Norbert Scheuer: "Überm Rauschen"
Erinnerungen - ein Universum an Geschichten
"Alles ist Täuschung, nichts ist wahr. Fische
verhalten sich dieser
Wahrheit entsprechend, sie wollen getäuscht werden durch
etwas, das sie über
alles begehren, seien es bunt schillernde Facettenflügel, die
Hechel, ein
silberner Blinker, die Illusion eines auf dem Wasser treibenden,
verführerischen
Insekts, das Glück. Aber vielleicht täuscht der Fisch
auch uns."
Norbert Scheuers kleiner, großer Roman erzählt in
ruhigem Ton von der Kunst des Fischens, die in Wirklichkeit nichts Anderes ist als die Kunst des
Täuschens, die sich wiederum eins zu eins auf das Leben übertragen
lässt. Im Leben und in der Liebe jedoch komme es darauf an, "dieses nach festen
Regeln zu machen, sodass jeder eine faire Chance habe, die Täuschung zu
erkennen."
An diese Worte erinnert sich der 45-jährige
Ich-Erzähler Leo Arimond beim Fischen im Fluss Urft seiner Heimat, der Elftausend-Seelen-Gemeinde
Kall in der Eifel. Aus Hamburg ist er angereist, um nach dem zwei Jahre
älteren Bruder Hermann zu sehen, der sich in seinem Zimmer eingeschlossen hat und
weigert, wieder herauszukommen. Es scheint, dass er dem Wahnsinn verfallen ist.
Der Vater ist längst gestorben, die demente Mutter lebt in einem Heim,
und die ehemalige Angestellte und Lebensgefährtin Hermanns - Alma - hat den mehr
schlecht als recht laufenden Gasthof der Familie übernommen. "Ich
wusste nicht, was ich eigentlich hier sollte, ich würde meinem Bruder doch nicht
helfen können - zu lange haben wir in unterschiedlichen Welten gelebt."
Ein Strom von Erinnerungen
Derweil verbanden die beiden Jungen in ihrer Kindheit eine tiefe
Nähe und eine gemeinsam zu überwindende Angst aufgrund der vielen
Geräusche der Betrunkenen
aus dem Provinzgasthof. Hinzu kamen die nicht empfangene Liebe ihrer
zynischen und verbitterten Mutter und ein Stiefvater, der wiederum seine ihm
fehlende Liebe aus Verzweiflung im Alkohol zu ertränken versuchte. "Nur
das Rauschen des Wehrs, das sich hinter der Gaststätte befand,
beruhigte uns. Abend lagen wir im Bett, glaubten, dieses Rauschen übertöne
alles, und wir trieben wie leblos, mit ausgebreiteten Armen, langsam auf das rauschende Wehr
zu, nur ein unendlicher Sternenhimmel über uns."
Doch plötzlich findet sich Leo beim Angeln wieder, das er als
Kind - im Gegensatz zu seinem Stiefvater und seinem Bruder - nicht mochte. "Ich
(...) rieche wie früher in der Kindheit das Wasser, Dinge, die
der Fluss mit sich trägt, als wäre er eine alte Jacke, deren
Taschen vollgestopft sind." Das erste Mal denkt er wirklich über seine
Familie nach, erinnert sich an seine Kindheit und Jugend, "unser ganzes
Leben ist eine mehr oder weniger von uns selbst erfundene Geschichte, ein Sammelsurium
aus Worten und Stimmen, dem Gerede Betrunkener an der Theke unserer
Gaststätte."
Der Fluss wird für ihn zu einem großen
aufgewühlten Strom von Erinnerungen,
einer Matrize, auf der sich alles unentzifferbar einritzt, zu einem
Seismografen, der jeden Hauch und jedes Flüstern gespeichert
hat und in einen großen See verlorener Zeit mündet. "Erinnerungen
und Träume treiben vorbei, es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und
der Wirklichkeit, alles sinkt irgendwann auf den Grund des Flusses, in
stille Erinnerung, ins Alleinsein."
Passagen von großer und ergreifender Schönheit
Norbert Scheuers Text mäandert mit ruhigem Blick, durchsetzt
mit einer zeitweise großen Melancholie durch diese Erinnerungen. Er
erzählt von desillusionierten Biografien, die zumeist mit großen
Träumen und Hoffnungen
begannen, jedoch vielfach einen schicksalhaften Niedergang erlitten.
Sein Buch generiert keine heile Welt, sondern "man findet genau
dieselben Brüche und genau das, was einem im realen Leben begegnet. Und wenn man das
dann plötzlich in der Literatur
liest, dann kann das so etwas wie eine
Enttäuschung bei einem hervorrufen. Vielleicht erkennt man dann auch plötzlich seine
eigenen Defizite hinsichtlich des Lebens", erklärte der Autor in
einem Interview. Und weiter: "Ich denke mir, (…) dass die Leute
hoffnungslos sind. Aber die entscheidende Frage ist: Was versteht man unter Hoffnung? Was versteht
man unter Glück?
Und gibt es überhaupt so etwas wie das
vollkommene Glück? Eigentlich kommt es nur darauf an, mit dem Leben fertig zu werden. Man muss mit
den Gegebenheiten in denen man lebt, einfach irgendwie zurechtkommen."
Dieses Zurechtkommen und das kleine, große Glück
beschreibt Norbert Scheuer faszinierend. Auf den engen Raum seiner Heimat fixiert,
unspektakulär, leise und unaufdringlich, bar jeglicher Ironie, aber auch ohne Pathos,
entfaltet der Autor ein außergewöhnlich erzählerisches
Talent. In reizvollen Landschaftsbildern und Schilderungen der stillen
Naturschönheiten der Eifel, durchzogen von teils bedrückenden Kindheitserlebnissen, die er
vor dem Auge des Lesers nahezu körperlich spürbar entstehen
lässt, gelingen Scheuer Passagen
von großer, ja ergreifender Schönheit.
Norbert Scheuers "Überm Rauschen", ein kunstvoll komponierter,
kleiner poetischer Roman voller Symbolik und Gedanken über die
großen Fragen des Glücks, der Hoffnungen, aber auch der
Selbstzerstörung menschlicher
Existenzen, offenbart kostbare gegenwärtige Literatur. Seine
scheinbar schwerelose, ruhige Erzählung, die nur manchmal an einer
Untiefe oder einem glitzernden Strudel vorbeigleitet, wurde völlig zu Recht
für den "Deutschen Buchpreis" 2009 nominiert.
(Heike Geilen; 10/2009)
Norbert
Scheuer: "Überm Rauschen"
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2009. 167 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011.
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Norbert Scheuer, geboren 1951,
studierte physikalische Technik und Philosophie. Er lebt in der Eifel und
arbeitet als Systemprogrammierer.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Peehs Liebe"
Rosarius Delamot weiß nicht, wer sein leiblicher Vater ist, vielleicht ein
Archäologe, der das Straßennetz des antiken Römischen Reiches kartografiert hat
und in Nordafrika verschollen blieb. Rosarius hat nur seine Mutter Kathy, er ist
in seiner Jugend kleinwüchsig und spricht die ersten dreiundzwanzig Jahre seines
Lebens kein Wort. Aber er sieht die Dinge anders als gewöhnliche Menschen, sein
Gehirn scheint ein
unendlicher Speicher von kleinsten Wahrnehmungen und Erinnerungen zu sein. Als
Kind hat er sich in Petra verliebt, die er nur "Peeh" nennen kann. Später, als
normalgroßer Erwachsener, der Sprechen gelernt hat, wird eine Liebesgeschichte
daraus. In seinen Träumen und in der Wirklichkeit lebt Rosarius sein eigenes
Leben, in dem er die ganze Welt bereist und die Eifel, in der er mit Vincentini
ein elektrisches Akupunkturgerät verkauft, das gegen jede Krankheit helfen soll.
Als alter Mann im Heim wird er von Annie liebevoll gepflegt, ihm ist, als wäre
seine Peeh endlich wieder da, als würde er ihr jetzt im Alter die abenteuerliche
Geschichte seines Lebens erzählen, eine Geschichte über die Liebe, das Altern
und das Vergessen. In seinem bewegenden, melancholisch-lichten Roman zeigt sich
Norbert Scheuer wieder als ein großer, poetischer Erzähler. (C.H. Beck)
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