Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag"
Opulentes
Familiengemälde im
Prag der Nachkriegszeit
Schon bei den ersten Zeilen sieht man sich in diesem Roman sogleich in
eine
aberwitzige, amüsante und mitreißende
Familiengeschichte versetzt. Lebendige
und spritzige Sätze wecken Neugier auf einen turbulenten
Alltag in einer
komischen und von vielerlei bunt gefärbten Charakteren
bewohnten
Hausgemeinschaft in Prag. Wir befinden uns in den 1960er-Jahren. Das
weibliche
Geschlecht überwuchert die Räume mit allem
möglichen und unmöglichen
Mobiliar und verwandelt die Wohnung in ein verschachteltes Labyrinth.
Georg
erlebt gerade die Pubertät mit allen Bedrängnissen,
die diese Lebensphase so
mit sich bringt. Umgeben von vielen Tanten, einer schönen und
intelligenten
Mutter und der sehr geliebten Großmutter Lizzy ist das
Erwachsenwerden nicht
ganz leicht.
Das Haus und die Lebensgewohnheiten der Bewohner sind teilweise von
umwerfender
Komik, mit Sicherheit aber äußerst
ungewöhnlich. Im Umfeld mehr oder weniger
schöner jüdischer Frauen aufzuwachsen ist eine
Besonderheit an sich. In dem
ganzen Durcheinander der Hausbewohnerinnen gibt es dann aber doch einen
Mann,
als einzigen Nichtjuden den Onkel "ONKEL". Sex und Liebe,
Gerüche und
Gespräche: die Gemeinschaft ist unübertroffen mit
allen Details gezeichnet,
und Georg nimmt alles mit wachen Augen und Ohren auf und zieht seine
Schlüsse
aus seinen Eindrücken.
Die unsägliche Vergangenheit in diversen Konzentrationslagern
bleibt allerdings
ein Geheimnis, denn darüber spricht man nicht.
Einer Komödie gleich gestaltet sich der Einstieg ins Leben
für den jungen
Georg mit unterhaltsamen und abenteuerlichen Erlebnissen. Seine Jugend
entspricht nicht der Norm, und sein Freund Skopka, der an seinem zu
kurzen Penis
leidet, spielt eine ebenso wichtige Rolle wie seine
langjährige und viel ältere
Geliebte Dana, eine landschaftliche Extremkünstlerin. Die
Liebeserlebnisse und
Liebesfreuden sind in deftiger Sprache gehalten, verlassen aber nie die
Pfade der
Komik.
Haben wir es mit einem Schelmenroman, einem Entwicklungsroman oder
einer
skurrilen Familienlegende zu tun? Auf jeden Fall bietet die in
lakonischem Ton
gehaltene Erzählung auch einen Überblick
über die politische Geschichte der
Tschechoslowakei und Prags in den letzten sechzig Jahren. Sozialismus,
Kommunismus und Prager Frühling können nicht
unerwähnt bleiben mit ihren
Folgen für den Clan. In schwejkscher
Manier nimmt niemand wirklich
Schaden, aber natürlich gibt es Todesfälle und
besondere Vorkommnisse in großer
Zahl.
Man sollte Zeit mitbringen, um sich in die Feinheiten des Romans zu
vertiefen,
der nicht von einer fortlaufenden Handlung lebt, sondern das
fantasievolle
Gebilde einer grotesken und launigen Familiengeschichte bietet. Im
Zentrum des
Geschehens bleibt Georg mit seiner ausgeprägten
Beobachtungsgabe und seinem
Sinn für die skurrilen und schrulligen Eigenheiten seiner
Familienangehörigen
und Freunde.
Niemand soll aber glauben, dass alleine die
Komik das Geschehen beherrscht! Unter der Oberfläche
schlummert Tiefenschärfe,
und man spürt die leise Wehmut, mit der die tragischen
Ereignisse des Lebens
mit Humor einfach besser zu ertragen sind.
Jan Faktor ist ein Erzähler, der mit der Fähigkeit
der hohen Kunst des
Fabulierens begnadet ist. Sein Erzählstil zeigt ausufernd ein
filigranes
Familiengemälde, und er führt seine Geschichte zu
einem schlüssigen Ende.
Der hoch zu lobende Roman ist gewandt und farbenfroh konzipiert. Wenn
man auch
nach der Mitte des Romans ermüdet sein mag von den vielen
Einzelheiten, so
bleibt man doch dabei, weil die Neugier auf die kurzweiligen
Geschichten
bestehen bleibt.
(Claudine Borries; 05/2010)
Jan
Faktor: "Georgs Sorgen um die
Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag"
Kiepenheuer & Witsch, 2010. 636 Seiten.
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