António Lobo Antunes: "Mein Name ist Legion"
"Fado sobre Bairro" (Bairro-Fado)
Ich meine mich zu erinnern, einmal die Aussage gelesen zu haben,
António Lobo
Antunes würde eigentlich nur an einem Buch
schreiben. Das würde
bedeuten, jeder neue Roman des Autors wäre eine neue Facette
bzw. eine
Neubeleuchtung eines Moments aus einem anderen Roman von Antunes.
Das große Thema von António Lobo Antunes ist immer
Portugal. Ob in Form einer
Elegie über Angola oder die Auswirkungen Angolas auf Portugal,
oder in Form einer Auseinandersetzung mit der Diktatur Salazars bzw. deren
Auswirkungen auf das Leben in Portugal für die Portugiesen.
"Mein Name ist Legion" ist der deutschsprachige Titel des im Original
schon im Jahr 2007 erschienenen Romans.
"Die Verdächtigen, 8 (acht) an der Zahl und im Alter
zwischen 12 (zwölf) und 19 (neunzehn) Jahren, verließen um 22:00 (zweiundzwanzig
Uhr und null Minuten) den im Nordosten der Hauptstadt liegenden und leider wegen
seiner heruntergekommenen Bausubstanz und den damit verbundenen sozialen
Problemen bekannten Stadtteil Barrio 1° de Maio in Richtung Amadora, wo
sie angenommenermaßen gegen 22:30 (zweiundzwanzig Uhr und
dreißig Minuten), was allerdings noch der Bestätigung durch die Verhöre,
sei es der Verdächtigen, sei es möglicher, bisher noch nicht festgestellter Zeugen
bedarf, mit einer Hauptschlüssel genannten Methode ..."
Dieser erste Absatz, an dieser Stelle durch den ersten Einwurf
unterbrochen, ist
schon die Keimzelle dieses in sich kreisenden Romans.
Ein kurz vor der Pensionierung stehender Polizist verfasst einen
trockenen Tatsachenbericht über eine besonders brutale Nacht einer aus
dem Elendsviertel Barrio stammenden Jugendgang, in der unter Anderem
Mord, Vergewaltigung und sonstige Brutalität vorkommen.
Immer wieder unterbrechen Erinnerungen an seine Kindheit, an eine
physisch und psychisch weit entfernt lebende Tochter aus einer gescheiterten Ehe den
Verlauf.
Und so treten immer mehr Stimmen in Erscheinung; Prostituierte, Gangmitglieder,
Verwandte, Schwarze, Weiße, Mischlinge; Menschen, die im
Schatten der Wohlstandsgesellschaft leben, für die Gewalt eine
übliche Begleiterscheinung
des Lebens darstellt.
Beeindruckend ist, wie António Lobo Antunes innerhalb dieses
hochvirtuosen polyphonen Stimmengewirrs Raum für individuelle Farben
schafft. Auch wenn es höchste Konzentration erfordert, dieses wunderbare großangelegte Werk
zu lesen, ist doch immer sehr rasch klar, wer gerade die Rolle des
Erzählers, des Nörglers, des Leidenden, des Enttäuschten und des Erniedrigten
übernommen hat. Die von Antunes hier gezeichnete Welt ist hart, kalt und in aller Konsequenz
aussichtslos. Er legt seinen "Sezierstift" dort an, wo es am meisten weh tut.
"... und ich wartete auf meinen Vater, war mir dennoch sicher, dass ich
den Weg aus dem Bairro finden würde, nicht bei den wilden Feigen
und den Kakteen, sondern oben, bei dem Eukalyptushain und dem Steinbruch, aber wer
garantiert mir, dass die Polizei nicht im Steinbruch, auf dem Campingplatz am
Ausgang von Amadora oder auf der Autobahn ist, wo Mädchen, die nach
Beendigung des Krieges aus Afrika gekommen waren, an den Kilometersteinen stehen und uns
zuwinken
(falls
die magere Rothaarige
-
Kuckuck
umarme
ich sie dann?)
die
Krücke fiel am Ende hin, die Vögel blieben ohne
Füße und Schwänze, und
kein Neger stellte sie fertig, manchmal frage ich mich, ob es mir nicht
doch etwas ausmacht, inmitten von Mischlingen zu leben, die nicht mit mir
zusammenleben, sie sind im Bairro mit einem Land unterwegs, das sehr
viel größer
ist als dieses hier ..."
Längst hat sich der trockene Bericht in einen poetischen
Albtraum verwandelt, eine Symphonie der Stimmen, ein traurig-schauriges literarisches
Plädoyer für einen angemessenen Umgang miteinander, ein Manifest gegen Rassismus,
der doch viel stärker vorhanden ist, als man es wahrhaben
möchte.
"Wo ich gerade von Mündern rede, ich habe einen Stein
vom Bürgersteig
genommen und damit auf den Mund und die Nase des großen
Schülers gehauen. Mit
Kraft, aber nicht mit viel Kraft, um den Zahnapparat nicht
kaputtzumachen. Die Bücher
seiner Freundin verteilten sich auf dem Boden. Ich habe ihnen einen
Fußtritt verpasst. Weil sie hübsch war? Auf sie habe ich nicht
geachtet. Weiß nicht. Hab ich doch. Sie hatte ein grünes Kleid an. Ich hatte keine
Lust, sie anzufassen. Ich mag nicht, wenn Leute mich anfassen. Als ich klein war,
hat mich eine Alte aus dem Bairro manchmal auf den Schoß genommen.
Junge, sagte sie. Junge. Dann ist sie gestorben, und das geschah ihr recht ..."
"Mein Name ist Legion" ist ein großer, reifer und gewichtiger
Roman eines Autors, der die totgeschwiegenen sozialen Probleme unserer Zeit
vorführt und den willigen Leser rau und beklemmend wachrüttelt. Prosa, die
nur dann belohnt, wenn man bereit ist, sich auf die Weite, die Größe
und Mehrdimensionalität dieses Romans ohne Wenn und Aber einzulassen.
(Roland Freisitzer; 11/2010)
António
Lobo Antunes: "Mein Name ist Legion"
(Originaltitel "O meu nome é Legiao")
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand, 2010. 448 Seiten.
Buch
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Ein weiteres Buch des Autors:
"An den Flüssen, die strömen"
Der weltberühmte portugiesische Autor beschreibt seine Krebserkrankung.
In seinem persönlichsten, ergreifendsten Buch erzählt der weltberühmte
Schriftsteller António Lobo Antunes ganz offen von seiner Erkrankung an Krebs.
Er berichtet von den zwei langen Wochen, die "Senhor Antunes",
sein literarisches Alter Ego, in einem Krankenhaus verbringt, mit seinem
Schicksal hadert, sich Operation und Behandlung unterzieht, sein Leben Revue
passieren lässt und - letztlich - seine Todesangst überwindet.
Im Frühjahr 2007 verbringt "Senhor Antunes" zwei Wochen in
einem Krankenhaus, um sich einer Darmkrebsoperation zu unterziehen. Seine täglichen
Aufzeichnungen spiegeln wider, wie das Bewusstsein des Erzählers zwischen
Fieberträumen und Verzweiflung, Schmerzen und Ängsten, Erinnerungen an seine
Kindheit und an verschiedene Episoden aus seinem Leben hin und her springt und
all diese Ebenen miteinander verwebt. Die für das Schreiben von António Lobo
Antunes so typische Stimmenvielfalt ergibt sich hier aus den vielen Facetten
eines einzigen Lebens, eines einzigen Menschen. Und dieser Mensch versucht sich
im Angesicht des Todes seines Lebens zu vergewissern, der Menschen, die ihm
wichtig waren, vor allem seines Vaters und seiner Mutter, aber auch der
Landschaft, die ihn prägte. Immer wieder kommt der Fluss Mondego ins Spiel, an
dessen Quelle der Erzähler als Kind stand und der am Ende ins offene Meer mündet,
der Fluss, der zugleich Bild des Lebens ist wie des Erzählens. In diesem sehr
persönlichen, sehr anrührenden, meisterhaften Roman schlägt Lobo Antunes
einen großen Bogen von tiefer existenzieller Qual zu Hoffnung und Versöhnung.
(Luchterhand Literaturverlag)
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