Marica Bodrožić: "Das Gedächtnis der Libellen"
Denken in Sprache oder Die Ruinen unseres Lebens
"Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle."
(Albert
Einstein)
An schönen Sommertagen kann man an Teichen Zeitzeuge dieser
Aussage werden. Ein
geheimnisvolles Schweben und Knistern umgibt die Wasserfläche,
bunte Farben
blitzen zwischen Binsen und Schilfhalmen auf. Es sind Libellen,
faszinierende
Insekten. Sie leben ein Doppelleben, versteckt im Wasser einerseits,
und zum Anderen
feiern sie gleißende Hochzeiten in der Luft. Nur kurz zeigen
sie ihre
schillernde und lebendige Oberfläche, der eine lange Zeit des
Verborgenen, Unauffälligen vorangegangen ist.
Die 1973 in Dalmatien geborene und ab ihrem zehnten Lebensjahr in
Deutschland aufgewachsene Marica Bodrožić beschäftigt sich in ihrem
Debütroman
gleichfalls mit unter der Oberfläche Verborgenem. Libellen
sind für sie das
verbindende Element. Ihre Hauptfigur Nadeshda hat eine besondere, eine
geheimnisvolle, eine bedrückende Beziehung zu ihnen: "Ich
weiß jetzt, warum
ich Libellen schon immer sehr geliebt habe. Noch bevor ich wusste, dass
mein Vater sie getötet und in einem Album gesammelt hat, waren sie
der Inbegriff von
Schönheit
für mich. Es ist eine Schönheit,
die sich fortwährend entzieht."
"Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu werden,
geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr trotz seiner selbst."
(Victor Hugo)
Vordergründig erzählt der Roman von einer Liebe, von
der unglücklichen Liebe
Nadeshdas zu Ilja, einem verheirateten Mann, mit dem sich eine
kurzzeitige,
reichlich bizarr anmutende, schmerzhafte Beziehung entspinnt. Beide
Schriftsteller, beide im ehemaligen Jugoslawien geboren, richten sie
auf der ganzen Welt ihre flüchtigen Liebesnester ein. "Wenn
er bei mir ist, kommt mir
alles Verrückte normal und alles Normale verrückt
vor."
Allerdings ist es für den Einen nur ein Davonlaufen vor sich
selbst. Die junge
Frau jedoch heftet an diese Leidenschaft ihre ganze Hoffnung auf eine
gemeinsame Zukunft. Wartend verbringt sie die Zeit zwischen den erneuten
Zusammenkünften.
Sehnsucht bestimmt ihren Tagesablauf: "Was aber ist die Liebe
eigentlich, wenn
wir nicht Sehnsucht haben? Ist der Lohn der Sehnsucht je ein anderer
als das Geschenk einer weiteren Sehnsucht?" Nach und nach stellt sich
hingegen
Erkenntnis ein, "weil ich schließlich nur auf diese
Weise gelernt habe, dass
die Abwesenheit eine hungrige Lücke ist und dass man von
Hoffnung erfüllt zwar warten kann, aber gerade dabei hoffnungslos wird."
Hintergründig offenbart sich in der Erzählung
indessen ein viel größeres
Drama. Die Aufarbeitung, als die sich der Roman zu erkennen gibt,
stellt sich als Brücke zu ihrer Kindheit heraus. So
schmerzhaft und tränenreich
diese unglückliche Liebe auch war, Ilja besaß den
Schlüssel zu den
verstaubten Zimmern von Nadeshdas Erinnerungsarchiven in ihrem lange
verschlossenen Haus. Er gibt der Frau das "Gedächtnis
ihres Körpers",
lockt sie unbewusst aus ihrem "winterharten Wartetunnel"
und öffnet durch die Trennung das "Gefängnis in ihrem Kopf".
"Ohne diese Inventur des eigenen Inneren blieben wir lebensblind. Um uns zu sehen, brauchen wir
den anderen." Nadeshda schreibt ihre Lebensgeschichte neu.
Lücken werden geschlossen, Leerstellen ausgefüllt, die "plattentektonische
Gefühlsfabrik"wird beruhigt.
"Das Alte und das Neue werden sichtbar, wenn die Nähe
zu einem Menschen nicht
mehr nur ein Gedanke ist." Das Alte war ihre Kindheit in
Jugoslawien, ihr gewalttätiger Vater, der mit der Mutter in einer Nacht und
Nebelaktion nach
Amerika floh und das fünfjährige Mädchen
allein bei seiner Tante zurückließ.
Ihre Vergangenheit liegt seitdem unter einem Berg von Fragen
verschüttet und machten aus der Frau eine ständig Suchende, ja Klammernde. "Wenn
man nicht weiß, woher man kommt, dann weiß man auch nicht,
wohin man geht." Doch
Nadeshda verarbeitet die "Haut- und Mundnachbarschaft"
zu Ilja und wagt den
Weg ins Ungewisse ihrer Biografie, die auch den Balkankrieg nicht
ausspart. "Es ist erstaunlich, wie lange ein Krieg dauern
kann, wie lange er den Frieden
mit seinen Prothesen, Krücken und dienstbereiten Soldaten
durchsetzen kann."
Der Erzählstil der Autorin gleicht einem mäandernden
Erinnerungsfluss, einem
ständigen Treppauf und Treppab, einem Archivieren von
Gedanken. Vielleicht eine
Art Weltverstehen oder ein Versuch, "aus der sprachlosen Zeit
an die Wörter
heranzukommen, um etwas von ihnen zu lernen. (...) Wir glitten vom
Denken ins
Erzählen, segelten auf unseren Erinnerungen und inneren
Bildern hinüber, in
irgendetwas Drittes, das wir noch nicht kannten."
Bodrožićs Duktus ist ein langer innerer Monolog, ein zaghaftes,
feinfühliges Herantasten, ein vorsichtiges Erobern, ein Abwägen und
Hinterfragen in Bezug
auf die Geheimnisse des menschlichen Lebens, eine Suche nach sich selbst, nach
der eigenen, einsam hallenden Stimme. Die Autorin versteht sich
vortrefflich auf das Füttern von Imaginationen. Hervorzuheben ist das
außergewöhnliche Sprachempfinden. Die auf Deutsch
schreibende Autorin findet Wörter und Sätze,
die im Kopf des Lesers zu Landschaften werden und die Lektüre
zu einem fast fühlbaren sinnlichen Empfinden machen.
Gleichzeitig ist jedoch durch ihre komplexen
Gedankengänge und Zeitensprünge eine erhöhte
Konzentration vonnöten, um die
Komplexität und Tiefe ihrer Zeilen zu erfassen und zu
verinnerlichen. Aber wie
sagt die Autorin so treffend: "Es ist in allem eine
Zwickmühle drin, nur in
der Liebe und im Erzählen nicht, da findet sich alles in der
Vereinigung
zusammen und wird dann allen Widersprüchen zum Trotz etwas
Ganzes. Sprache."
(Heike Geilen)
Marica
Bodrožić: "Das Gedächtnis der Libellen"
btb, 2012. 253 Seiten.
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Marica Bodrožić wurde 1973 in
Svib/ Dalmatien, dem heutigen Kroatien geboren. Sie lebt seit 1983 in
Deutschland und schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre
Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den "Förderpreis
für Literatur" von der Akademie der Künste in Berlin, den "Kulturpreis Deutsche
Sprache" und zuletzt für ihren Roman "Kirschholz und alte Gefühle" den Preis der
"LiteraTour Nord", den "Kranichsteiner Literaturpreis" und den "Literaturpreis
der Europäischen Union". Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in
Berlin.
Zwei weitere Bücher der Autorin:
"Das Wasser unserer Träume" zur Rezension ...
"Mein weißer Frieden"
Eines Nachts führt Marica Bodrožićs Vater sie in ihrem dalmatinischen Dorf
hinaus ins Freie. Sie ist noch ein Kind, und er zeigt ihr am Himmel die Sterne
des Südens, erklärt ihr, wie jeder einzelne Stern heißt und dass das Licht der
weitentfernten Galaxien alles auf der Erde beschützt: die Tiere, die Bäume und
Pflanzen, auch jeden einzelnen Menschen, samt seinen Träumen. Ein ergreifendes
Momentum schreibt sich tief in das Kind ein.
Seither ist Marica Bodrožićs Blick auf den Himmel gerichtet, immer auf der Suche
nach den Sternen, Erzählungen und Beglückungen des Südens. Diese wesenhafte
Liebe bleibt ihr auch im dörflichen Hessen erhalten, als sie das alte
Jugoslawien für immer verlässt und in die Nähe von Frankfurt zieht. Selbst als
in den 1990er-Jahren der Krieg in ihrem Herkunftsland ausbricht, bleibt sie
dieser Liebe ungebrochen treu. Seitdem ist sie häufig in ihre brutal zerrissene
Herkunftsgegend zurückgereist, und in diesem Buch erzählt sie von ihren
gleichermaßen ethnologischen wie empathischen Begegnungen mit Land und Leuten
vor dem Ausbruch des Krieges und danach. Sie beschreibt eindringlich die
mediterrane Welt, aber auch die Verwüstungen, die der Bürgerkrieg hinterlassen
hat: konkret, anschaulich und zutiefst poetisch zugleich. Dabei geht es ihr
immer auch um die Beschwörung der humanistischen Werte und um die Hinwendung zum
freien Menschen, der nur dann wirklich frei sein kann, wenn er lernt, auch das
Dunkle in seiner eigenen Geschichte zu sehen.
Marica Bodrožićs Buch ist ein couragierter Beitrag zum Erlernen dieses inneren
Sehens. (Luchterhand Literaturverlag)
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