Ulrich Becher: "Murmeljagd"
Anlässlich
des 100. Geburtstages
von Ulrich Becher machte der Schöffling-Verlag das Opus magnum
des Autors, den
700-Seiten-Roman "Murmeljagd", wieder zugänglich, ein
Generationen
und Länder übergreifendes, pralles, vielschichtiges
Werk von zeitloser Qualität,
das nicht nur des brisanten Inhalts wegen aufwühlt, sondern
auch formal
ungemein lebendig und modern auftritt. Trotzdem geht der junge und
ambitionierte
Verlag mit dieser Neuauflage ein nicht geringes Wagnis ein. Was
früher als
unternehmerische Tugend galt, ist ja in Zeiten erbarmungsloser
Verdrängungskämpfe
auf dem Buchmarkt zur Ausnahmeerscheinung geworden, der man mithin nur
Respekt
zollen kann. Ob das Buch heute seine Leser findet, ist angesichts der
tiefen
Vergessenheit, in die Becher und sein Werk versunken sind, leider
fraglich, so wünschens-
und lohnenswert eine Wiederentdeckung zweifellos ist.
Als "Uli" Becher 1969 nach elfjähriger Arbeit - Vorarbeiten
reichen
sogar zurück bis in die 1940er-Jahre - diesen Roman bei
Rowohlt herausbrachte,
wurde er zwar von Seiten der Kritik durchaus zustimmend aufgenommen,
auch ins
Französische und 1977 ins Englische übersetzt, aber
einen Verkaufserfolg
konnte er damit nicht erzielen. Die Thematik war einfach nicht mehr
chic, die
eigenwillige Erzählweise stand quer zu allen literarischen
Strömungen. Die
lesende Öffentlichkeit interessierte sich für die "Gruppe
47" und Handkes werbewirksame Publikums- und
Kollegenbeschimpfung,
sofern sie nicht restaurativ gewissen erdigen, nun wieder christlichen
Autoren
die Treue bis in den Tod hielt. Emigranten, insbesondere solche der
jungen
Generation, die bei der NS-Machtübernahme am Beginn ihrer
Karriere gestanden
und noch nicht über einen großen Namen
verfügt hatten, wurden auf leise Art
abermals zu "Vertriebenen". Man wollte vorwärts blicken und
fand es
an der Zeit, mit zunehmendem Wohlstand auch die
Trümmerliteratur zu entsorgen.
Die sehr realistische Nazi-Vergangenheit und Exilproblematik wurde
zugunsten
einer Ästhetik-Debatte über die
Erzählbarkeit der Welt ins Abseits gedrängt.
Becher, ein unverdrossen "realistischer" Erzähler,
Jargon-Schnüffler,
Stimmungs- und Figuren-Schnellzeichner, eine schreibende Kamera und ein
verblüffender
Stimmenimitator (wie der mit ihm eng befreundete Helmut
Qualtinger), saß wieder einmal zwischen allen
Stühlen.
Stilistisch zwischen Expressionismus, Hemingway und Dos Passos, als
Angehöriger
einer Zwischengeneration, als Mehrfachtalent (er war
Zeichen-Schüler von George
Grosz, spielte mehrere Instrumente und verfügte über
ein absolutes Gehör),
politisch links und parteilos (zwischen Urchristentum, Kommunismus und
Anarchie
pendelnd), gehörte er während und nach der Emigration
nirgends richtig dazu.
Er war immer auf dem Sprung. Jahrzehnte nach dem Krieg lebte er im
friedlichen
Basel, der Stadt zwischen Schweiz, Deutschland und Frankreich, in
provisorischen
Unterkünften mit griffbereiten Koffern. Im Ineinander von
Vorläufigkeit und
Nachträglichkeit war und blieb er heimatlos zu Hause, das
Zwischen war sein
Ort.
Geboren 1910 in Berlin, aufgewachsen in
großbürgerlichen Verhältnissen, der
Vater ein einflussreicher Anwalt, traf er im Salon der kunstsinnigen
Mutter,
einer Schweizer Pianistin, auf Prominenz aller Art, während
der den Jungen
stark prägende Großvater, ein Abenteurer und
Sozialist, den Jungen in die
Fabriken und Arbeitersiedlungen mitnahm. Nach der
nationalsozialistischen Machtübernahme
verließ er Deutschland und wurde durch Heirat
Österreicher. Sein
Schwiegervater war der überaus populäre k. u. k.
Kabarettist und
Erfolgsschriftsteller Alexander Roda Roda, dem Becher mit der Figur des
Konstantin Giaxa in der "Murmeljagd" ein Denkmal setzte. Knapp vor dem
Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich folgte das junge
Paar den Eltern in
die Schweiz. Obwohl Ulrich Becher mütterlicherseits halber
Eidgenosse war,
wurde er als Flüchtling betrachtet und musste das Land 1941
verlassen. Auf
abenteuerliche Weise verschlug es ihn für drei Jahre nach
Brasilien. Hier
schrieb er Gedichte und Artikel für Emigrantenzeitschriften,
bis endlich das
Visum zur Einreise in die USA eintraf. 1948 kam er aus New York nach
Wien zurück,
wo mit großem Erfolg seine mit dem Schauspieler Peter Preses
in den Vereinigten
Staaten von Amerika geschriebene tragische Posse "Der Bockerer"
uraufgeführt wurde. Becher etablierte sich in den folgenden
zehn Jahren als
gefragter Theaterautor, doch ein eklatanter Flop
trug dazu bei, dass er
sich wieder der Prosa zuwandte und das lange aufgeschobene Romanprojekt
in
Angriff nahm.
Zum Inhalt: Trebla, altösterreichischer Aristokrat, ein
Letzter in langer Linie
wie Joseph Roths Trotta, im Ersten Weltkrieg Kampfflieger,
während des
Austrofaschismus überzeugter Sozialist, entkommt der
"Gleichschaltung"
der Ostmark durch eine tollkühne Flucht auf Skiern
über die Silvretta in die
Schweiz. Seine Frau Xane, die mit der befreundeten Schauspielerin Pola
Polari
und deren holländischem Ehemann Joop ten Breukaa, einem
ebenso reichen wie
langweiligen Kunstsammler, mit dem Zug gerade noch rechtzeitig
ausgereist ist,
erwartet ihn hier. Sie nehmen ein sehr bescheidenes Quartier in
Pontresina, während
die Ten Breukaas in der eigenen Villa residieren, wo man sich trifft,
streitet,
Mut zuspricht und zu Ausflügen aufbricht, anfangs ganz in der
Manier
unbeschwerter Feriengäste. Diese vier Wochen "Kur" im
Oberengadin
bilden den Erzählrahmen, der von Rückblenden und
Parallelmontagen aufgebrochen
wird, die ihrerseits 40 Jahre umfassen.
Doch etwas ist faul im Staate, die Idylle der neutralen Schweiz wird
zunehmend
unheimlich, ja, feindlich. Mag sein, dass die Nachrichten von
ermordeten
Freunden, von Nazi-Gräueln, von Transporten und
Konzentrationslagern, dazu
Treblas Erinnerungen an die eigenen traumatischen Kriegserlebnisse, die
eintreffenden Berichte vom Spanischen Bürgerkrieg und
schließlich der Tod von
Xanes Vater zu einer anwachsenden Paranoia führen. Liegt die
Gefahr nur im Auge
des Betrachters? Eine Serie seltsamer Unfälle macht auch hier,
in der
Sicherheit des Exils, den Tod allgegenwärtig. Der Anwalt
Gaudenz de Colana und
der Druckereibesitzer Zarli Zuan ertrinken. War es Mord, Unfall oder
Selbstmord?
Ein Soldat erschießt sich, nachdem er beinahe einen
Vorgesetzten getötet hat.
Ein zurückliegender Jagdunfall, bei dem der Wirt Men
Clavadetscher die Hände
im Spiel hat, sorgt zusätzlich für Verunsicherung.
Zwei blonde Österreicher
scheinen auf Trebla angesetzt zu sein, um ihn zu liquidieren. Es gilt,
ihnen
zuvorzukommen und sich vom Gejagten zum Jäger zu wandeln.
Der Name des Ich-Erzählers der "Murmeljagd" ist selbst
Sinnbild für
dieses - fast - undurchdringliche Ineinander von Wahn und Wirklichkeit,
in das
der Exilant ohne gültige Papiere gerät: Albert Trebla
ist ein Palindrom, ein
und dasselbe Wort, einmal richtig, einmal verkehrt herum gelesen. Das
verweist
auf die zentralen Fragen des Romans: Wie verlässlich sind
unsere Sehweisen der
Wirklichkeit? Wo gibt es Sicherheit, wo kann man sich verstecken, darf
man
seinem Gefühl noch trauen? Es geht dem Protagonisten wie den
Murmeltieren, die
ständig aufhorchen, um beim leisesten Anzeichen einer Gefahr
in Deckung zu
gehen:
"Ich wurde gejagt. Nicht wissend, von wem. [...] Ich war ein
unseliges
einsames unbewehrtes abgehetztes Murmelmenschlein, allein und elend auf
weiter
Flur, allein mit meinem wesenlosen Verfolger." [S.
156f.]
Becher verzichtet hier auf Kommata zwischen den Attributen nicht etwa
zufällig.
Er setzt seine Zeichen sehr überlegt. Es geht ihm dabei nicht
um eine
Aneinanderreihung von Synonymen, die austauschbar sind, vielmehr will
er ein
Viereck von Befindlichkeiten skizzieren, die das "Murmelmenschlein"
unentrinnbar umzäunen. Immer greift diese Prosa aus, tastet
die Erfahrungsräume
des Bildnerischen, Dramatischen, Musikalischen, Filmischen ab nach
erweiterten
Ausdrucksmöglichkeiten fürs Schreiben. Keineswegs
handelt es sich bei Becher
um einen Nachzügler, wie Teile der zeitgenössischen
Kritik vermutet haben.
Seine ästhetische Eigenwilligkeit hat von sich aus und bis
heute Bestand.
Vieles erscheint nachgerade als Vorgriff auf postmoderne
Gestaltungsweisen.
Das Riesenrad auf dem Schutzumschlag dieser auch wegen ihrer
Augenfreundlichkeit
einzigartigen Neuauflage ist sehr passend gewählt, denn der
Wiener Prater ist
eines der Zentralmotive des Romans. Zwei der fünf
Bücher, aus denen sich die
"Murmeljagd" zusammensetzt, führen die "Geisterbahn" im
Titel an. Sie ist das Sinnbild für das Lebensgefühl
der Exilierten.
Angetrieben von unsichtbaren Kräften, unterwegs auf Schienen
der Bürokratie,
wartet an jeder Ecke ein neuer Schrecken. Geister der Vergangenheit und
der
Horror der Gegenwart verfinstern die Welt. Jedes Entkommen ist
vorläufig. Der lärmende
Prater mit seinem falschen Glitzer, mit Schießbudenfiguren
allerorts, mit der
Ausweglosigkeit im Spiegelkabinett, wo Grauen dem lächerlichen
Kasperltheater
folgt, macht augenfällig, womit das "Zeitalter der
Illusionsfabrikanten"
grausam ernst macht und jede Erfahrungswirklichkeit zum "Kaffee Hag"
werden lässt, "Kaffee, in dem kein Kaffee drin ist,
der aber schmeckt
wie
Kaffee". [S. 303]
Bechers unbändiges, farbenfrohes Ja zum Leben, allem Rauch und
Nebel zum Trotz,
seine militante Wut gegen alles Totmachende (die Atombombe erschien ihm
als
Fortentwicklung der Hitlerei) dürfte mit dazu beigetragen
haben, dass er sich
sowohl in seinen Theaterstücken wie auch in der Prosa und
besonders in der
"Murmeljagd" nicht gerade als ein Meister im Gestalten des Schlusses
erwies. Viele retardierende Momente halten gegen Ende des Buches den
neugierigen
Leser, der längst schon mehr weiß als der
Erzähler, über Gebühr hin. So
gekonnt Ulrich Becher mit dem Genre des Kriminal- und Schauerromans
auch spielt,
hier, im völligen Mangel des Killerinstinkts
gegenüber seiner eigenen
Schöpfung, zeigt sich, dass er auch den Erfordernissen der
Kunst nicht alles
opfern wollte. Ohne es auszusprechen, lobte er unablässig das
Leben. Bei aller
gebotenen Unsentimentalität, Trauer, Auflehnung sah er die
Welt mit den glücklichen
Augen des Vitalisten.
Aber wer Leben und Bücher nicht vom Ende her legitimiert, der
spürt in der
"Murmeljagd" eine unvergessliche Jugendlichkeit und eine packende
Erzählkraft
- und lebt mit.
(Alfred Stary; 11/2011)
Ulrich
Becher: "Murmeljagd"
Gebundene Ausgabe:
Schöffling & Co., 2009. 704 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Spektral, 2009.
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