich habe dem alten Herrn immer gesagt, er muss mir Zeit
lassen." (...)
(Aus "Fallende Blätter" von Adeline Yen Mah)