Louise de Vilmorin: "Julietta"
Eine
Lüge kann zum bitteren
Verhängnis werden. Innerhalb unserer zwischenmenschlichen
Beziehungen sind wir
ja immer darauf aus, uns gut zu verstehen - während wir
gewisse Ziele oder
Zwecke verfolgen. Dabei erwarten wir wohl grundsätzlich immer
Ehrlichkeit oder
Aufrichtigkeit oder Authentizität vom Anderen.
Das ist es, was man sieht, wenn man einen Menschen kennenlernt. Wir
möchten uns
diesem Menschen in seiner Eigenart nähern. Möchten
ihn in seiner Echtzeit zu
fassen kriegen.
Dabei ist doch so eine kleine Lüge
manchmal etwas recht Verführerisches. Sie kann ganz schnell
dazwischenkommen.
Sie kann so einfach dahergesagt sein, manchmal weiß man gar
nicht genau, warum
man sie nun so geäußert hat. Sie aber
zurückzunehmen - das bedeutet eine
Menge.
"'Monsieur! He! Monsieur!' [rief] Julietta während
ringsum die Frauen
stehenblieben und sie anstarrten, ohne dass ein einziger Mann
reagierte. [...]
'Das gehört Ihnen', sagte sie, 'hier, Ihr Etui. Sie haben es
vergessen.'"
So beginnt für Julietta, aber auch für den fremden
Monsieur, den Rechtsanwalt
André Landrecourt, eine kleine
Verwechslungskomödie. Julietta ist zarte 18
Jahre alt, und ihr Leben ist reine Träumerei für sie.
Sie ist dem Prinzen von
Alpen versprochen, und bis vor einigen Tagen hatte sie auch noch die
größte
Romantik für jenen übrig. Voller Inbrunst hatte sie
an die bevorstehende Zeit
gedacht. Doch dann hatte sie der schon etwas in die Jahre gekommene
Prinz geküsst,
und mit einem Mal wurde Julietta klar, dass sie ihn nicht liebt, dass
sie ihn
nicht heiraten will. Juliettas Mutter, Madame Valendor, gerät
bei dieser
Beichte vollkommene aus der Fassung; was das für den Ruf der
Familie bedeuten würde!
"'Du brauchst deinen Verlobten doch nur zu bitten, dich nicht
zu küssen.
Lass dir eine Ausrede einfallen. Sag ihm, dass du vom
Küssen
Ausschlag
bekommst, es gibt solche Fälle. Sonst überwindest du
dich eben. Glaub mir, in
der Ehe hat es sich bald ausgeküsst.'"
Also fahren Mutter und Tochter zum vereinbarten Termin nach Paris, um
mit dem
Prinzen zusammenzutreffen. Als jedoch dieser ruhige, unbekannte Fremde
im Abteil
sein Etui liegenlässt, als er den Zug vier Stunden vor der
Ankunft der beiden
Frauen in Paris verlässt, denkt Julietta nicht
darüber nach und bringt ihm
dieses hinterher. Die schlafende Mutter im Abteil und die Zeit gegen
sie (oder für),
denn der Zug fährt an und lässt Julietta mit dem
neuen Bekannten zurück. André
Landrecourt seinerseits ist verlobt mit Madame Facibey, zu der er am
nächsten
Morgen, nach einer kleinen Visite in seinem einsamen Haus, zu fahren
gedenkt.
"'Sind Sie verheiratet?', fragte [Julietta].
'Nein, verlobt und Sie?'
'Witwe', antwortete Julietta.
'Witwe?' wiederholte [Landrecourt] fast lachend."
Dass nun dieses junge Mädchen so zart vor ihm steht, weder
Geld oder Möglichkeiten
zur Hand hat, um sich eine andere Weiterfahrt zu besorgen, erscheint
ihm ein
wenig lästig, aber Landrecourt ist dankbar für das
zurückgebrachte Etui, ein
Geschenk seiner Verlobten, und so nimmt er Julietta, nachdem man einige
Pensionen abgegrast hat, die alle keine
Übernachtungsplätze mehr anbieten, mit
in sein Haus.
Am nächsten Morgen verabschieden
sich die beiden voneinander; ein Chauffeur würde Julietta
später zum Bahnhof
bringen. Die Wege beider würden sich wieder trennen. Eine
sanfte Erinnerung von
dieser ungewöhnlichen Nacht würde wohl irgendwann
zurückbleiben.
Dass der Stoff, aus dem Romane gemacht sind, ein anderer ist, bleibt zu
erwarten. Die Handlung des im Jahr 1951 in Frankreich erstmals
erschienenen
Buches "Julietta" beginnt erst so richtig, als André
Landrecourt mit
seiner Verlobten, Madame Facibey, nach kurzfristigem Umdenken in sein
Landhaus fährt;
Madame Facibey, die im Übrigen die beste Vertraute des Prinzen
von Alpen ist,
der wiederum über das Abhandenkommen seiner ihm Zugesprochenen
mehr als überrascht
scheint, sich aber schnell damit abfindet.
Im Landhaus befindet sich noch immer Julietta, die niemals aufgebrochen
ist, um
weiter nach Paris zu fahren. Während Madame Facibey in den
unteren Räumen des
Hauses verweilt, stößt Landrecourt im oberen
Stockwerk auf Julietta,
erschrickt, nimmt die junge Dame bei der Hand und versteckt sie auf dem
Dachboden.
Damit entspinnt sich ein Lügen- und Verwirrspiel in
Landrecourts Haus. Die
geliebte Verlobte André Landrecourts soll nicht merken, dass
da noch ein
anderes Mädchen unter dem Dach weilt. Julietta soll sich
möglichst ruhig
verhalten, bis man, so schnell wie möglich, wieder abreisen
würde, und
Landrecourt sieht sich alsbald den eigenen Verhaltensweisen
gegenübergestellt.
Warum hatte er gelogen? Warum hatte er nicht sofort das junge
Mädchen mit nach
unten genommen und die Sache aufgelöst. Es hätte aus
der Situation heraus
sicherlich aufrichtig gewirkt, und man hätte seiner Wege gehen
können.
Doch natürlich braucht es all diese Spielereien, denn Louise
de Vilmorin
spielt in ihren ironischen Überzeichnungen mit den
Konventionen des
realistischen Romans des 19. Jahrhunderts, sie hebelt sie aus, um in
ihren
Darstellungen die menschliche Seele in Frage zu stellen. Das
uneigentliche
Sprechen, die fehlgeleitete Kommunikation, das sind die Themen des
Romans. Das
Wollen und Nichtwollen, dass wir uns so gern in Situationen begeben,
die uns
doch so gütlich und richtig erscheinen, wo doch die
Sehnsüchte
aber im
Verborgenen ganz woanders liegen.
Dass nun also Landrecourt in Schizophrenie
verfallen, seine Verlobte
stetig enttäuschen
muss und Julietta voller Glück angesichts der Tatsache ist,
nicht in
Paris sein
zu müssen, offenbart das wackelige Gehäuse der Liebe,
in dem sich alle
Beteiligten befinden.
Dabei lässt de Vilmorin die Gleichzeitigkeiten der einzelnen
Geschehnisse
anfangs ganz bunt gegeneinanderlaufen, um in der Haupthandlung des
Romans die
Begebenheiten der drei Protagonisten zu beleuchten, die in Analogie zu
all den
Geheimnissen und Täuschungen gesehen werden können,
denen sich die Menschen im
Lauf des Lebens so aussetzen.
Die tragische Geschichte um eine arrangierte Ehe, die Liebe zwischen
unterschiedlichen Ständen, die Unausgegorenheiten der
Menschen, die so gern träumen,
in der Realität aber eigentlich ganz anders handeln
würden, spielen in "Julietta"
eine große Rolle. Louise de Vilmorin schreibt mit einem
Augenzwinkern von
tragischen Verwicklungen, die sie geschickt zu arrangieren und in
gewitzt
gesetzten Vorausdeutungen und Innensichten der Protagonisten zu
spiegeln weiß.
Der innere Monolog ist ein wichtiger Aspekt der Wahrnehmungsoffenbarung
ihrer
Figuren. Dass sich die Dinge nämlich in der Reflexion
ändern, dass es immer
auch die Unsicherheit im Umgang mit dem Anderen ist, weiß de
Vilmorin zu erzählen.
Dass die Charaktere überzeichnet sind und den
naturalistisch-realistischen
Roman damit aushöhlen, wurde bereits angedeutet. Dass dies
allerdings in einer
durchaus für die 1950er-Jahre auch schon antiquierten Sprache
immer noch gut
funktioniert, dem Leser gar größte Freuden beim
Lesen bereitet, sei hier noch
einmal betont.
Dass eine Lüge also zum bitteren Verhängnis werden
kann, mag ganz deutlich
geworden sein. Dass so manche Lüge aber wohl irgendwie auch
eine Notwendigkeit
sein kann, um den Träumereien ein Ende zu setzen oder einen
guten, kurzweiligen
Roman zu schaffen, sollte man sich bei Louise de Vilmorins "Julietta"
noch einmal genauer anschauen.
(Christin Zenker; 06/2010)
Louise
de Vilmorin: "Julietta"
(Originaltitel "Julietta")
Aus dem Französischen neu übersetzt von Patricia
Klobusiczky.
Dörlemann, 2010. 288 Seiten.
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Louise
de Vilmorin wurde am 4.
April 1902 in Verrières-le-Buisson bei Paris
geboren. Während ihres
Literaturstudiums begegnete sie Antoine
de Saint-Exupéry und verlobte sich mit ihm. Im
Stammhaus ihrer Familie
versammelte Louise de Vilmorin führende Künstler
ihrer Zeit. Ihr langjähriger
Lebensgefährte André Malraux regte sie zum
Schreiben an und in der Folge
entstanden nicht nur die "Histoire d'aimer", sondern auch die Romane
"Julietta", "La lettre dans un taxi" und "Les belles
amours" sowie mehrere Gedichtbände. Bekannt wurde sie vor
allem mit ihrem
Roman "Madame de...", 1953 von Max Ophüls verfilmt.
Louise de Vilmorin starb am 26. Dezember 1969 an ihrem Geburtsort.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Liebesgeschichte"
Als Catherine und Marise den anziehenden Peter von L. kennenlernen,
werden
unversehens aus Freundinnen Rivalinnen. Beide sind überzeugt,
den unglücklich
Liebenden über seinen Kummer hinwegtrösten zu
können. Schließlich gilt
Peters Treue einer Frau, die auf immer unerreichbar bleiben wird. Doch
dann
findet auch Catherines junge Tochter Gefallen an dem viel begehrten
Mann.
(Dörlemann)
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