Christian Meier: "Kultur, um der Freiheit willen"
Griechische Anfänge - Anfang Europas?
Homines
maxime homines
"Menschen, die im höchsten Sinne Menschen sind"
nannte der römische
Senator Plinius um 100 n. Chr. die Griechen. War es "dieses
merkwürdige,
dieses exotische Volk", das das heutige Europa hervorbrachte?
Ein Volk,
"das eine Kultur bildete, die so anders war als all die andern
großartigen
Hochkulturen, die vor und neben ihm in der Weltgeschichte entstanden
sind"?
Denn es erreichte dies ohne den Motor Herrschaft, sondern einzig ihre
Freiheit
oder besser ein breiter Kreis von Freien in vielen Städten.
Vielleicht ist es
dadurch zu erklären, dass Europa verglichen mit anderen
Kulturen der Welt einen
Sonderweg eingeschlagen und über weite Strecken
zurückgelegt hat, dass "auf
diesem Erdteil nach und nach ungeheuerliche Möglichkeiten
freigelegt worden
sind, eine Kapazität sondergleichen des Handelns, Erkennens,
Gestaltens, des
Aufgreifens und Veränderns sich erschloss."
Christian Meier, emeritierter Professor für Alte Geschichte
und einer der
bekanntesten Historiker Deutschlands, legt im Rahmen einer
mehrbändig
erscheinenden Reihe über die Geschichte Europas ("Die alte
Welt")
seine ersten beiden Kapitel vor, die sich der Vor- bzw.
Frühgeschichte der
Griechen und ihrem möglichen Einfluss auf die Bildung Europas
widmen.
Schon Hegel
sprach vom europäischen Geist, der "in Griechenland
seine Jugend
zugebracht" hat. Meier versucht gleichfalls die
Anfänge Europas in den
Ägäisraum zu implizieren.
Gerade heute beleben sich Diskussionen über das Werden und die
Eigenart Europas
und ganz speziell sein Verhältnis zum Orient. Da lohnt es
sich, einen tieferen
Blick auf die Entstehung von Kulturen zu werfen, sich einen Zutritt zu
ihnen zu
verschaffen. Denn "unüberschaubar vieles schiebt
sich in der Geschichte
mannigfaltig sich verflechtend, sich verschlingend und kaum fassbar
voran;
schleppt Dinge mit sich, von denen keiner mehr weiß, die
irgendwann aber zum
Vorschein kommen, ja unter Umständen kräftig sich zur
Geltung bringen können...",
schreibt Meier.
Wo fängt Europa überhaupt an?
"Wo fängt überhaupt etwas an? Nichts ist
ohne Vorbereitungen, Vorläufer,
Vorauszusetzendes. Nie gibt es ein Stunde Null. Überall trifft
man, je mehr man
schürft, unter vermeintlichen Anfängen tiefere
Anfangsgründe, die ihrerseits
vor dem forschenden Blick leicht immer wieder und weiter ins Bodenlose
zurückzuweichen
scheinen." Einen klaren Schnitt kann und will auch Christian
Meier
nicht machen. Eines ist jedoch klar: Dass Europa als Erdteil
verstanden
wird,
hat keine geografischen, sondern historische Gründe. Und eben
die Griechen
waren es wohl, die den Namen und vor allem die Aufteilung der Erde in
Erdteile
geprägt haben. Griechische Lebensart, Feste, Sport, Theater,
Philosophie
und
Wissenschaft verbreiteten sich bis weit in den Osten hinein und sind
auch heute
noch allerorts spürbar. Bei "den Griechen fing das
Neue an, und in der
Symbiose, zu der die verschiedenen Elemente zusammenwuchsen, sind die
griechischen auch weiterhin von entscheidender Bedeutung",
schreibt der
Autor.
Entstanden ist ein spannendes Buch, das einem breiten Leserkreis
verständlich
und interessant und ohne irgendetwas Wesentliches auszulassen oder
ungebührlich
zu vereinfachen, die Geschichte der Griechen und ihren wahrscheinlich
erheblichen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung Europas
erzählt.
Christian Meier hat den schwierigen Parcours der Geschichtsschreibung,
den der
deutsche Althistoriker Alfred Heuß einmal treffend
formulierte, meisterlich bewältigt:
"Wie bei einem Bild müssen auch
hier mannigfache
Teile in Beziehung
zueinander gesetzt werden. Das ist ein eigenständiges
Unternehmen, denn allein
von den einzelnen Teilen aus der beschränkten Auskunft, die
sie über sich
geben, ist es niemals durchzuführen. Die historische Synthesis
ist deshalb eine
besondere Leistung, eine konstruktive Leistung."
Und eben diese Komplexität, dieses Verzahnen aller Kapitel,
das
beziehungsreiche Ineinandergreifen und Analysieren Meiers
erklärt für den
Leser letztendlich selbstredend, warum das Volk der Griechen so frei
sein und
bleiben konnte und Europas Anfänge durchaus bei ihnen zu
suchen sind.
Frei von Fachtermini und wissenschaftlichem Jargon, aber trotzdem
äußerst
tiefgreifend, substanziell und fundiert berichtet Meier von dieser
einzigartigen
Kultur. Er ist nicht versucht, Begründungen für seine
Darstellung ausufern zu
lassen, sondern beschränkt sich darauf, die eigene
Argumentation nur leicht
anzudeuten. "Das Bestreben, die fernen, fremden
Gegenstände heutigen
Lesern nahezubringen (ohne ihre Fremdheit zu vertuschen), der Wunsch,
sie
vorstellbar, verstehbar zu machen in der Alltagssprache" ist
ihm aufs
Vortrefflichste gelungen.
Manche seiner Aussagen sind sicherlich gewagt, doch stets markiert er
einen
vermutenden Charakter und wird durch diese genau bezeichneten
Ungenauigkeiten
der Forderung nach Genauigkeit am ehesten gerecht.
Fazit:
Die Entstehung und Geschichte Europas ist unzweifelhaft mit dem antiken
Griechenland verbunden, wenn sie nicht gar ihren Ursprung in der
Ägäis hat.
Christian Meier versucht die Fragen nach dem Anfang zu klären.
Gleichzeitig
zeigt er auf, "wie es zu den Griechen kam, wie diese
höchst
ausnahmsartige, so ungemein stark und breit nachwirkende Kultur
zustande kommen,
sich tragen, sich behaupten konnte und wie sie beschaffen war."
"Kultur, um der Freiheit Willen" offenbart eine
äußerst
interessante, fundierte und glänzend geschriebene
Kulturgeschichte
aus der
Feder des achtzigjährigen Althistorikers Christian Meier.
"Wir werden das Altertum nie mehr los, solange wir nicht
wieder Barbaren
werden." (Jacob Burckhardt, Schweizer Kulturhistoriker)
(Heike Geilen; 04/2009)
Christian
Meier: "Kultur, um der Freiheit
willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?"
Siedler, 2009. 368 Seiten.
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Christian
Meier war von 1980 bis 1988
Vorsitzender im
Verband der Historiker Deutschlands, von 1996 bis 2002
Präsident der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Für
seine wissenschaftliche
Arbeit wurde er mit hohen Auszeichnungen geehrt; u. a. erhielt er 2003
den
"Jakob-Grimm-Preis für deutsche Sprache". Er hat zahlreiche
Werke zur
Antike veröffentlicht, darunter "Caesar" (1982), und "Athen"
(1993). Darüber hinaus greifen Publikationen wie "Das
Verschwinden der
Gegenwart. Über Geschichte und Politik" (2001) sowie "Von
Athen bis
Auschwitz" (2002).
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Athen"
In dieser kleinen Stadt an der Ägäis, mit kaum 40 000
Bürgern - Bauern,
Handwerker, Händler und Fischer -, begann das Abenteuer
Europas. Ein ganz neuer
Anfang wurde gemacht, in Kunst, Philosophie, Dichtung und Architektur,
in
Mentalität und Politik;
vor allem entstand, was Europa
ausmacht: die Demokratie.
(Siedler)
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"Caesar"
Caesar fasziniert noch immer durch das, wodurch er
Jahrhunderte lang die großen
Geister des Abendlandes beeindruckt hat: der Eroberer Galliens und der
ganzen römischen
Welt, bedeutend zugleich als Politiker und Diplomat, Feldherr und
Soldatenführer,
Redner, Schriftsteller und auch Liebhaber; Sieger nicht nur, sondern
vielfach
mild gegenüber den Besiegten, von verwegener
Unbekümmertheit und männlichem
Charme; von nicht nachlassender Tatkraft und höchster
Präsenz, noch aus Rückschlägen
zum Erfolg ausholend: eine ungemein reiche, nahezu unwahrscheinliche
Entfaltung
menschlicher Möglichkeiten. (Siedler)
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