Håkan Bravinger: "Ein unversöhnliches Herz"
Schuld
oder Das eisige
Schweigen
Bruderhass ist eines der ältesten Motive in der Literatur. Die
biblische Erzählung
von Kain und Abel offenbart dabei wohl den bekanntesten Konflikt.
Romulus und
Remus, die Zwillinge der römischen Mythologie, stehen dem kaum
nach. Nun hat
sich der Schwede Håkan Bravinger dieses Sujets angenommen.
Aber keine okkulten
Personen sind Gegenstand seines Romandebüts, sondern ganz
reale Männer: Poul
(1876-1964) und Andreas (1879-1925) Bjerre. Der Ältere Arzt,
berühmter
Psychoanalytiker, Schriftsteller, Freudianer und Anhänger
Nietzsches, der Jüngere,
ein brillanter Kriminologe, erster Professor für Strafrecht an
der estnischen
nationalen Universität Tartu, Kierkegaard zugewandt und
Erforscher menschlicher
Abgründe.
Nun dürfte man annehmen, dass gerade diese Beiden aufgrund
ihrer Profession
derartigen Neurosen nicht erliegen dürften. Doch weit gefehlt.
Andreas wurde
jahrelang von sexuellen Obsessionen gequält und litt an
Minderwertigkeitsgefühlen,
seinen Sohn Sören Christer, aus erster Ehe mit Amelie Posse,
stufte man als
Psychopathen ein und schob ihn nach mehren Verwahrungen in
Nervenheilanstalten
nach Australien ab. Poul selbst galt als exzentrische und eitle
Persönlichkeit.
1925 beging Andreas Bjerre, stark depressiv und schon lange
körperlich
angeschlagen, Selbstmord. Sein Bruder Poul weigerte sich diesen Umstand
zu
akzeptieren und beschuldigte seine Schwägerin Madeleine,
Andreas' zweite Frau
und beste Freundin von Amelie, des Mordes.
Eine Art Hassliebe begleitet beide Brüder Zeit ihres Lebens.
Andreas behauptete
gar, Poul habe dem Hass Zugang zu seinem Körper verschafft. In
seinem Tagebuch
notierte er am 12. März 1915: "Poul war, nach meiner
Mutter, der erste
Mensch, durch den mir in meinem Leben das Böse
persönlich nahe kam."
Ein hartes Urteil über zwei Menschen, die sich eigentlich nahe
stehen sollten. "Andreas
und Poul waren wie ein zweigeteilter Mensch, bei dem die Eigenschaften
der einen
Hälfte spiegelverkehrt in der anderen Hälfte
existierten. Die Wahrnehmung, die
aus dieser Spiegelung entstand, erinnerte in manchem an Hass, war
jedoch etwas
ganz anderes, vielleicht Selbstverachtung. Eine Form von Herablassung,
wie sie
entstand, wenn man sein Spiegelbild in einer sich dunkel
kräuselnden und
verzerrenden Wasseroberfläche betrachtete", schreibt
der schwedische
Autor.
Håkan Bravinger folgt der autobiografischen Spur der beiden
Männer zwischen
den Jahren 1913 und 1925. Mittels intensiver Quellenrecherchen, der
Lektüre von
Tagebüchern und Briefen der beiden Männer entstand
ein dokumentarisches
Zeitzeugnis derer beider Leben. Bravinger verpackt alles in ein
Romankonstrukt.
Manche Ereignisse verschiebt er zeitlich, "um Platz in der
Geschichte zu
bekommen", andere Charaktere und Szenen erfindet er frei. Zum
Einen lässt
er einen auktorialen Erzähler das Umfeld von Andreas Bjerre
beleuchten, zum Anderen
das von Poul in Form eines von Andreas posthum in der Ich-Form
geschriebenen
Briefes. Beide Szenarien wechselt er stetig miteinander ab. So
erhält der Leser
einen breit gefächerten Einblick in die Zeit des Umbruchs, des
Aufbruchs zu
Neuem und Frischem, wie es das beginnende 20. Jahrhundert als solches
zeichnet.
Geschrieben ist der opulente Roman in einer einfachen, gut lesbaren
Sprache.
Allerdings stolpert man mitunter an einigen Stellen über
Ausdrucksweise und
Stil. Ob dies an der Übertragung aus dem Schwedischen liegt,
kann an dieser
Stelle nicht beurteilt werden. Auch spult sich der berühmte
rote Faden nicht
konsequent ab. Bravinger eröffnet zuweilen einen
Nebenschauplatz, ohne ihn
konsequent zu durchleuchten und abzuschließen. So bleibt zum
Beispiel das
Schicksal Sören Christers völlig im Dunkeln. Auf der
anderen Seite wiederum
gelingt es dem Autor, ein bravouröses Porträt einer
Lou Andreas-Salomé zu
zeichnen, der Poul für einige Zeit verfallen war. Auch das
zwiegespaltene Lager
um Freud und Jung arbeitet er vorzüglich heraus.
Fazit:
Schuld, Angst, festgelegte Normen und Konventionen, Tod, Erneuerung und
Liebe
sind die Themen in Håkan Bravingers Romandebüt. "Was
machen wir mit
unseren Erinnerungen? Wie verhalten wir uns, wenn unsere
Erinnerungsbilder nicht
mit denen anderer übereinstimmen?" Diese und eine
Menge anderer Fragen
wirft der Autor auf. Entstanden ist das opulente Bild der Hassliebe der
Brüder
Poul und Andreas Bjerre und dessen Deutungsversuch. Ein Buch mit
einigen
stilistischen Mängeln und einer nicht immer konsequenten
Verfolgung des
Handlungskonstrukts, aber trotzdem mit positivem Gesamteindruck. Eine
gelungene
Balance zwischen Wirklichkeit und künstlerischer Abbildung,
denn "manchmal
muss sie verzerrt werden, um ihrem Kern näher zu kommen, und
manchmal muss sie
ganz korrekt abgebildet werden. (...) Wenn man einen Menschen
beschreibt deutet
man ihn. Jede Biografie ist per se ein Roman. Und warum auch nicht? Das
ganze
Leben ist doch eine Frage der Deutung."
(Heike Geilen; 12/2010)
Håkan
Bravinger: "Ein unversöhnliches
Herz"
(Originaltitel "Bära Bud")
Aus dem Schwedischen von Paul Berf.
btb, 2010. 480 Seiten.
Buch
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