Jürg Amann: "Die Reise zum Horizont"
Der
Schweizer Schriftsteller Jürg
Amann, dem Marcel
Reich-Ranicki einmal "virtuose
Beschränkung auf die
genaue Beschreibung" attestiert hat, nimmt sich in dieser
Novelle ein
tatsächlich passiertes Ereignis zur Vorlage, um - wie in einer
Parabel - ganz
grundsätzliche Fragen von Leben und Tod, von Moral und Tabu
auszuloten.
Erneut bestätigt er damit mit seiner sprachlichen Kunst das
Kritikerurteil des
"Papstes".
Am 13. Oktober 1972 stürzte das Flugzeug "Fuerza Aerea five
seven one"
der Luftwaffe Uruguays in den Anden in großer eisiger
Höhe ab. Über Wochen
verschollen, spielten sich unter den Überlebenden, die
schließlich am 23.
Dezember 1972 gefunden wurden, dramatische Szenen ab. Ein
Überlebenskampf
derjenigen, die der Hölle entkommen sind und dennoch in eine
weit schlimmere
katapultiert wurden.
In knappen Kapiteln, mit einer sehr nüchternen und
unprätentiösen Sprache
geht Jürg Amann diesem tatsächlichen
Geschehen nach. Er teilt uns nicht
mit, welche Quellen er benutzt hat, sondern nutzt seine dichterische
Freiheit,
aus dem dokumentierten und auch verfilmten Fall seine eigene Geschichte
zu
machen.
Der Autor schildert den Überlebenskampf der Menschen aus dem
Mund eines
namenlosen Ich-Erzählers, der berichtet, wie die Betroffenen
gegeneinander
agieren, aber auch miteinander handeln, um überleben zu
können. Zunächst geht
es darum, sich gegen die Kälte zu schützen und sich
von den vielen Toten, die
täglich dazukommen, weil sie ihren schweren Verletzungen
erliegen, nicht
entmutigen zu lassen.
Schon nach wenigen Tagen im Angesicht des fast sicheren Todes fallen
alle
moralischen Grenzen, und die Überlebenden beginnen mitten in
der Kälte und im
tiefen Schnee in grenzenloser Verzweiflung in einer gigantischen Orgie
jeder mit
jedem zu kopulieren, eine besonders natürliche und archaische
Form der Suche
nach Trost. Doch das hält ebensowenig lange an wie die knappen
Nahrungsmittelvorräte, die sie aus dem Flugzeugwrack
zusammengetragen haben.
Und irgendwann stehen sie vor der furchtbaren Frage, ob sie das Fleisch
der
Toten, die überall im Schnee liegen, essen
dürfen, um zu überleben ...
Jürg Amann hat eine kleine, stellenweise trotz des grausigen
Themas poetische
Novelle verfasst, in der er mehr als nur diese eine Frage auslotet. Es
geht um
Moral, um Liebe, um Solidarität und um die Grenzen des
Menschseins.
Eine aufrüttelnde, nachdenkliche Lektüre, die lange
nachwirkt.
(Winfried Stanzick; 01/2011)
Jürg
Amann: "Die Reise zum Horizont"
Haymon Verlag, 2010. 104 Seiten.
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Jürg
Amann wurde 1947 in Winterthur/Schweiz geboren. Studium der Germanistik
in Zürich und Berlin, Literaturkritiker und Dramaturg, seit
1976 freier Schriftsteller. Jürg Amann starb am 5. Mai 2013 im Alter von 65 Jahren.
Weitere Buchtipps:
Nando Parrado, Vince Rause: "72 Tage in der Hölle. Wie ich den
Absturz in
den Anden überlebte"
Am 12. Oktober 1972 besteigt Nando Parrado gemeinsam mit Freunden eine
Maschine
nach Santiago de Chile. Doch sie werden ihr Ziel nie erreichen, denn
das
Flugzeug stürzt fern jeglicher Zivilisation über den
argentinischen Anden ab.
Nando Parrado gehört zu den wenigen Überlebenden,
aber er muss bald wie alle
anderen begreifen, dass sie kaum eine Chance haben inmitten von Schnee
und Eis.
Bis Nando Parrado den kühnen Entschluss fasst, Hilfe zu holen.
Zusammen mit
einem Freund macht er sich auf den Weg durch das ewige Eis der
Andengipfel ...
(Goldmann)
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Ben
Sherwood: "Wer
überlebt? Warum manche Menschen in Grenzsituationen
überleben, andere nicht"
Naturkatastrophen, Unfälle, Krankheiten - wir leben in einer
gefährlichen
Welt. Aber woran liegt es, dass einige Menschen in Krisensituationen
überleben
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Reines
Glück?
Ben Sherwood geht dieser
Frage nach. Er erzählt erstaunliche Geschichten von
Überlebenden, analysiert
ihre Verhaltensmuster und lüftet einige ganz praktische
Geheimnisse des
Überlebens, zum Beispiel warum man im Flugzeug die Schuhe
anbehalten sollte und
welcher Sitzplatz der sicherste ist. Denn: Überleben ist keine
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oft genug hat man es selbst in der Hand!. (Goldmann)
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Amanda
Ripley: "Survive.
Katastrophen - wer sie überlebt und warum"
Überlebende des Anschlags auf das "World Trade
Center"
brauchten durchschnittlich sechs Minuten, bis sie ihre
Arbeitsplätze
verließen, manche sogar bis zu 45 Minuten. Worauf warteten
sie und warum?
Amanda Ripley wollte genau wissen, welches Verhalten hinter den
Statistiken
steckt. Sie nimmt den Leser mit in die Zwillingstürme, auf die
sinkende Fähre
"Estonia", zu Hurrikan "Katrina" und zu einem Geiseldrama in
Bogota. Vor allem aber gibt sie die erstaunlichen Erkenntnisse weiter,
die sie
aus Interviews mit zahlreichen Überlebenden gewonnen hat. Ihr
Buch ist
das
Gegenteil von Panikmache. Es beweist, dass wir mehr Kontrolle
über unser
Schicksal haben, als wir denken. (Fischer)
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Falko
Schmieder (Hrsg.):
"Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen"
Das zwanzigste ist als ein katastrophales Jahrhundert bezeichnet
worden. Die
traumatischen Erfahrungen mit der Geschichte reflektieren sich im
Begriff des Überlebens,
der seit dem 20. Jahrhundert eine ungeheure Verbreitung gefunden hat.
Die aktuellen Einsätze des Begriffs verdanken sich dabei
einerseits dem
Umstand, dass sich mit seiner Hilfe die Erfahrungen grundlegender
konzeptueller
Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte bündeln und
weiterdenken lassen.
Andererseits scheint der Begriff geeignet zu sein, neuere Erfahrungen
einer
Verallgemeinerung existenzieller Nöte zu problematisieren. Das
anthropologische
Konzept einer Lebensphilosophie scheint schleichend durch das
anthropofugale
einer Überlebensphilosophie und das Wissen vom Leben
durch ein
Überlebenswissen
abgelöst zu werden.
Die Beiträge des Bandes untersuchen historische und aktuelle
Kontexte, in denen
dem Begriff des Überlebens eine Schlüsselstellung
zukommt. Zu den leitenden
Fragen gehören die nach den epistemologischen, politischen und
normativen
Implikationen und den aktuellen Konsequenzen der Verwendung dieses
Grundbegriffs
der Nachgeschichte. (Wilhelm Fink Verlag)
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